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Armenien
Revolution als Straßenfest

Singend und tanzend forderten Demonstranten in Eriwan die Erneuerung des politischen Systems. Mit Erfolg: Oppositionsführer Nikol Paschinjan wurde inzwischen zum Ministerpräsidenten gewählt. Auch armenische Künstlerinnen und Künstler begleiteten die Proteste.

Von Jutta Schwengsbier und Ani Matevosyan | 13.05.2018
    Das Foto zeigt Anhänger des armenischen Politikers Nikol Paschinjan auf einer Kundgebung in der Hauptstadt Eriwan.
    Auch armenische Künstler beteiligten sich an den größten Massenprotesten, die Armenien in den vergangenen 30 Jahren erlebt hat. (AFP / Karen Minasyan)
    "Freies, souveränes Armenien" schallt es überall auf den Straßen. Die Demonstrationen haben etwas von einem Straßenfestival. Es wird gesungen. Es wird viel gelacht. Der 42jährige Oppositionsführer Nikol Paschinjan konnte sich nicht vorstellen, wie sich sein Leben verändern würde, als er seine Bewegung "Mein Schritt" vor rund einem Monat begann. Bei seinem ersten Fußmarsch in der armenischer Stadt Gyumri waren nur wenige dabei. Mit seinen charismatischen Reden hat er in kurzer Zeit Hunderttausende mitgerissen. Und damit etwas geschafft, was vor ihm noch niemandem gelungen ist, meint der Schauspieler und Regisseur Arthur Manukjan: Das ganze Volk wach zu rütteln.
    "Er hat dem ganzen Volk das zurückgegeben, was wir längst verloren hatten – unsere Hoffnung. Wir haben nichts mehr erwartet. Weder von uns selbst noch von Europa, Russland oder Amerika. Nikol hat uns klar gemacht: Demokratie hängt von jedem Einzelnen ab."
    Protest als positive Performance
    "Mach einen Schritt." Das Motto der Bürgerbewegung war tausendfach auf Arztkitteln von Medizinstudenten oder einfach aufgemalt auf T-Shirts zu lesen. Für den Illustrator Samwel Saghateljan hatte der Protest etwas von einer Performance. Tausende waren in Bewegung und hielten ihre auf Plakaten handgemalten Forderungen hoch. "Keine Diktatur". "Es wird schwierig, aber alles wird gut werden." "Es ist Zeit für eine Revolution." Für Samwel Saghateljan haben die Ereignisse tatsächlich etwas von einer kulturellen Revolution, die jeden einzelnen verändert hat.
    "Es fängt mit der Befreiung des Individuums an. In der Massenbewegung sind wir als Individuen selbstbewusst und als Bürger souverän geworden. Vor allem mit dem Konzept von zivilem Ungehorsam näherten sich die Proteste der Kunst. Im Vergleich zu früheren Demonstrationen haben die jetzigen Aktionen nach ihrem Inhalt und ihrer Form Elemente einer Revolution."
    Die Revolution als Straßenfest
    Bei der armenischen Kulturrevolution ist zwar niemand gestorben. Theaterstudenten hatten aber zum Beispiel an einer Straßensperre die Hinrichtung von Sersch Sarkisjan inszeniert. Dabei sollte "Othello" den Ex-Präsidenten erwürgen. Durch seinen Rücktritt blieb dem Langzeit-Regenten so ein Schicksal erspart. Die Revolution endete so, wie sie begann: mit einem Straßenfest. Rockstar Serj Tankjan, einer der bekanntesten Diaspora-Armenier, ist aus Amerika in seine Heimat geflogen, um gemeinsam mit den Protestierenden zu feiern.
    "Jahrelang war Armenien bekannt auf der ganzen Welt durch den Genozid, durch Erdbeben und Kriege. Mit dieser Bewegung habt ihr das geändert. Jetzt ist Armenien in der ganzen Welt ein positives Fallbeispiel. Ihr habt mit Singen, Tanzen und Lächeln euer Ziel erreicht."
    Aufbruchstimmung in der Kultur
    Ähnlich wie der bekannte US-Armenische Sänger haben sich auch andere Künstlerinnen und Künstler von der Aufbruchsstimmung mitreißen lassen. Die 35jährige Schriftstellerin und Übersetzerin Anna Davtyan vergleicht die Massenproteste mit einem "Flow" – alles finde im richtigen Moment am richtigen Ort statt. Sogar der blühende Frühling mache mit.
    "Die Zukunft stelle ich mir viel besser vor. Wichtig ist nur, dass Nikol Paschinjan seinem Programm treu bleibt. Er hat versprochen, Armut und Korruption zu bekämpfen. Er will Armenien demokratischer machen und die Oligarchen aus dem politischen System entfernen." Anna Davtyan ist überzeugt: Auch der neue Ministerpräsident Nikol Pashinjan wird künftig an seinen Versprechen gemessen. Wenn es ihm nicht gelingt, Politik und Wirtschaft zu trennen, dann sind die Armenier bald wieder auf den Straßen.