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Arzt oder Notaufnahme
Patienten durch das komplizierte Gesundheitswesen lotsen

Bevor Patienten das Haus verlassen, sollen sie künftig Beschwerden telefonisch klären - das plant die Kassenärztliche Vereinigung. Diese Aufgabe sollten integrierte Leitstellen übernehmen, die Rettungsdienst und Bereitschaftsdienst kombinieren, rät Ferdinand Gerlach vom Sachverständigenrat im Gesundheitswesen.

Ferdinand Gerlach im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 21.07.2018
    Ferdinand Gerlach gestikuliert.
    Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (imago stock&people)
    Jürgen Zurheide: Zunächst einmal sage ich guten Morgen, Herr Gerlach!
    Ferdinand Gerlach: Ja, guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Gerlach, jetzt hören wir, Sprechstunden von 20 Stunden auf 25 pro Woche. Ist das erst mal richtig?
    Gerlach: Ja, dann muss man zunächst mal fragen, wie viel arbeiten denn die Ärzte jetzt. Die allermeisten arbeiten etwa 50 bis 55 Stunden die Woche, denn es geht ja nicht nur um die Sprechstunden, sondern zum Beispiel auch um Hausbesuche, um Gutachten, um Fortbildung, um Verwaltung. Also das wird letztlich nur wenige Ärzte betreffen, die dann etwas mehr Sprechstunden anbieten müssen als das heute der Fall ist.
    Integrierte Leitstellen und Notfallzentren
    Zurheide: Bevor wir über weitere Details reden, das Problem habe ich ja gerade schon geschildert, viele Menschen gehen in die Notaufnahmen der Krankenhäuser, weil sie das Gefühl haben oder es auch real so ist, dass die niedergelassenen Ärzte da nicht viel tun. Also diese Maßnahme, die die Bundesregierung und der Bundesgesundheitsminister vorschlagen, bringt der irgendwas bei dem Problem, was ja objektiv da ist?
    Gerlach: Ja, das ist schon so. Man muss allerdings den Zusammenhang sehen. Also in den Notaufnahmen der Kliniken ist es so, dass im Augenblick sehr viele Menschen quasi die Kapazitäten verstopfen, die da eigentlich gar nicht hingehören, mit relativ leichten Erkrankungen oder harmlosen Erkrankungen, und damit sind jetzt alle unzufrieden, die Ärzte und das Pflegepersonal, die dort arbeiten, aber auch die Patienten, die dort lange warten müssen. Man muss an verschiedenen Stellen ansetzen. Wir haben ja vorgeschlagen, gleich zwei Neuerungen einzuführen, zum einen integrierte Leitstellen, die rund um die Uhr erreichbar sind, die Beschwerden abklären, einordnen und den schnellsten und besten Weg für eine angemessene Versorgung bahnen, und zum zweiten integrierte Notfallzentren, in denen niedergelassene Ärzte und Klinikärzte unter einem Dach zusammenarbeiten.
    Rettungsdienst 112 und Bereitschaftsdienst kombinieren
    Zurheide: Fangen wir noch mal mit den integrierten Leitstellen an. Das heißt, ich habe ein Problem, ich gehe nicht irgendwo hin, sonder ich rufe erst mal an, und da sitzt jemand, der medizinisch kompetent Auskunft geben kann. Habe ich das richtig verstanden?
    Gerlach: Genau so ist es gedacht. Wir wollen die Rufnummer für den Rettungsdienst, die 112 und die Rufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst, die bundesweit geschaltet ist, die 116 117, zusammenschalten, und wenn Sie ein Problem haben, dann können Sie, bevor Sie das Haus verlassen, dort anrufen. Dort sind geschulte Fachleute, die Ihre Beschwerden abklären, und wenn Sie zum Beispiel Bauchschmerzen haben, dann wissen Sie ja als Patient zunächst mal nicht, ist das jetzt harmlos oder gefährlich und welcher Arzt oder welche Klinik könnte mir am besten helfen, und Aufgabe dieser Leitstellen ist es nun, die Patienten durch das komplizierte Gesundheitswesen zu lotsen.
    Vielleicht beim Beispiel Bauchschmerzen: Es könnte sein, dass Sie einen schlechten Döner gegessen haben oder einen Magen-Darm-Infekt haben, das ist harmlos. Dann reicht vielleicht ein Hausmittel oder der Besuch in der Praxis, wo Sie zeitnah einen Termin bekommen. Haben Sie aber einen Darmverschluss oder eine Blutung, dann muss der Notarztwagen mit Blaulicht kommen, und genau diese Weichenstellung, das ist das Schwierige, und das muss zukünftig besser funktionieren als bisher.
