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Arztpraxis im Himalaya

Karin Streit zieht den Mönchen im Himalaya die Zähne. Zwei Monaten im Jahr tauscht sie ihre komfortable Praxis in der Münchner Innenstadt mit den oft schwierigen Behandlungsorten in den Bergen.

Von Agnes Steinbauer | 31.01.2010
    "Wir müssen den Zahn ziehen. Der Grund für seine Schmerzen ist eine Entzündung an der Zahnwurzel. Das ist aber kein Problem, weil es ja ohnehin ein Milchzahn ist. Das heißt, der Neue wächst bald wieder nach."

    Karin Streit versucht, den achtjährigen Mönch Tsering Namgyal mit Fragen nach seiner Familie ein wenig zu beruhigen. Auf dem Zahnarztstuhl aus Plastik hat er sich ängstlich in sein rotes Mönchsgewand verkrochen. Erst als der schmerzende Zahn gezogen ist, strahlt er erleichtert. In Ladakh gibt es viele kleine Mönche. Das Kloster ist für arme Familien oft die einzige Möglichkeit, ihre Kinder ausbilden zu lassen. Tsering Namgyal ist heute einer von über 20 jungen Patienten, die im Klosterhof von Sumoor Schlange stehen.

    Sumoor das ist ein kleiner Ort im Nubra Valley, einem Tal nordöstlich der ladakhischen Hauptstadt Leh. Es liegt auf rund 3000 Metern über dem Meeresspiegel nahe der chinesischen Grenze. Graubraun fließen hier die gewaltigen Wassermassen des Indus durch die zerklüftete Steinwüste des Himalaya. Im Sommer blühen in den Oasen Blumen in allen Farben und an den Aprikosenbäumen hängen die reifen Früchte. Mit ins Landschaftsbild gehören immer und überall die Stupas und Gompas - buddhistische Gebetsstätten und Klöster. Wegen ihrer geografischen und spirituellen Nähe zu Tibet wird diese nördlichste Region Indiens auch Land of the Lamas, Land der Mönche, genannt.

    Ursprünglich hatte es Karin Streit genau das angetan: Es gibt kaum ein Kloster in Ladakh, das sie nicht kennen würde. Für die sportliche, blonde Frau, die am liebsten auf der Royal Enfield durch die karge Landschaft fährt, gibt es nirgendwo auf der Welt Orte, die mehr Ruhe ausstrahlen:

    "Das sind diese buddhistischen Klöster. Das ist Hemis, das ist das größte buddhistische Kloster in Ladakh, sehr schön erhalten, aus dem elften Jahrhundert. Die Mönche leben in diesen Klöstern. Das sind keine Museen, sondern dort wird die buddhistische Tradition gelebt. Was man da auf jeden Fall mitnehmen kann, ist eine heitere Gelassenheit zu jeder Situation im Leben."

    Einer der bekanntesten heiligen Orte Ladakhs ist Thikse, ein Kloster aus dem 15. Jahrhundert, rund 20 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Leh. Die vielen Stufen bis zum Tempel ganz oben auf dem Hügel zu erklimmen, ist Standardprogramm jeder Reisegruppe - nicht zuletzt deshalb, weil in Thikse regelmäßig Morgenpudjas - Gebetszeremonien - stattfinden, an denen über 100 Mönche teilnehmen.

    Karin Streit kennt diesen Ort sehr gut und nimmt - wann immer sich die Gelegenheit ergibt - an den Pudjas teil, aber vor einigen Jahren kam der Punkt, da wollte die Zahnärztin aus München mehr, als nur Asientouristin sein:

    "Da hatte ich das Gefühl: Ich muss reisen mit einer Aufgabe. Und diese Aufgabe fand ich dann in diesem ladakhischen Himalayatal, weil ich gesehen habe, dass hier wenig Hilfsprojekte sind und dass da keine ärztliche Versorgung ist."

