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Armenien-Debatte
"Schon einiges Entgegenkommen seitens der Türkei"

Dass Bundespräsident Joachim Gauck in der Armenien-Diskussion jetzt ausdrücklich von Völkermord gesprochen hat, sei für die Türkei "schon etwas überraschend" gewesen, sagte Colin Dürkop, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara. "Der Türkei geht es wirklich darum, nicht a priori einseitig verurteilt zu werden".

Colin Dürkop im Gespräch mit Jürgen Liminski | 25.04.2015
    Colin Dürkop, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei
    Eine Bewertung der Vorfälle von 1915 seitens einer Historikerkommission würde die Türkei hingegen akzeptieren, sagte Colin Dürkop. (picture alliance / dpa - Anke Pörksen)
    Jürgen Liminski: Man schätzt die Zahl der Armenier weltweit auf rund sechs bis sieben Millionen. Drei davon leben in Armenien, und es gibt kaum eine Familie, die keine Erinnerung an den Völkermord vor 100 Jahren hat. Heute* wurde im Beisein des französischen und des russischen Präsidenten in Eriwan der Toten des Massakers durch die osmanische Armee gedacht.
    Die historisch nicht zu leugnende Tatsache, dass die politische militärische Führung des Osmanischen Reichs vor 100 Jahren anderthalb Millionen Armenier in den Tod trieb, selber tötete und sogar junge Mädchen lebendig kreuzigen ließ, hat schon zu einigen Parlamentsresolutionen in Frankreich und auch im Europaparlament geführt. Aber Ankara will davon nichts wissen und redet von Unruhen, bei denen einige hunderttausend Christen ums Leben gekommen seien.
    Auch das Auswärtige Amt vermied bis vor kurzem den Begriff "Völkermord". Aber das Grummeln im Bundestag angesichts des Kotaus vor Ankara wurde immer lauter, je näher der offizielle Jahrestag, der heutige 24. April*, rückte. Vermutlich aus Angst vor einer Rede des Bundespräsidenten, der in dieser wie erwartet gestern Abend* von Völkermord sprach und die Wahrheit beim Namen nannte, kippte die Stimmung und heute* wurde im Bundestag offen darüber diskutiert, aber es gab doch deutliche Unterschiede.
    Die Reaktion aus Ankara erfolgte vor gut einer Stunde. Das türkische Volk wird dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussagen nicht vergessen und nicht verzeihen, heißt es wörtlich in einer Mitteilung des Außenministeriums in Ankara. Und in der Mitteilung heißt es weiter: Gauck habe keine Befugnis, der türkischen Nation eine Schuld anzulasten, die den rechtlichen historischen Fakten widerspreche. Das Ministerium warnte vor langfristigen negativen Auswirkungen auf das deutsch-türkische Verhältnis.
    Auch die Zeitungen stießen in dieses Horn. "Milliyet" zum Beispiel bezeichnete die Rede des Bundespräsidenten als Skandal, und die auflagenstarke "Hürriyet" sprach von schockierenden Äußerungen. Das war wohl alles zu erwarten. Aber welche Folgen kann der Wortstreit für das türkisch-deutsche Verhältnis oder auch das türkisch-europäische Verhältnis haben? Und kann er in der Sache überhaupt etwas bewirken? - Über die Folgen und Wirkungen sprach ich vor der Sendung mit Colin Dürkop, er ist der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei. Und die erste Frage lautete: Was sagt das Volk, der berühmte kleine Mann auf der Straße? Interessiert der Streit die Türken überhaupt?