    Behandlung aus einem Guss
    Zurheide: Dann haben wir bei den Kliniken das Problem, dass auf der einen Seite wir alle wissen, dass natürlich ein Besuch in einer Klinik immer am Ende teurer ist als der Besuch beim Hausarzt, die Menschen das aber nicht richtig unterscheiden können. Reicht dann diese Leitstelle als vorgeschaltete Einheit? Bis das soweit ist, haben wir immer noch ein Problem in den Notaufnahmen - ich habe es vorhin beschrieben -, die völlig überlaufen sind.
    Gerlach: Ja, richtig. Wenn die Patienten dann zur Notaufnahme kommen, dann stellen wir uns zukünftig vor, dass sie zu einem integrierten Notfallzentrum gelangen. Das heißt, dort arbeiten die niedergelassenen Ärzte und die Klinikärzte unter einem Dach. Es gibt sprichwörtlich nur eine Tür, durch die man geht. Hinter dieser Tür stößt man auf einen zentralen Tresen, und an diesem Tresen werden die Patienten noch mal persönlich in Augenschein genommen. Man wird dann feststellen, ist das jetzt eine Sache, die eher harmlos ist, können das die niedergelassenen Ärzte behandeln, oder muss der Patient von den Klinikärzten weiterbehandelt werden, vielleicht sogar stationär aufgenommen werden. Das soll aber quasi eine Entscheidung am zentralen Tresen mit einer Behandlung aus einem Guss sein.
    Weichenstellung "in den nächsten wenigen Jahren"
    Zurheide: Nur die Frage ist - das ist ein schönes Konzept -, wann ist das soweit, Herr Gerlach?
    Gerlach: Wir rechnen damit, dass die Weichenstellung für gesetzgeberischer Art und was die Umsetzung im Gesundheitswesen angeht, jetzt in den nächsten wenigen Jahren passiert. Das wird wahrscheinlich eines der nächsten…
    Zurheide: Entschuldigung, wenn ich dazwischen gehe, haben wir so viel Zeit angesichts der Problemlage, dass das noch Jahre dauert?
    Gerlach: Nein, die haben wir nicht, aber es ist so, dass zum Beispiel viele Kliniken jetzt schon anfangen, sich nach diesem Konzept zu orientieren. Es werden jetzt schon zentrale gemeinsame Notaufnahmen mit niedergelassenen Ärzten gebaut. Es gibt Kooperationen zwischen Klinikärzten und niedergelassenen Ärzten. Also vor Ort wird nicht unbedingt auf den Gesetzgeber gewartet, dennoch hat, glaube ich, die Politik erkannt, dass hier ein dringender Handlungsbedarf gegeben ist, und insofern erwarten wir auch, dass hier relativ schnell etwas passiert.
    Flexibilisiertes Angebot für Berufstätige und samstags
    Zurheide: Jetzt kommen wir noch mal zurück auf den aktuellen Vorschlag von Herrn Spahn. Jetzt haben Sie auch gerade gesagt, das ist nur ein kleines Teil des Problems. Ein anderes ist, er will da auch noch mehr Geld für zahlen. Da sagen natürlich die Krankenkassen, wunderbar, im Schnitt kriegt eine Praxis 380.000 Euro Honorar, und dafür können wir erwarten, dass die auch arbeiten. Also muss das dann, wenn die Ärzte statt 20 25 Stunden offene Sprechstunden haben, muss das dann extra vergütet werden, oder ist das nicht eigentlich schon längst im Topf drin? Im Zweifel müsste es dann umverteilt werden? Wenn das Problem überhaupt da ist.
    Gerlach: Ja, das wird man verhandeln müssen. Man muss auch wissen, 380.000 Euro sind …
    Zurheide: Ist der Durchschnitt.
    Gerlach: Ist der Durchschnitt-
    Zurheide: Ich weiß.
    Gerlach: - und der Umsatz einer Praxis. Man muss eben die Kosten abziehen.
    Zurheide: Richtig.
