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Arktis auf dem Rückzug

Umwelt. - Das Klima wandelt sich - soviel steht fest. Doch über Ausmaß und Details streiten Politiker und Experten. Um mehr Aufschluss über den Atmosphärenprozess zu erhalten, installierten Forscher eigens in der Einöde der weltweiten Tundren Gewächshäuser.

Von Michael Stang | 03.02.2006
    Schon der Ort klingt kurios: Audkuluheidi. Aber solche Namen sind in Island nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich jedoch ist ein kleines Gebilde inmitten der Einöde, das an ein Gewächshaus erinnert. Es ist ein Freiluftlabor eines internationalen Projekts von Tundraforschern, die die Folgen der Klimaerwärmung simulieren wollen. Das Gewächshaus ist kniehoch, hat sechs Seiten, einen Durchmesser von 50 Zentimetern und ist oben geöffnet. Aber es gibt nicht nur dieses eine Gewächshaus, sondern rund um den Globus stehen die kleinen Forschungsstationen in der Tundra, sagt Philip Wookey, Ökologe der Universität von Stirling.

    "Das Spannende daran ist, dass wir durch die minimale Erwärmung mit unseren Gewächshäusern eine gewaltige Veränderung bewirken konnten. Und dass wir sehen konnten, dass nicht nur Moose und Flechten weniger wuchsen, sondern die gesamte Biodiversität abnahm. "

    Die kleinen Gewächshäuser erhöhten die Temperatur um gerade einmal ein bis drei Grad Celsius. Das reichte aus, um die Vielfalt der Pflanzen grundlegend zu verändern. An rund 50 verschiedenen Plätzen in der Tundra weltweit stehen die Gewächshäuser, zum Teil seit über 15 Jahren. Greg Henry vom Institut für Geographie der Universität von Britisch Kolumbien in Vancouver hat die Daten aus den USA, Norwegen, Kanada, Schweden, Island, China und Russland zusammengetragen und immer die gleichen Veränderungen festgestellt.

    "Vor allem Gräser, Riedgräser und hölzerne Pflanzen profitierten von der Erwärmung am meisten. Demnach verändert sich die Tundra von einer Graslandschaft ohne viele hölzerne Pflanzen hin zu einer von Holzpflanzen dominierten Tundra."

    Das bedeutet, dass schon eine Temperaturerhöhung von einem Grad ausreicht, um der Tundra ihr typisches Erscheinungsbild zu nehmen und die Arktis grüner zu machen. Diesen Wandel bewirken sowohl kurzfristige als auch langfristige Faktoren, sagt Greg Henry.

    "Vor allem die Temperatur wirkt direkt und Gräser haben dadurch einfach Vorteile, weil das ihrem verzweigten Wurzelsystem entgegenkommt. Und dann die langfristigen Faktoren wie die Holzgewächse. Diese wachsen langsam, aber stetig und benötigen viel Platz. Dadurch verdrängen sie andere Pflanzen. Durch die höhere Bodentemperatur gibt es auch mehr Mikroben, dadurch entsteht mehr Humus, nicht zuletzt weil auch die Holzgewächse Blätter haben, die sie im Herbst abwerfen."

    Bereits nach zwei Vegetationszeiten stellten die Forscher die ersten Änderungen fest. Zuerst verdrängten die Gräser die Flechten und Moose, später kamen die ersten Büsche hinzu. Die jetzt erstmals vollständig analysierten Daten der vergangenen Jahre ermöglichen es den Forschern, die Auswirkungen des Klimawandels zu verstehen. Wenn bereits eine winzige Temperaturerhöhung eine Landschaft grundlegend verändern kann, müssen vor allem die betroffenen Bewohner der Tundra - etwa die Sámi in Lappland mit ihren Rentieren - entsprechend auf die Veränderung reagieren können. Dazu benötigen die Forscher solche langfristigen Daten. Die Tundra stellt für Philip Wookey auch eine Art Frühwarnsystem dar, mit dem eine weltweite Temperaturerhöhung beizeiten erkannt werden kann.

    "Die Ökosysteme sind eng mit dem globalen Klimasystem verbunden. Ändert sich dieses, kann man es sofort an bestimmten Indikatoren an der Struktur der Tundra sehen. Darüber hinaus gibt es Computermodelle, die davon ausgehen, dass bis zu 35 Prozent - und wir sprechen hier von vielleicht fünf Millionen Quadratkilometern Tundrafläche - von Waldflächen in den kommenden 100 Jahren abgelöst werden könnten."

    Deshalb wollen die Forscher das Internationales Tundra Experiment ITEX weiter verfolgen und kontinuierlich Daten sammeln. Beide Forscher hoffen, dass sich Menschen auch außerhalb der Forschergemeinschaft für dieses Projekt interessieren. Der erste Schritt ist schon gemacht, da sich auch in den kommenden Jahren Menschen über die kleinen Gewächshäuser inmitten der Einöde wundern werden.