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Armenien
Zu Besuch in einem stolzen Land

Perser, Türken, Sowjets – immer wieder wollten Fremdherrscher das im Kaukasus gelegene Armenien kulturell assimilieren. Doch trotz aller Anfechtungen haben die Armenier sich über 1.500 Jahre eigene Schrift, Sprache und christliche Konfession bewahrt.

Von Klaus Betz | 07.01.2018
    Heißluftballons über der armenischen Hauptstadt Eriwan zu deren 2799. Geburtstag im Jahr 2017. Im Vordergrund einer in den Farben der armenischen Flagge.
    Heißluftballons über der armenischen Hauptstadt Eriwan zu deren 2799. Geburtstag im Jahr 2017. Im Vordergrund einer in den Farben der armenischen Flagge. (AFP / Karen Minasyan)
    Das letzte Stück führt über einen steinigen Feldweg. Der Bauernhof von Ruslan Torosyan liegt etwas abseits der Straße, im Bergdorf Martuni. 1.600 Meter Höhe, 400 Einwohner. Umgeben von weit geschwungenen Bergwiesen und Laubwäldern sieht man da und dort Kühe weiden, in der Ferne sind Schafherden und Ziegen unterwegs – und über allem kreisen die Bussarde. Natur pur. Die Fahrt vom lebhaft-lauten Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, hat bis hierher knapp zwei Stunden gedauert.
    Ein abgelegenes Bergdorf wie Martuni steht auf keinem touristischen Programm. Im Gegensatz zu den vielen Kirchen und Klöstern im christlichen Armenien, hat es auch nichts Spektakuläres zu bieten. Außer der Tatsache, dass hier der landesweit gerühmte Motal-Käse hergestellt wird – von Hand. Und Ruslan Torosyan ist einer der wenigen, die das noch können.
    Der vierzigjährige Käsebauer begrüßt mich – ganz der Marketingprofi – in einem T-Shirt mit der Aufschrift "Motal Cheese" und führt mich zu einem Nebengebäude; mitten hinein in seine kleine Manufaktur. Dort erklärt mir durchaus selbstbewusst:
    "Ich werde Ihnen heute den Unterschied zeigen, zwischen einem traditionellen, hausgemachten Käse und einem industriell hergestellten. Der ganze Prozess dauert nämlich drei Monate. Und wir verwenden ausschließlich unsere eigenen Produkte. Von der Ziegenmilch bis zu den Kräutern und Gewürzen. Es ist ein rein ökologisch hergestellter Käse."
    Was ich in der bäuerlichen Käserei sehen kann, lässt sich fast an einer Hand aufzählen. Offenbar benötigt Ruslan Torosyan nur wenige Gerätschaften. Einen Gaskocher, mehrere blitzsaubere Töpfe, ein Thermometer, ein Sieb, Bienenwachs, Terracotta-Tiegel, Gazestoff und eine größere Schüssel mit Asche. Ganz nebenbei erzählt mir der Bergbauer, dass er ein anerkannter Slow-Food-Produzent ist.
    "2006 sind wir mit Slow Food in Kontakt gekommen und seitdem arbeiten wir zusammen. Für unseren Motal-Käse sind wir auf dem Salone di Gusto in Turin sogar mit einem Preis ausgezeichnet worden. Das hat natürlich auch dazu geführt, dass meine Landsleute unseren Motal-Käse schon als etwas ganz Besonderes wahrnehmen."
    Elf Euro für einen Motal-Käse
    Ruslan Torosyan setzt einen Topf auf den Gaskocher und rührt in einer klumpig-milchigen Masse, die im Wasser schwimmt. In Wahrheit ist es die mit Naturlab versetzte Bergziegen-Milch, die seit Wochen in einer Salzlake gelegen und fermentiert hat. Jetzt erst wird sie weiterverarbeitet.
    "Zuerst erwärmen wir die Milch auf 30 bis 32 Grad. Dann steigern wir die Temperatur langsam auf 36, 37 Grad, so dass die Milch allmählich zu einer konsistenten Masse wird. Danach geben wir den Rohkäse in ein Sieb, und er wird durch ein Tuch gepresst, damit die restliche Feuchtigkeit abläuft. Je nach Jahreszeit verarbeiten wir so täglich um die zehn bis zwölf Liter Milch."
