Dienstag, 23. April 2024

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Armenpfarrer mit Managerqualitäten

August Hermann Francke gründete eine Armenschule und ein Waisenhaus, dann ein Internat, eine Gelehrtenschule und ein Lehrerseminar – das erste in Deutschland überhaupt. Am 22. März 1663 wurde der leidenschaftliche Sozialmanager geboren.

Von Reiner Scholz | 22.03.2013
    Ein Sonntag im Jahr 1687. In Lüneburg soll August Hermann Francke eine Predigt halten. Dem 24-jährigen protestantischen Theologen graut davor. Denn Gott ist ihm abhanden gekommen. Er will die Predigt absagen. Und bittet – aus Verzweiflung – den Gott, an den er nicht mehr glaubt, noch einmal um Hilfe:

    "Da erhörte mich der Herr, der lebendige Gott, von seinem heiligen Throne, da ich noch auf meinen Knien lag. Wie man eine Hand umwendet, so war all mein Zweifel hinweg, … hingegen ward ich von einem Strom der Freude plötzlich überschüttet, dass ich aus vollem Mut Gott lobte und pries."

    August Hermann Francke wurde nach dem damals neuen, dem gregorianischen Kalender, am 22. März 1663 in Lübeck geboren. Sein Vater war Jurist. Zunächst studierte Francke Philosophie, später Theologie. Jene Glaubenskrise in Lüneburg war ein Wendepunkt in seinem Leben und machte aus ihm einen kämpferischen Theologen, der den Konflikt mit der lutherischen Orthodoxie nicht scheute. Jürgen Storz, langjähriger Archivar in den Franckeschen Stiftungen:

    "Es war die Forderung nach Praktizierung eines echten Christentums, das heißt, sich nicht mit schlimmen Verhältnissen abfinden und dadurch, dass man etwas für den Nächsten tut und über den Nächsten für die Allgemeinheit: Verbesserung der Verhältnisse, also gelebter Glaube, nicht in die Kirche rennen am Sonntag und die übrige Woche sich denn schlimm benehmen, sondern etwas Positives tun in jener schlimmen Zeit."

    Als Magister versuchte Francke in Leipzig, den theologischen Nachwuchs für seine Überzeugungen zu gewinnen. In seinen Zirkeln, die immer mehr Zulauf fanden, predigte er, ein wahrer Christ zeige sich in seinen guten Werken. Er verließ Leipzig im Streit, übernahm 1691 an der Universität Halle an der Saale eine Professur und zudem vor den Toren der Stadt in dem kleinen Ort Glaucha eine Pfarrstelle. Dort herrschte - als Folge des Dreißigjährigen Kriegs - eine unbeschreibliche Armut:

    "Wir wissen heute, dass Glaucha zu der Zeit etwa 200 Häuser hatte. Und nun stellen Sie sich bitte vor, von diesen rund 200 Häusern waren 39 zu Schnapsschenken umfunktioniert worden. Jedes fünfte Haus! Und in diesen Kneipen trieben sich nun die Kinder der armen Leute und diese Waisen und Halbwaisen herum, sahen den ganzen Schmutz und Francke beschloss: Ich muss die Kinder von ihrer ‚bösen Umwelt isolieren."

    Es ist die Zeit des Pietismus, einer europäischen Frömmigkeits - und Bibelbewegung. Auch Francke war Pietist und ein Mann mit Managerqualitäten. Als er Ostern 1695 in der Armenbüchse seines Pfarrhauses eine Spende von vier Talern und 16 Groschen fand, gründete er eine Armenschule. Später kam ein Waisenhaus dazu, dann ein Internat, eine Gelehrtenschule, ein Lehrerseminar, das erste in Deutschland überhaupt. In die 1698 gegründeten Franckeschen Stiftungen schickte bald sogar der Adel aus Preußen, aber auch aus England und Russland seine Kinder. Die Erziehung war streng. Francke schreibt:

    "Die Kinder müssen allzeit unter sorgfältiger Inspektion gehalten werden, sei es in der Stube, auf dem Hof, im Speise- oder Bettsaal, … oder wo es auch sein mag. Ist ein Präzeptor auf der Stube, hat er zu sehen, was sie machen, was sie lesen, was sie schreiben, denn es kann leicht sein, dass ein Kind in garstigen Büchern liest, worin er ihm durch Vorstellung des Willens und der Allmacht Gottes begegnen kann."

    Um sein gigantisches Unternehmen finanzieren zu können, gründete der umtriebige Theologe eine Apotheke und eine Bibelanstalt. Francke starb mit 64 Jahren. Sein Werk, "Gottes schönste Schulstadt", wie sie genannt wurde, überlebte und ist heute fast vollständig renoviert:
    "Als Francke 1727 in Halle gestorben ist, waren in den inzwischen riesenhaften Franckeschen Stiftungen an Lernenden und Lehrenden über 3000 Personen, von denen ein großer Teil in den Stiftungen auch noch wohnte, hier jeden Tag beköstigt wurde. Von diesen über 3000 Personen waren 400 Mädchen, das war in damaliger Zeit etwas Ungeheures. Und wenn man das nun in den Vergleich setzt zu dem Jahr 1695, dann muss man sagen, es ist eine ganz unglaubliche Leistung eines frommen Theologen, aber eines großen Praktikers, was er da geleistet hat."