    "Es gibt seit vielen Jahren keine diplomatischen Beziehungen mehr"
    Colin Dürkop: An und für sich ist das eigentlich keine sehr wichtige Angelegenheit, man kann fast sagen ein Nonthema, weil Armenien ist ein kleines Land mit drei Millionen Einwohnern, die Türkei hat 77 und es gibt eine kleine armenische Diaspora, die hier völlig integriert in der Türkei lebt. Für Armenien wäre es viel wichtiger, wenn sich etwas in den frostigen Beziehungen bewegen würde. Es gibt seit vielen Jahren keine diplomatischen Beziehungen mehr, und die armenischstämmige Bevölkerung in der Türkei, etwa 100.000 Menschen, ist generell nicht an einer öffentlichkeitswirksamen Verurteilung der Türkei interessiert. Ihr ist vielmehr daran gelegen, dass sich etwas bewegt in Punkto Verbesserung der Beziehungen, Öffnung der Grenzen, gegenseitiger Handel, Wandel durch Handel, Schüleraustausche, weitere Rückgaben von enteignetem Grundbesitz und dergleichen. Dazu gehört auch die Hoffnung, dass sich die Türkei weiterhin kulant zeigt bezüglich der zigtausenden sich illegal in der Türkei aufhaltenden und arbeitenden Armenier.
    Liminski: Hat denn der Streit, Herr Dürkop, Folgen für die Sache selbst, also für die Annäherung zwischen der Türkei und Armenien?
    Dürkop: Ich würde sagen, hier wird davon ausgegangen, dass der Streit eher kontraproduktiv ist für die weiteren Beziehungen, weil es hat ja schon einiges Entgegenkommen auch gegeben seitens der Türkei. Der Premierminister und jetzige Staatspräsident Erdogan hatte sich ja letztes Jahr schon entschuldigt und hat sein Mitleid bekundet in einer Messe, die stattgefunden hat in der armenischen orthodoxen Kirche in Istanbul, an der auch der Europaminister Bosque teilgenommen hat. Also es gibt auch Bewegungen ins Positive schon hier, die wir beobachten.
    Liminski: Zwischen Ankara und der EU ist seit einiger Zeit eine gewisse Entfremdung zu beobachten beziehungsweise eine Hinwendung der Türkei zu den islamischen Ländern. Wird diese Entfremdung durch den Völkermord-Streit beschleunigt, vielleicht gar zu einer Abkehr von Europa?
    Dürkop: Nun, ich würde nicht das Wort Abkehr benutzen. Es könnte eventuell das Potenzial dazu haben, dass es den Prozess vielleicht ein bisschen beschleunigt. Aber es gibt dafür eigentlich ganz andere Gründe: die stockenden EU-Beitrittsverhandlungen, die restriktiven Visa-Regelungen zwischen der Türkei und der EU, zunehmende Islamophobie in Europa, in Deutschland. Das sind eher die Gründe dafür als jetzt gerade diese Auseinandersetzung.
    Liminski: Nun hat es schon andere Länder gegeben, die schärfere Resolutionen verfasst haben, Frankreich zum Beispiel. Wie beeinflusst die Debatte in Deutschland das bilaterale Verhältnis zur Türkei?
    "Der Türkei geht es wirklich darum, nicht a priori einseitig verurteilt zu werden"
    Dürkop: Der Schwenk der Bundesregierung kam in der Tat für die Türkei schon etwas überraschend, zumal bisher deren Haltung war, dass dies eine Angelegenheit zwischen der Türkei und Armenien sein sollte und Historiker eigentlich darüber abstimmen sollten und nicht Parlamente.
    Liminski: Würde denn, Herr Dürkop, eine türkische Regierung das Votum einer Historikerkommission, die von Ankara ja immer wieder gefordert wird, akzeptieren, wenn diese Kommission nach Studium der einschlägigen Dokumente zum selben Ergebnis käme wie schon viele Historiker zuvor? Ist das nicht mehr eine Frage der nationalen Ehre als der historischen Wahrheit?
    Dürkop: Der Türkei geht es wirklich darum, nicht Apriori einseitig verurteilt zu werden, sondern dass so eine Historikerkommission erst einmal zu einem Ergebnis und zu einer Bewertung kommt, und diese würde dann die Türkei auch akzeptieren.
    Liminski: Der Völkermord-Streit wird das deutsch-türkische Verhältnis nicht auf Dauer belasten, sagt der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Türkei, Colin Dürkop. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    * Das Interview wurde am Freitag, dem 24. April geführt. Mit "heute" ist bezogen auf Samstag, den 25. April "gestern" gemeint; auch die übrigen Zeitbezüge sind entsprechend.