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Arien von Francesco Cavalli
"Eine CD ist wie ein Parfum"

Eine ganze, mehrere Stunden lange Oper von Francesco Cavalli, "die muss man gespielt sehen", sagt der Countertenor Philippe Jaroussky. Für seine neue CD hat er stattdessen Arien zusammengestellt, die die Energie und textliche Raffinesse von Cavallis Musik zeigen.

Philippe Jaroussky im Gespräch mit Susann El Kassar | 06.03.2019
    Der Countertenor Philippe Jaroussky hält eine rote Maske in der Hand.
    Opern für den Karneval in Venedig: der Countertenor Philippe Jaroussky widmet sich Arien von Francesco Cavalli. (Josef Fischnaller)
    El Kassar: Francesco Cavalli hat mehr als 30 Opern geschrieben, davon ist ein Großteil erhalten und aus 16 von diesen haben Sie Arien für das Album ausgesucht. Das ist ganz schön viel Material, das Sie durchschauen mussten. Wie sind Sie hier vorgegangen, wie haben Sie dieses Cavalli-Puzzle zusammengesetzt?
    Jaroussky: Zu Beginn meiner Karriere habe ich viel von Monteverdi und Cavalli gesungen und ich hatte seitdem die Idee, mal ein Projekt mit Cavallis Musik zu machen, weil es da so einige Juwelen gibt. Was ich besonders an seiner Musik mag, ist die große Vielfalt: Manchmal schreibt er große Lamenti, manchmal komische Szenen, manchmal sehr rhythmische Arien, die dann fast wie Popsongs klingen. Daraus lässt sich ein schönes, farbenreiches Programm für eine CD zusammenstellen. Wenn man stattdessen eine komplette Oper von Cavalli aufnimmt, ist das zwar auch schön, aber es gibt dann so viele Rezitative und für die braucht man die Bühne, man muss das gespielt sehen. Mir war es lieber, die besten Arien auszuwählen, oder die intensivsten aus allen Opern und daraus ein Recital-Programm zu bauen.
    El Kassar: Eine verdichtete Version einer Cavalli-Oper also. Sie haben sich gleichzeitig dafür entschieden, auch instrumentale Stücke mit aufzunehmen, die dann die Stimmung einer Arie aufgreifen und darin noch verweilen.
    Viel Zeit für die richtige Reihenfolge
    Jaroussky: Ja, richtig. Bei anderen Recital-CDs habe ich das nicht gemacht, bei Händel oder Porpora, weil die Arien in diesen Fällen einfacher länger sind. Die meisten Arien von Cavalli sind kürzer als vier Minuten, einige sogar kürzer als zwei Minuten. Wenn ich die einfach nur so direkt hintereinander setzen würde, dann wäre der Rhythmus der Abwechslung zu schnell. Hier helfen die instrumentalen Stücke, sie greifen die Stimmung der vorangegangenen Arie auf oder nehmen die Stimmung der nächsten vorweg.
    Ich kann mich noch erinnern, dass ich mit dem Toningenieur der Aufnahme, mit Etienne Collard, gesprochen habe und dass er gesagt hat, dass er sich während der Aufnahme nicht sicher war, ob der Rhythmus der CD gut werden würde. Aber am Ende, als wir die Tracks in die richtige Reihenfolge gesetzt hatten, war er überrascht, wie gut es aufgegangen ist. Die Reihenfolge ist auch ein ganz wichtiges Element. Ich nehme mir hier gerne Zeit, um verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren. An solchen Stellen ist eine CD wie ein Parfum. Es geht um die Mischung der Gerüche, um die richtige Balance, und das braucht manchmal Zeit.
    El Kassar: Lassen sich uns über das Charakteristische der Musik von Cavalli sprechen. Interessant ist, dass er diese Opern nicht für die Adligen am Hof geschrieben hat, sondern für die ersten kommerziellen Opernhäuser, also für alle Menschen, die sich die Opern angucken wollten und die sich die Karten leisten konnten. Welche Eigenschaften haben Cavallis Opern, eben weil sie nicht nur Musik für den Hof waren?
