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Arm unter Reichen

nicht nur in Deutschland sondern auch in Dänemark hat die Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen zugenommen, und das, trotz einer boomenden Wirtschaft. Zwar ist die Situation im Vergleich zu anderen Ländern noch immer milde, doch war die Armut früher vor allem ein Problem älterer Menschen, so hat sich die Zahl der unter 45Jährigen, die unter der Armutsgrenze leben, in den vergangenen 16 Jahren verdoppelt.

Von Marc-Christoph Wagner | 07.12.2006
    Die Kopenhagener Fussgängerzone steht ganz im Zeichen der Vorweihnacht. Überall duftet es nach Crepes, Glühwein und gebrannten Mandeln. Die Geschäfte sind festlich geschmückt, die Schlangen vor den Kassen lang. Die dänische Wirtschaft boomt und die Zahlen sprechen für sich. Eine Arbeitslosigkeit von derzeit 3,9 Prozent. Ein Haushaltsüberschuß von 80 Milliarden Kronen, das sind rund 11 Milliarden Euro. Bereits im Frühjahr konnte die Nationalbank verkünden, dass Dänemark zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg keine Auslandsschulden mehr hat. Entsprechend gut gelaunt zeigt sich Arbeitsminister Claus Hjort Frederiksen:
    " Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit, die es in den vergangenen dreißig Jahren gegeben hat. Wir haben die höchste Beschäftigungsrate, eine positive Handelsbilanz und ein Haushaltsplus. Die dänische Wirtschaft ist - im europäischen Vergleich - eine Klasse für sich. Schließlich hat eine internationale Untersuchung kürzlich gezeigt, dass die Dänen sich als glücklichstes Volk der Welt betrachten. Aus Sicht eines Ministers ist dies alles natürlich vorzüglich."

    Aber nicht alle Dänen haben Anteil am wirtschaftlichen Boom. Lissy Andersen, 35 Jahre, lebt - wenn die Miete bezahlt ist - von 335 Euro im Monat. Davon muss die alleinstehende Mutter ihre beiden Kinder versorgen. Ihr Speiseplan wird von den Angeboten der Discount-Supermärkte bestimmt:

    " Ich muss stets sparen, ständig Prioritäten setzen - entweder kaufe ich etwas zu essen oder Kleidung für die Kinder. Das muss ich ihnen auch immer wieder einbläuen. Natürlich möchten sie Markensachen, aber das ist unmöglich. Ich gucke immer nach den Angeboten, nur so komme ich über die Runden."

    Lissy Andersen hatte Drogenprobleme, ihre Ehe ging in die Brüche, sie häufte Schulden an. Eine Ausbildung hat sie nicht, und mit der Zeit machte auch der Körper nicht mehr mit. Einige Stunden pro Woche hilft sie in einer Suppenküche aus - das ist alles:

    " Ich habe nicht die Möglichkeit, meinen Kindern einen Fernseher oder einen Ghettoblaster zu kaufen. Wenn überhaupt gucke ich in einem Zweite-Hand-Laden. Aber es wäre toll, wenn ich meinen Kindern einmal etwas schenken könnte, was sie behalten können, wo ich nicht sagen muss, das haben wir uns geborgt."

    Für Mads Roke Clausen, Vorsitzender des dänischen Mütterhilfswerkes, ist Lissy ein repräsentativer Fall. Gerade in der Vorweihnachtszeit erhält seine Organisation flehende Briefe, in denen Eltern um Unterstützung bitten. Ihr Budget ist ausgereizt, Weihnachtsgeschenke für die Kinder können sie sich nicht leisten.

    " Das alles sind Hilferufe. Die Menschen sind gewillt, ihr Leben zu verändern, aber sie wissen nicht wie. Für sich selbst verlangen sie nichts, ihren Kindern aber möchten sie ein halbwegs normales Dasein ermöglichen. Sie sollen in der Schule sagen können, schau, ich habe auch ein Geschenk erhalten. "

    Es besteht Handlungsbedarf, sagt Mads Roke Clausen. Denn die soziale Isolierung armer Familien sei eine Realität. Wer keine Geburtstagsfeier ausrichte, werde anderswo nicht eingeladen. Wer sich die Mitgliedsbeiträge im Fußballclub oder den Eintritt für das Schwimmbad nicht leisten könne, treffe keine Freunde. Am schlimmsten, so Clausen, aber sei, dass das Problem der Armut als solches öffentlich noch immer nicht wahrgenommen werde:

    " Viele Menschen in Dänemark glauben nicht, dass es Armut gibt - und sie akzeptieren es auch nicht. Und leider erleben wir immer wieder, dass Menschen, die offen darüber reden, mit Hohn und Spott begegnet wird, ja dass sie fast wie Ausgestoßene behandelt werden. Das Wichtigste also wäre zu erkennen, dass das Problem der Armut vorhanden ist. Das wäre zumindest ein Ausgangspunkt."