    Gerlach: Was man hier machen muss, ist, tatsächlich gezielt steuern, also für Patienten, die zum Beispiel keinen Termin bekommen. Wenn da ein zusätzlicher Termin vergeben wird, etwa über die Terminservicestellen, dann kann man auch einen Anreiz schaffen. Man kann auch einen gezielten Anreiz schaffen, wenn man zum Beispiel Abendsprechstunden für Berufstätige anbietet oder Samstagssprechstunden, wenn also mehr gemacht wird als bisher, und größere Praxen mit mehreren Ärzten, die sich die Arbeit auch aufteilen, die machen so was, die machen das auch gerne, und damit kann man dem Patienten natürlich ein flexibilisiertes Angebot machen. Wenn das über das Angebot hinausgeht, was wir jetzt haben, dann ist es auch gerechtfertigt, da etwas mehr Honorar zu zahlen, aber dann bitte auch gezielt.
    Honorartöpfe - eine Frage der internen Umverteilung
    Zurheide: Jetzt könnte ich natürlich dagegen halten und sagen, na ja, wenn die Ärzte es nicht tun - das ist Marktwirtschaft -, dass sie sich danach richten müssen, was die Menschen brauchen, weil die Menschen sonst Doktor Google anrufen oder fragen und es demnächst Systeme gibt, wo der Arzt in Pakistan und ich weiß nicht wo, deutsch spricht und das dann als Service extra bezahlt wird, dann geht den Ärzten insgesamt was verloren. Sehen Sie diese, haben Sie diese Sorge nicht?
    Gerlach: Also diese Entwicklung wird es auf jeden Fall geben. Wir werden digitale Angebote haben, auch auf unterschiedlichen Kanälen. Für das Honorar der Ärzte spielt das im Augenblick keine Rolle, weil wir hier in Deutschland sogenannte Budgets haben. Budgets sind praktisch Honorartöpfe, die für die ambulante und auch die stationäre Versorgung zur Verfügung stehen, und das ist nur eine Frage der internen Umverteilung. Die Töpfe werden deshalb nicht schrumpfen, zumindest nicht kurzfristig.
    Zurheide: Und was ist, wenn Herr Gassen, der Vorsitzende der Ärzteschaft, ich will ihn mal so bezeichnen, wenn er sagt, es fehlen einfach 10.000 Ärzte? Sie selbst sind auch Hausarzt oder haben einen Lehrstuhl für Hausärzte. Fehlen uns Ärzte oder machen die Ärzte nur nicht das, was wir unbedingt brauchen, nämlich zum Beispiel mehr Hausärzte?
    Gerlach: Wir hatten noch nie so viele Ärzte wie derzeit in Deutschland.
    Zu wenige Hausärzte, zu viele Spezialisten
    Zurheide: Richtig.
    Gerlach: Wir haben 385.000 Ärzte, jedes Jahr 6.500 berufstätige Ärzte mehr. Wir gehen davon aus, dass wir keinen absoluten Ärztemangel haben, sondern vor allem eine doppelte Fehlverteilung. Wir haben zu wenige Generalisten, zu wenige Hausärzte, insbesondere in der Fläche, und zu viele Spezialisten in manchen Gebieten, und dann haben wir die meisten Ärzte dort, wo sie, überspitzt gesagt, am wenigsten benötigt werden, nämlich in überversorgten Stadtvierteln der Ballungsgebiete, aber schon in ärmeren Stadtteilen oder im ländlichen Raum fehlen uns die Ärzte. Wir müssen hier also etwas an der Struktur ändern, wir müssen auch die Ärzte von unnötigen, überflüssigen Aufgaben entlasten, und dann könnten wir feststellen, ob wir tatsächlich mehr Ärzte benötigen. Wahrscheinlich benötigen wir nicht mehr Ärzte.
    Weiterbildung und Teilzeitarbeit
    Zurheide: Jetzt sagen Sie so schön, wir müssten. Wer muss denn da was tun, damit genau das passiert, damit es mehr Hausärzte und weniger andere gibt?
    Gerlach: Da muss man an mehreren Stellen gleichzeitig ansetzen. Das beginnt in der Ausbildung, also im Medizinstudium. Da ist auch schon ein Masterplan Medizinstudium 2020 auf dem Weg, wo die Allgemeinmedizin und die praktische Tätigkeit insbesondere gestärkt werden sollen. Dann geht es um die Weiterbildung von Fachärzten für Allgemeinmedizin. Auch dort wird schon einiges getan. Es gibt sogenannte Kompetenzzentren, die die jungen Ärztinnen und Ärzte auf ihrem Weg begleiten, und dann müssen wir bei der Berufstätigkeit etwas tun. Die junge Generation möchte eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir brauchen also Gesundheitszentren, wo man Teilzeit arbeiten kann, angestellt arbeiten kann, wo Kinderbetreuung ermöglicht wird und wo auch Anreize geschaffen werden, im ländlichen Raum oder in unterversorgten Gebieten zu arbeiten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.