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Arthur Rundt: "Marylin"
Die hässliche Fratze der Neuen Welt

Arthur Rundts Gesellschaftsroman "Marylin"spielt im New York der 1920er-Jahre und zeigt das andere Amerika, in dem Alltagsrassismus gesellschaftlich etabliert ist. Das erstmals 1928 erschienene Buch wird nun neu veröffentlicht – und ist ungeahnt aktuell.

Von Ralph Gerstenberg | 09.05.2017
    Buchcover: Arthur Rundt "Marylin". Im Hintergrund: die Skyline von New York in den 1920ern.
    Buchcover: Arthur Rundt "Marylin". Im Hintergrund: die Skyline von New York in den 1920ern. (Edition Atelier/imago/United Archives International)
    Wie passt das zusammen: Fortschritt und Rassismus, die Blütezeit des Jazz in einer Metropole wie New York und die alltägliche Diffamierung und Ungleichbehandlung seiner afroamerikanischen Bewohner? Diese Frage mag sich Arthur Rundt gestellt haben, als er Ende der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts seinen Roman "Marylin" geschrieben hat.
    Der aus Oberschlesien stammende und zunächst in Berlin, seit 1909 dann in Wien lebende Schauspieler, Theaterdirektor, Autor und Journalist hatte die USA bereits für sein 1926 erschienenes Buch "Amerika ist anders" bereist. Darin würdigte er den prägenden Einfluss verschiedenster Ethnien auf die amerikanische Kultur der Moderne, das "mannigfach gemischte Blut", das zu "mannigfacher Begabung" führe, wie es dort heißt.
    Von kultureller oder ethnischer Durchmischung ist in seinem zwei Jahre später erschienenen Roman "Marylin" zunächst nichts zu spüren. Darin verliebt sich der Chicagoer Architekt Philip in die Büroangestellte Marylin. Sie ist ihm bei seinen täglichen Fahrten im überfüllten Hochbahnzug aufgefallen: eine schlanke junge Frau, Anfang zwanzig, deren sechstägige Arbeitswoche wenig Abwechslung und in der Anonymität der Großstadt kaum soziale Kontakte zu gestatten scheint.
    In New York gibt Marylin ihren Widerstand auf
    Philip verfolgt Marylin zunächst auf ihrem Heimweg, später nach Cleveland und nach New York. Denn als Philip sie mit seiner Absicht konfrontiert, das Leben gemeinsam mit ihr verbringen zu wollen, wechselt Marylin zweimal ihren Wohnort. Warum, fragt sich der Leser, woher kommt sie, welches Geheimnis mag sie mit sich herum tragen? Fragen, die der entschlossen um sie werbende Philip sich nicht zu stellen scheint. Dennoch spürt er den "geheimnisvollen Widerstand" Marylins, der sie aus der Masse der attraktiven Frauen in den Straßen New Yorks heraushebt, sie zu etwas Besonderem macht.
    Dort, also in New York, gibt Marylin ihren Widerstand auf, fügt sich gewissermaßen ihrem Schicksal. Philip und sie werden ein Paar.
    Schnörkellos und unsentimental erzählt Arthur Rundt von ihrem Leben in der Großstadt. So entsteht ein urbanes Gesellschaftsporträt ganz im Stil der Neuen Sachlichkeit: Philip und Marylin zum Grammophon tanzend, Kinobesuche, Boxkämpfe. Doch auch der Alltagsrassismus ist allgegenwärtig. Afroamerikaner sind in dieser Welt nur die "Neger", die den Fahrstuhl bedienen dürfen, genau wissen, wo sie sich zu platzieren haben, und bestenfalls dann in weißer Gesellschaft geduldet werden, wenn sie über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, die sie zum Vergnügen dieser Weißen erfolgreich einzusetzen wissen – wie der berühmte Boxer oder der weltbekannte Gospelsänger. Alle anderen gelten als schmutzig und unzivilisiert.
    Rundt zeigt hier nicht nur die Kehrseite des amerikanischen Traums, wie es immer so schön heißt, sondern die hässliche Fratze der Neuen Welt, die unversehens zum Vorschein kommt, wenn Angloamerikaner auf Landsleute anderweitiger Herkunft treffen.
    In dieser Welt ist Marylin fortan eine Geächtete
    In dieses gänzlich hassverzerrte Antlitz blickt der Leser mit Marylin, als diese zum Entsetzen ihres gesamten Umfeldes ein dunkelhäutiges Kind zur Welt bringt. Ihr schockstarrer Ehemann verlässt sie auf der Stelle, Freunde wenden sich ab, der Scheidungsrichter redet von "dem Zeug", das sie aus dem Gerichtssaal zu entfernen habe - und meint damit ihr Kind. In dieser Welt ist Marylin fortan eine Geächtete.
    Nur eine befreundete Französin leistet ihr Beistand, also bezeichnenderweise eine Europäerin, die die Rassenschranken nicht schon als Kind eingetrichtert bekommen hat. Niemand sonst fragt zunächst nach den Umständen, die zu dieser Geburt geführt haben. Marylins Schuld erscheint unfassbar groß und eindeutig.
    Arthur Rund gelingt in diesem schmalen Roman das sehr eindringliche Porträt einer Gesellschaft, die am Rassismus nicht nur festhält, sondern sich geradezu daran klammert. Vielleicht umso mehr, weil sie spürt, dass etwas im Umbruch ist. Ein angesehener afroamerikanischer Arzt aus dem nicht nur kulturell aufstrebenden New Yorker Stadtteil Harlem ruft bei einer spontanen Party im Unterdeck eines Ozeanschiffes die "Brüder und Schwestern" dazu auf, aktiv zu werden, sich zu organisieren, für ihre Rechte einzutreten. Ein Aufruf, der dem zunächst als Unterhaltungsroman daherkommenden Buch endgültig eine politische Dimension verleiht.
    Arthur Rundt geht es offenbar nicht nur um das Aufzeigen eines eklatanten Widerspruchs zwischen dem american way of life und einem tief verwurzelten rassistischen Bewusstsein, sondern auch darum, den Beleidigten und Erniedrigten eine Stimme zu geben.
    Eine ungeahnte Aktualität
    Mit seiner "Überblendung von Race und Gender, europäischen Projektionen und amerikanischen Realitäten, urbaner Modernität und provinzieller Fesseln" nehme dieser Roman "eine singuläre Stellung im zeitgenössischen Diskursfeld" ein, konstatiert Herausgeber Primus-Heinz Kucher in seinem etwas akademisch geratenen Nachwort. Der wache Gesellschaftskritiker Arthur Rundt, erfährt man darin auch, wurde in den 30er-Jahren durch Publikationsschranken in die Bedeutungslosigkeit delegiert.
    Nach zwei Schlaganfällen gelingt ihm 1939 die Emigration nach New York, wo er nur wenige Wochen später im Alter von 57 Jahren stirbt. Sein Roman "Marylin" von 1928 zeigt ihn als wachen Beobachter und Meister einer äußerst wirkungsvollen Erzählökonomie. Zudem gewinnt dieser lange vergessene Roman in Zeiten, in denen Rassenhass in den USA wieder salonfähig zu werden droht, eine ungeahnte Aktualität.
    Arthur Rundt: "Marylin"
    Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Primus-Heinz Kucher
    Edition Atelier, 176 Seiten, 18 Euro.