    Für alle Gesellschaftsschichten
    Jaroussky: Seine Musik ist einfacher, weil er, glaube ich, viel direkter für das Publikum schreiben wollte. Das Publikum war gemischt: da saßen alle Gesellschaftsschichten. Die Aufführungen fanden meistens während des Karnevals statt, alle trugen also Masken, damit schienen alle gleich und alle hörten diese Musik. Und das spiegelt sich auch im Libretto wieder, da kommen Figuren aus allen Gesellschaftsschichten vor, da gibt es Götter, natürlich, wie immer, Adlige und auch Arme. Im Grunde konnte sich jeder in der Geschichte wiederfinden.
    Heute gibt es ja so ein gewisses Revival von Cavalli-Opern auf der Bühne, immer mehr Opernhäuser interessieren sich für die Werke, und das nicht nur wegen der Musik, sondern insbesondere wegen der Libretti. Es gibt viele Figuren darin, die Texte sind sehr modern und anders, als man es vielleicht von Opernlibretti erwartet. Bei Oper denkt man doch an Könige und große Charaktere und die große Liebe, bei Cavalli geht es manchmal um was vollkommen anderes.
    El Kassar: Ein besonders interessanter Punkt der Libretti ist ja auch die Doppelbödigkeit, aber bevor wir darüber sprechen, noch etwas anderes Auffälliges: die Sprache, sie ist sehr direkt! Zum Beispiel in dem Oper La Calisto, wenn Linfea und der kleine Satyr sich treffen und er mitkriegt, dass sie sich nach körperlicher Nähe sehnt und er sich gleich zum Sex anbietet, sie ihn aber abweist. Ist diese Direktheit typisch venezianisch für die Zeit oder kommt das daher, dass diese Oper während der Karnevalszeit gezeigt wurde?
    Oper zur Zerstreuung
    Jaroussky: Es ist eine Mischung. Cavalli war ein venezianischer Komponist, sicher, aber das ist es nicht nur. Auf der Rückseite der CD ist ein sehr dunkles Foto von mir abgebildet, denn: die Menschen damals erwarteten eine gewisse Unterhaltung durch die Oper, weil das Leben an sich sehr hart war. Es gab viele Krankheiten, die Pest z.B.
    Und die Szene, die Sie gerade ansprechen, die wollte ich unbedingt machen, weil sie so modern ist. Heute schockieren uns manchmal die Ideen von Opernregisseuren, die drastischen Bilder; wenn man aber den Text dieser Szene mal liest, das ist echt direkt. Das zeigt vielleicht auch, dass wir heute eher prüder werden als Menschen es vor vier Jahrhunderten waren. Das ist doch komisch…
    El Kassar: Es gibt manchmal auch im Libretto Hinweise darauf, dass das Leben in Venedig zu der Zeit nicht nur angenehm war. Der Page Nerillo kritisiert in der Oper Ormindo die Art, wie sich die Städter benehmen, sie seien unverschämt und frech; die Musik, die Cavalli dazu schreibt, ist sehr aufgeweckt und fröhlich und dadurch verliert Nerillo ein wenig seine Glaubwürdigkeit: er beschwert sich zwar über die Stadt, aber eigentlich mag er sie, wie sie ist…
    Jaroussky: Ja, Sie bringen es auf den Punkt, was die Doppelbödigkeit betrifft. Das Fantastische an dieser Periode ist, dass die Charaktere nie eindimensional sind, sie sind vielschichtig angelegt. Selbst die Götter sind bei Cavalli manchmal komisch, oder stolz oder machen Fehler und Nerillo, der Page, zeigt sich dort auch in einer sehr ironischen Szene. Mir gefällt das besonders. Das schwierigste an dieser Musik sind nicht die Noten, das ist nicht sängerisch-virtuos wie Händel und Vivaldi. Es ist schwierig, die Stimmung zu treffen, den Text in seiner Komplexität zu zeigen. Und deswegen ist das auch nicht einfacher als Musik von Händel oder Vivaldi. Es hat es uns einige Zeit gekostet, beispielsweise diese Szene von Linfea und dem kleinen Satyr richtig auszugestalten, auch die Instrumentation zu finden, welche Instrumente sich eignen, um die jeweiligen Charaktere zu unterstützen. Das war viel Arbeit!
    "Ombra mai fu" – Opernarien von Francesco Cavalli
    Philippe Jaroussky, Countertenor
    Ensemble Artaserse
    Label: Erato