    Mittlerweile gilt der Motal-Käse fast schon als Luxusgut, denn ein Kilo kostet umgerechnet etwa 11 Euro. Der monatliche Durchschnittverdienst in Armenien liegt bei knapp über 400 Euro. Die Käsespezialität aus Martuni ist also kein Massenprodukt. Abnehmer sind eher die Restaurants in der Hauptstadt Eriwan – und, so erfahre ich, Käsehändler aus Georgien und Russland.
    "Nach zwei Monaten erst verarbeiten wir dann die Käsemasse zu Motal-Käse. Wir nehmen die trockene Masse, brechen sie auf und würzen sie. Jetzt erst wird daraus der körnige Motal-Käse, den wir in unsere Terracotta-Tiegel verfüllen. Anschließend wird das Gefäß zunächst mit einem dichten Gazetuch verschlossen und kopfüber in eine Schale mit Asche gestellt. Die Asche zieht auch noch den letzten Rest an Feuchtigkeit aus dem Käsetopf und verhindert gleichzeitig das Schimmeln. Zum Würzen nehmen wir Estragon und grünen Pfeffer."
    Bis vor zwei Jahren habe er seinen Käse auch noch nach Italien und Frankreich exportieren können, aber das sei nicht mehr möglich, erwähnt Ruslan Torosyan zum Schluss. Er gibt mir zu verstehen, dass er darüber nicht reden mag. Das habe etwas mit Politik zu tun, deutet der Bergbauer an. Und er überlässt es mir, herauszufinden, dass der Export in die EU-Länder schwierig geworden ist, seit Armenien ein Mitglied in der von Wladimir Putin initiierten Eurasischen Union geworden ist.
    Auf dem Pan-Armenian-Festival
    Gut eine Autostunde später gerate ich unversehens erneut in ein politisches Thema, nur dass es in diesem Fall eher folkloristisch daherkommt. Mitten auf dem Marktplatz von Dilijan findet an diesem Tag das alljährliche Pan-Armenian-Festival statt.
    Rund um das Rathaus des waldreichen Luftkurortes reihen sich Verkaufsstände aneinander; da und dort wird gegrillt und auf dem zentralen Platz demonstrieren Tanzgruppen und Musiker, was armenische Kultur auch sein kann: ausgelassen, fröhlich und überschwänglich.
    Etwas irritiert sehe ich an jedem Verkaufsstand ein kleines Hinweisschild, auf dem ich lesen kann, dass man von der GiZ, von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit gesponsert werde. Entwicklungspolitik kann ja wohl kaum etwas mit der Förderung von Folklore zu tun haben, denke ich noch – bis ich kurz darauf eine junge Frau treffe, die englisch spricht und mich aufklärt.
    "Die Leute kommen aus den unterschiedlichsten Orten in Armenien hierher. Dieses Jahr haben wir viele Verkaufsstände von geflüchteten Armeniern aus Syrien. Sie verkaufen auf diesem Festival kunsthandwerkliche Gegenstände und Handarbeiten."
    "Ich habe gesehen, sie bekommen Unterstützung von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit?"
    "Ja, die deutsche GiZ sponsert unsere syrischen Armenier. Das sind alles Familien, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet sind. Die GiZ unterstützt sie, damit sie hier ihre Produkte verkaufen können, um sich eine eigene Existenz aufzubauen."
    Tatsächlich hat Armenien rund 7000 armenische Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen, denn auch im heutigen Syrien, besonders im Umkreis von Aleppo, leben und lebten seit jeher Armenier.
    Deutsche GiZ unterstützt Flüchtlinge in Armenien
    Deshalb will die deutsche Entwicklungszusammenarbeit durch ein Programm zur beruflichen Qualifizierung von syrisch-armenischen Flüchtlingen dazu beitragen, so heißt es, dass sie sich wirtschaftlich in Armenien integrieren können und dort bleiben. In ihrem eigenen Kulturkreis. Und spätestens an dieser Stelle spielt nun auch die seit eineinhalbtausend Jahren existierende armenische Kirche eine entscheidende Rolle.
    "Natürlich, ohne Kirche oder armenische Gemeinde, die können nicht weiterleben sozusagen. Wir sind sehr eng verbunden – darum, jedes Land wo die Armenier sind, wird eben die Kirche gebaut und daneben auch die Schule."
    Vater Aristakes Ayvazian hat an der Katholischen Universität im bayerischen Eichstätt studiert und war anschließend fast fünf Jahre lang für verschiedene armenische Gemeinden in Deutschland tätig. Immerhin soll es in der Bundesrepublik weit über 50.000 Armenier geben. Doch Vater Aristakes ist vor Jahren bereits in sein Heimatland zurückgekehrt und lebt heute als zölibatärer Priester im Kloster Hahgartsin, oberhalb von Dilijan.
