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Arnold Bergstraesser
Sozialwissenschaftler ohne eindeutige Haltung

Er sympathisierte mit der Hitler-Diktatur, erhielt aber wegen seiner jüdischen Großmutter Lehrverbot. Nach dem Krieg entzog sich Arnold Bergstraesser mit seiner bildungsbürgerlichen Sicht auf politische Fragen allen Konflikten.

Von Jochen Stöckmann | 24.02.2014
    Altes Buch mit vergilbten Seiten und angestoßenen Kanten am Buchdeckel, aufgenommen am 2.4.2012. Foto: Jens Kalaene dpa/lbn
    Arnold Bergstraesser baute nach dem Krieg die politische Erwachsenenbildung auf. (dpa / Jens Kalaene)
    Als Professor Arnold Bergstraesser am 24. Februar 1964 in Freiburg starb, da verlor nicht nur die dortige Universität den Begründer einer eigenständigen Politikwissenschaft. Bergstraesser, 1896 in Darmstadt geboren, hatte nach seiner Rückkehr aus dem Exil in der Bundesrepublik die politische Erwachsenenbildung aufgebaut, die Akademie in Tutzing begründet, für die Einführung der "Gemeinschaftskunde" in den Schulen gesorgt. Im Nachruf der "Monatshefte" der Universität Wisconsin hieß es: "Er war eine moderne Verkörperung der großen Tradition des deutschen Gelehrten als Führer der Nation."
    Bergstraesser selbst sah seine Erfolgsbilanz allerdings getrübt durch eine politisch eher resignierte Bevölkerung. So resümierte er 1958 im Gespräch mit seinen Studenten:
    "Das Verhältnis zum Staat und das Verhältnis zum Volk ist von dem nationalsozialistischen Regime in einem geradezu unglaublichen Maße überbeansprucht worden. Und aus dieser ideologischen Überbeanspruchung heraus – etwa mit dem Wort 'Volksgemeinschaft' – aus dieser Überbeanspruchung heraus ist Volksmüdigkeit oder Staatsmüdigkeit eingetreten."
    Was Bergstraesser unter "Gemeinschaft" verstand, hatte er bereits 1932 als Professor für Staatswissenschaft in Heidelberg erkennen lassen. Dort wagte es der Mathematiker Emil Julius Gumbel, selbst Kriegsfreiwilliger von 1914, die nationalistische Heldenverehrung der rechtskonservativen Parteien infrage zu stellen. In einem Untersuchungsausschuss sorgte Bergstraesser dafür, dass seinem von Nazi-Studenten beschimpften und verfolgten Kollegen die Lehrerlaubnis entzogen wurde.
    "Der Demagoge Gumbel hat sich in einer Form geäußert, welche die innere Auflösung der Gemeinschaft zur Folge haben muss."
    Nach dem Ende der Weimarer Republik, im Herbst 1933 bekannte sich der Staatswissenschaftler Bergstraesser in London in einem von der Zeitschrift "International Affairs" veröffentlichten Vortrag zu seiner Sympathie für die Hitler-Diktatur:
    "Ich habe seit vielen Jahren empfunden, dass nur eine Diktatur Ordnung und Zuversicht in Deutschland wiederherstellen würde. Demokratie hat in Deutschland nicht zu jener sozialen und politischen Eintracht geführt, die zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise von 1929 nötig war."
    Auf den Tag genau vier Jahre nach dem von ihm verantworteten Ausschluss des Nazi-Gegners Gumbel aus der Universität wurde 1936 auch Arnold Bergstraesser aus dem Staatsdienst entlassen – wegen seiner jüdischen Großmutter. Er ging 1937 in die USA.Zurück in Deutschland machte Arnold Bergstraesser ab 1954 Karriere – in der Rolle des liberalen Bildungsbürgers. Einer seiner ersten Studenten, der spätere Friedensforscher Ekkehart Krippendorff:
    "Gleich nach Kriegsende in den USA hatte er als Antwort auf die deutsche Katastrophe und die Sinnkrise des europäischen Zusammenbruchs ein Buch geschrieben: 'Goethe’s Image of Man and Society'. Aus diesem Horizont lehrte Bergstraesser Politikwissenschaft. Hier, in Literatur, Dichtung und Philosophie, verortete er die Frage nach dem Politischen."
    Aus dieser bildungsbürgerlichen Sicht auf politische Fragen war nach Bergstraessers Deutung auch der Widerstand gegen die Nazi-Diktatur hervorgegangen. In seiner Gedenkrede für die Offiziere des 20. Juli erklärte er 1963 im Ehrenhof des Bendlerblocks in Berlin:
    "In diesen Jahren ... begann sich der Widerstand zu sammeln, in der Geborgenheit der Familie, in der still geübten Pflicht der Hilfe, im gemeinsamen Nachdenken unter verlässlichen Freunden, manchmal im Aussprechen eines gewagten Wortes . Hier gab es den Humanisten, der, erfahren in der abendländischen wie in der deutschen geistigen Überlieferung, sich, wenigstens sich selbst und seine Nächsten, im stillen Kampf gegen die vordergründige Gegenwart zu erneuern verstand."
    Mit diesem Ideal der Innerlichkeit und geistiger Werte entzog sich der Politikwissenschaftler auch nach 1945 allen Konflikten. Bergstraessers Assistent Kurt Sontheimer, der Anfang 1956 das Habilitationsthema "Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik" gegen Einwände seines akademischen Lehrers durchsetzen musste, konstatierte:
    "Er hat nie eine eindeutige Haltung, er will allen Unannehmlichkeiten ausweichen."