Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Armut in den USA

46,5 Millionen US-Amerikaner lebten im vergangenen Jahr unter der offiziellen Armutsgrenze. Die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang hat längst auch die Mittelschicht erfasst, die jetzt in New York und anderen Städten gegen die Macht der Finanzmärkte demonstriert.

Von Silke Hasselmann | 08.10.2011
    6. Oktober nachmittags. Auf dem Freedom Plaza im Regierungsviertel. Etwa 300 Menschen rufen: "Banken wurden gerettet. Wir wurden verkauft." Später marschieren sie zur Handelskammer, zum Finanzministerium, vorbei am Sitz der US-Bankenaufsicht und weiter Richtung Weißes Haus.

    "Wir sind heute im Namen des arbeitenden Volkes hier. Für jene mit einem Job und für solche, die keinen haben."

    "Wir zahlen doch für die Fehler, die die Reichen gemacht haben. Das wird so bleiben. Sie haben die Banken und Wall Street gerettet, und wir bezahlen das","

    sagt ein 50-jähriger Mann aus Connecticut, und dieser 42-Jährige meint:

    ""Jeder, den ich kenne, erzählt mir, dass er täglich ärmer und ärmer wird. Auch ich. Dabei habe ich einen Job, bin kein Hippie oder arbeitslos. Und dann sehe ich, wie deren Aktien steigen und meine Bezahlung einfach immer weiter runter geht."

    Nein, sie sehen nicht aus, als zählten sie zu den 46,5 Millionen Amerikanern, die voriges Jahr unter der offiziellen Armutsgrenze lebten – die Okkupanten, die, oft mit teuren Hightech-Geräten ausgerüstet, in New York oder Philadelphia, Houston oder Los Angeles auf die Straße gehen. Doch das ist kein Widerspruch, denn seit Krisenbeginn 2007/8 erodiert das Fundament der amerikanischen Mittelschicht in bis dahin unbekanntem Tempo. Die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg hat sich tief in die Seele dieses eigentlich grund-optimistischen Volkes gefressen: Das uramerikanische Versprechen, dass jeder die Chance hat, sich rasch aus eigener Kraft wieder aus einer Misere zu befreien, lässt sich nicht mehr verlässlich einlösen.

    Szenenwechsel. Ein Septembervormittag in Huntsville, Alabama. Am Rande einer großen Ausfallstraße, umgeben von schäbig aussehenden Geschäften und Reparaturläden, steht "Sharon´s Thrift Store and Soup Kitchen". Es ist 10 Uhr und Debbie hat vor einer Stunde Frühstück an bedürftige Besucher verteilt. Nun weist sie Chris in die Vorbereitung der Mittagsausgabe ein. Der 33-jährige Ingenieur vom NASA-Raketenzentrum in Huntsville kam über die Kirchgemeinde hierher und hilft für ein bis zwei Stunden, wann immer es geht.

    Heute gibt es Grillhühnchen, Sandwiches, gebackene Bohnen, Kuchen – alles gespendet von einem Restaurant aus der Nachbarschaft.

    ""40 bis 50 Portionen bereiten wir täglich vor. Man weiß nie, wie viele Menschen kommen werden. Wir hatten auch schon 60 Leute zur Mittagszeit hier."

    Es seien sehr raue Zeiten für sie, sagt Loreen McCormack und zieht an einer Zigarette. Sie sei vor zwei Wochen zum ersten Mal in diese Suppenküche gekommen und schaue seitdem täglich hier vorbei.

    Loreens fehlende Zähne und das verlebte Gesicht erzählen nicht, wie es dazu gekommen ist. Doch sie sprechen Bände über ein hartes Leben am unteren Rand der Gesellschaft. Wie sie Armut definiert, möchte ich wissen, und Loreen sagt: "Von nichts leben müssen."

    Loreen McCormack hat am Morgen hier gefrühstückt und wird nun warten, bis die Mittagsportionen verteilt werden. Manchmal kommt sie auch abends noch einmal vorbei. So abhängig von den gesponserten Mahlzeiten der Suppenküche sei er nicht, sagt der 58-jährige George. Noch nicht. Er weiß ja selbst, wie schnell es gehen kann mit dem Abstieg in diesen Tagen.

    Bei ihm kam einfach eines zum anderen, vor allem gesundheitliche Probleme:

    ""Erst hatte ich einen Herzinfarkt, dann einen Schlaganfall. Ich bin zweimal am Rücken operiert worden und plötzlich habe ich nicht mehr 1500 Dollar die Woche verdient, sondern musste mit knapp 900 Dollar im Monat klarkommen.""

    Die Krankenhausrechnungen hätten einen armen Mann aus ihm gemacht. Er verlor seine Arbeit. Wer kann schon einen über 50-jährigen Halbinvaliden gebrauchen? Immerhin, so sagt er, sei er nicht obdachlos geworden: Er lebt in einem kleinen schäbigen Zimmer am Rand der Stadt, und er ist zugleich beschämt und dankbar, in Sharons Suppenküche Nahrung, im Sommer Schatten und im Winter etwas Wärme zu bekommen. Einmal im Monat darf er sich zwei Kleidungsstücke aus dem Second-Hand-Fundus aussuchen. Wie all die anderen Armen auch.

    Die Namensgeberin ist eine kleine, 45-jährige Frau, die ihren Second-Hand-Laden mit angeschlossener Suppenküche seit 2003 betreibt.

    "Der Herr hat mich an diesen Platz gestellt, und es brauchen immer mehr Menschen Hilfe. Nun erst recht, da die Wirtschaft so schlecht läuft und sie sogar unsere Huntsviller Raumfahrtingenieure entlassen. Alle Rassen sind betroffen und kommen her, weil sie etwas zu essen brauchen.""

    Ja, manche verlassen sich inzwischen darauf, dass sie hier versorgt werden, obwohl ihre Suppenküche nicht als Daueraufenthalt gedacht ist, sagt Sharon. Und ja, wie überall im Leben gibt es Menschen, die sogar dieses System zum eigenen Vorteil missbrauchen. Doch vor allem gebe es die wirklich Hilfebedürftigen.

    Man glaubt zu wissen, wie Sharon Walker den Begriff Armut definiert, denn von Montag bis Samstag ist sie in ihrer Suppenküche von armen Menschen umgeben – Menschen, die sich nicht einmal die Kleider leisten können, die sie am Leib tragen (oder so ähnlich). Doch sie ist überzeugt, dass Armut nicht nur mit Geldhaben oder -nichthaben zu tun hat.

    "Ich kenne Menschen, die das ganze Jahr über in einem Zelt schlafen und die glücklichsten Menschen mit guter Ausstrahlung sind. Ich kenne aber auch zutiefst unglückliche Leute mit dickem Mercedes und großem Haus. Man kann im Herzen reich sein oder arm, und darauf kommt es an."

    Was uns zurück zu den "Occupy Wall Street"-Protesten bringt. Sie stehen noch am Anfang, eine Bewegung zu werden. Eine Bewegung auch gegen eine fast ungebremste Auflösung der amerikanischen Mittelschicht und gegen die weitere Verarmung der bereits Abgehängten.