    Naheliegend, den 43-jährigen Geistlichen danach zu fragen, wie es in der armenischen Kirche mit dem Priesternachwuchs aussieht.
    "Man kann sagen genug, aber auch nicht genug. Weil wir brauchen ganzen Welt. Für Armenier, die in ganzen Welt verstreut sind. Wir haben zwei Seminars und jedes Jahr bekommen wir ungefähr 15 bis 20 Absolvierten, wegen Studium, wie ich auch damals, haben wir auch in Deutschland Studenten; einer ist in Magdeburg, einer in Eichstätt und dieses Jahr kommt zurück. So haben wir natürlich in Amerika, in Frankreich, in Rom, wir brauchen noch mehr."
    Geghardavank, das Kloster zur Heiligen Lanze in Armenien. Der Name bezieht sich auf eine Reliquie, die der Apostel Thaddäus ins heutige Armenien gebracht haben soll.
    Geghardavank, das Kloster zur Heiligen Lanze in Armenien. Der Name bezieht sich auf eine Reliquie, die der Apostel Thaddäus ins heutige Armenien gebracht haben soll. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Die Apostolisch-Armenische Kirche gehört zu den so genannten altorientalischen Kirchen und ist innerhalb Armeniens die Staatskirche. Und doch ist sie seit vielen Jahrhunderten weit mehr als das. Sie ist – auch und gerade in der Diaspora - der Träger der armenischen Identität. Weltweit wird sie durch ihren Oberhirten verkörpert; durch den Katholikos von Etschmiadsin. Für Vater Aristakes ist daher völlig klar:
    "Jeder Armenier genetisch sozusagen ist gläubig. Und es hängt von der Kirche ab; weil in ganzen hunderten oder tausenden Jahren hatten wir die Kirche als kirchliche Staat zu haben gehabt; wir haben Vieles verloren und immer für die Identität der Armenier geblieben ist: der Katholikos. Alle Armenier als König, als Katholikos und als Geistlicher. Darum hat er immer diese Rolle gespielt – für die armenische Identität."
    Moderne Beeindruckungsarchitektur in Edschmiatsin
    Die meisten armenischen Kirchen sind voll. An Gläubigen mangelt es nicht. Und die armenische Bevölkerung teilt sich den Besuch der Sakralbauten mit ausländischen Urlaubern und Pilgern. So wie hier im Felsenkloster von Geghard, wo in diesem Augenblick eine feierliche Taufzeremonie stattfindet.
    Doch geht man in der von Tuffhöhlen umgebenen Kirche nur wenige Schritte weiter, ist man plötzlich nur noch vom Geplätscher eines Rinnsals umgeben. Es ist jener Bereich des Klosters, in dem Mönche im vierten Jahrhundert eine heilige Quelle entdeckt und an dieser Stelle das heutige Kloster Geghardavank erbaut haben, das "Kloster der heiligen Lanze". Der Name weist auf eine Reliquie hin, die der Apostel Thaddäus ins heutige Armenien gebracht haben soll.
    Doch als sei damit die Atmosphäre in einem abseits gelegenen armenischen Kloster noch nicht deutlich genug geworden, erlebe ich wenig später, in einer weiteren Felsengrotte des Klosters, den Auftritt einer der berühmtesten A-Capella-Gruppen des Landes. Das Vokal-Quintett hat den Namen "Garni".
    Anderntags bin ich in Edschmiatsin. Ich bin im Vatikan der Armenisch-Apostolischen Kirche und fortan von moderner Beeindruckungsarchitektur umgeben. Kaum vorzustellen, dass dieser Ort zu Sowjetzeiten eher einer vernachlässigten Brache geglichen haben soll als dem religiösen Zentrum der armenischen Kirche.
    Heute eilen junge Priester mit dem Smartphone am Ohr durch die gepflegten Parks, Reisegruppe um Reisegruppe schwärmt auf die große Kathedrale zu. Dort angekommen scheint es aber für viele wichtiger zu sein, ein Selfie vor dem Altar zu produzieren, als inne zu halten.
    Dabei ist die Kathedrale von Edschmiatsin jener Ort, so heißt es, zu dem "der eingeborene Sohn hinab gestiegen ist." Für gläubige Armenier ist Edschmiatsin daher so bedeutungsvoll wie ihr heiliger Berg Ararat, den sie nicht besuchen können. Der 5.137 Meter hohe Arche-Noah-Berg liegt in der Türkei, nur wenige Kilometer jenseits der geschlossenen Grenze.
    Die Kathedrale von Etschmiatsin, Mayr Tajar Surb Etschmiadsin, die Muttergotteskirche des heiligen Etschmiadsin, im Juli 2014. Sie ist seit 2000 Unesco-Weltkulturerbe und wird als ältester christlicher Ort der Armenier verehrt.
    Die Kathedrale von Etschmiatsin, Mayr Tajar Surb Etschmiadsin, die Muttergotteskirche des heiligen Etschmiadsin, im Juli 2014. Sie ist seit 2000 Unesco-Weltkulturerbe und wird als ältester christlicher Ort der Armenier verehrt. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    "Ich selbst bin nicht streng religiös, aber ich glaube. Ich bin Christ und ich bewahre den Glauben, den mich meine Eltern und Großeltern gelehrt haben. Das religiöse Zentrum hier in Edschmiatsin ist nun mal der Ort in Armenien, wo man die ältesten Kirchen unseres Landes sehen und besuchen kann."
    Mein Begleiter an diesem Morgen ist der junge Arshak Mrktchyan. Der einundreißigjährige Armenier führt ausländischer Besucher viel lieber in die Natur seines Landes als in die Kirchen. Das hat er mir zuvor erzählt. Doch auch er hat zu Edschmiatsin ein besonderes Verhältnis. Er mag eher die schmucklosen und bescheidenen Kirchen und so schlägt mir Arshak Mrktchyan vor, eine ganz andereund kaum beachtete Kirche in Edschmiatsin zu besuchen. Zehn Minuten später sind wir dort.
    "Wir sind hier etwas abseits der großen Kathedrale. Diese Kirche ist der Heiligen Hripsime gewidmet. Hripsime war eine jener weiblichen Apostel, die vor dem vierten Jahrhundert nach Armenien gekommen waren, um das Christentum zu verbreiten. Dafür wurden sie und ihre Mitstreiterinnen enthauptet. Darunter auch ihre Lehrerin und Äbtissin, die heilige Gajane. Wenige Jahre später jedoch bekannten sich die Armenier zum Christentum und am Ort ihres Martyriums wurden diese beiden Kirchen errichtet. Diese hier zu Ehren der Heiligen Hripsime und da drüben auf der anderen Seite die Kirche der Heiligen Gajane."
    Tatsächlich ist die Kirche der Heiligen Hripsime – gemessen an der großen Kathedrale – ein bescheidenes Bauwerk. Auch innen. Bis auf den Marienaltar in der Mitte der Kirche gibt es keinen Prunk. Keine Bilder, keine Schmuckverzierungen. Nichts, was das Auge ablenken könnte. Ein kleiner Gang führt unter die Kirche. Dort steht das Epitaph der Heiligen Hripsime. Ihr Grabmal befindet sich damit direkt unter dem Altar und das hat seine Gründe.
    "Der Altar und das, was dahinter liegt, symbolisiert das Paradies – innerhalb der Kirche. Der Altarbereich ist also der Ort oder der Eingang zum Paradies, er ist ein Teil davon."
    "Alle wollten, dass wir unserem Glauben abschwören"
    Allmählich staune ich doch über meinen Begleiter. Er hat mir zuvor mehr von seinen Trekkingtouren in den armenischen Bergen erzählt, als von seinem Bezug zur Religion. Geschweige davon, dass er die Bedeutung des armenischen Christentums historisch einzuordnen weiß:
    "Ich glaube die meisten Armenier praktizieren ihren Glauben innerhalb der Familie. Man muss deshalb nicht jeden Sonntag zur Kirche gehen. Das war während der Sowjetzeit schon so. Und es war für die jeweiligen Machthaber immer schwierig, uns von unserem christlichen Glauben abzubringen. Auch in der vor-sowjetischen Zeit – trotz der Kriege und Verfolgungen, die wir erlebt haben. Das damalige Persien hat es versucht und die Türkei ebenfalls. Alle wollten, dass wir unserem Glauben abschwören. Doch wir haben den christlichen Glauben und unsere eigene Sprache immer beibehalten – selbst als wir noch kein Land und keine Nation sein konnten."
    Papst Franziskus in Armenien gemeinsam mit dem Oberhaupt der Armenischen Kirche, Katholikos Karekin II.
    Armenien hat eine eigene altorientalische Kirche, die apostolisch-armenische Kirche. Katholikos Karekin II. (l., hier mit Papst Franziskus) ist ihr Oberhaupt (dpa / picture alliance / Maurizio Brambatti)
    Die jahrhunderte lange Widerstandkraft der Armenier dürfte – neben ihrem Glauben – vor allem in der eigenen Schrift und dem eigenem Alphabet wurzeln.
    Nicht umsonst hat man der armenischen Schrift in der Hauptstadt Eriwan auch ein eigenes Haus gewidmet. Das mächtige und imposante Gebäude heißt: Matenadaran.
    Dieses alt-armenische Wort bedeutet: "Das Haus in dem die Handschriften aufbewahrt werden." So gesehen ist das Matenadaran eine Bibliothek – allerdings eine von höchster kultureller Bedeutung. Das Haus der Handschriften liegt am oberen Ende eines Boulevards, der nach dem Erfinder der armenischen Schrift benannt ist: Mesrop Mashtots.
    "Im Jahre 405 wurden 36 Buchstaben geschaffen, heute haben wir 39. Und diese drei Buchstaben ist alles, was sich im Laufe dieser 16 Jahrhunderte verändert hat. Das heißt, es ist den Wissenschaftlern gelungen, schon im fünften Jahrhundert, dieses graphische System mit dem phonetischen so gut zu verbinden, dass es bis heute keine Veränderungen erfahren hat und bis heute schreiben und lesen die Armenier mit den selben Buchstaben."
    Armenier: Über die ganzer Welt verstreut
    Arusyak Israelian ist die deutschsprachige Führerin an diesem Vormittag und man merkt ihr an, dass die Arbeit im Matenadaran für sie kein Routinejob ist. Im Gegenteil. Wenn sie über die Merkmale der armenischen Schrift spricht, schwingt bei ihr immer auch Stolz und Staunen mit.
    "Die Vokale sind wie immer, wie in allen Alphabeten: A, E, I, O, U. Was aber den Konsonanten angeht, gibt es im armenischen Alphabet ein paar Laute – für unsere deutschsprachigen Besucher bringe ich immer zwei Beispiele und dann wird alles klar. Wenn man auf Deutsch "tsch" schreibt, braucht man vier Buchstaben t-s-c-h. Für "tsch" gibt es im Armenischen nur ein graphisches Zeichen. "Tsch" oder "sch" – statt dreien usw. Es gibt viele ähnliche Konsonanten."
    Arusyak Israelian bleibt bei unserem Rundgang vor einer Karte stehen, die den historischen Siedlungsraum der Armenier zeigt. Im Wesentlichen ist es neben dem heutigen Armenien die ostanatolische Region rund um den Van-See und das Gebiet an der heutigen türkisch-syrischen Mittelmeerküste. Doch davon ist nach dem Völkermord an den Armeniern – im Schatten des ersten Weltkriegs – fast nichts geblieben.
    "Jetzt ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie größer unsere Sammlung sein könnte. Man kann kurz sagen, während des Genozids sind tausende Handschriften vernichtet, verbrannt; das Beste, was mit den Handschriften passiert – während des Genozids – ist, sie sind mit ihren Besitzern über die ganze Welt verstreut. Das heißt, Matenadaran ist nicht die einzige Sammlung der armenischen Manuskripte. Nur die größte."
    Den Völkermord an den Armeniern hat der in Prag geborene Schriftsteller Franz Werfel in seinem später berühmt gewordenen Roman – "Die vierzig Tage des Musah Dag" – beschrieben. In dem fast tausend Seiten langen Werk, beschreibt Franz Werfel das bis heute schmerzvollste Kapitel in der Geschichte der Armenier.
    Und: Sehr zum Ärger der gegenwärtigen türkischen Regierung hat der Deutsche Bundestag im Juni 2016 die so genannte "Armenien-Resolution" beschlossen. Darin wird – wenn auch erst hundert Jahre später – die Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern erstmals und offiziell als Völkermord bezeichnet.
    Doch diese ganze Tragödie ist im Alltagsleben der Armenier kaum wahrnehmbar. Im Gegenteil. In der Hauptstadt des Landes werden die Straßen und Plätze zwischen der Oper und dem Platz der Republik fast jeden Abend zum Ort ihrer Lebensfreude. Man könnte auch so sagen: Die Armenier haben jetzt ein Zuhause – und doch sind sie über die ganze Welt verstreut.