    Und so begann Doktor Karin - wie sie von allen genannt wird - vor zwei Jahren mit ihren Open-Air-Behandlungen in durchschnittlich 3000 Meter Höhe. In Zusammenarbeit mit den örtlichen Amchis - das sind die traditionellen Heiler in Ladakh - organisiert sie sogenannte Dental Camps in Schulen, Privathäusern oder im Freien. Wenn sie stattfinden, spricht sich das schnell herum. Die Patienten kommen aus den entlegensten Dörfern. Oft sind sie stundenlang zu Fuß unterwegs.

    Heute hat eine Familie in einem kleinen Ort nahe der chinesischen Grenze ihr Haus zur Verfügung gestellt. Schon seit den frühen Morgenstunden sitzen die Patienten auf dem Lehmboden und warten auf Doktor Karin.

    Eine kostenlose Zahnbehandlung ist begehrt unter der armen Landbevölkerung. In dem Land so groß wie Österreich gibt es für 230.000 Einwohner außer ein paar Zahnärzten in der Hauptstadt Leh keine zahnärztliche Versorgung. Die bewerkstelligt seit einigen Jahren die deutsche Hilfsorganisation Kinder des Himalaya. Neben Schulprojekten veranstaltet der Verein Dental Camps in Ladakh - mit der ehrenamtlichen Unterstützung von Zahnärzten. Sie nehmen oft finanzielle Verluste in Kauf, wenn sie ihre Praxis in Deutschland für einige Wochen oder Monate im Jahr verlassen. Karin Streit ist seit 2007 dabei. Bis zu zwei Monaten im Jahr tauscht sie ihre komfortable Praxis in der Münchner Innenstadt mit den oft schwierigen Behandlungsorten im Himalaya. Begleitet von einem Fahrer und manchmal einem Zahnarztkollegen bereist sie die entlegenen Gegenden in Ladakh und Zanskar. Eines der Ziele ist das Nubra-Tal - eine Tagesreise nordöstlich von Leh.

    Um nach Nubra zu gelangen, muss Karin Streit den mit fast 6000 Meter höchsten befahrbaren Pass der Welt überqueren. Auf dem Kardong La ist der Himmel nahe, die Luft aber so dünn, dass viele Touristen den Ausblick auf die faszinierende Bergwelt nur begrenzt schwindelfrei genießen können. Die meisten fahren schnell wieder talwärts - falls sie auf den kurvigen, engen Bergstraßen nicht im Stau steckenbleiben.

    In der dünnen Luft geben die Dieselmotoren der zahlreichen Lastwagen, die sich über den Pass quälen, nicht selten ihren Geist auf und sorgen für stundenlange Engpässe. Da kann auch His Holiness der Dalai Lama nicht helfen, der den Touristen von der Frontseite vieler Truck entgegen lächelt - aber mit buddhistischer Gleichmut und ein paar Stunden Verspätung geht es irgendwann immer weiter, talwärts zum Guesthouse von Dolma Chandol. Die Wirtin des traditionell aus Lehm und Holz gebauten Hauses, an dem die buddhistischen Gebetsfähnchen wehen, nutzt die Gunst der Stunde. Sie bringt Doktor Karin morgens nicht nur Cai-Tee aufs Zimmer, sondern zeigt ihr gleich die Zähne. Karin Streit hat verstanden. Sie baut ihre Praxis diesmal im Garten auf.

    Hier gibt es keinen verstellbaren Zahnarztstuhl mit Kopfstütze. Oft sind die Lichtverhältnisse schlecht oder es gibt kein sauberes Wasser. Strom ist ohnehin eher selten. Dann kann Karin Streit ihre tragbare Zahnstation, die in einen großen Metallkoffer gebaut ist, mit Bohrer und Absauggerät, nicht nutzen. Für Dolmas Behandlung braucht sie zum Glück nur eine große Zange. Die Zahnärztin streift ihre Gummihandschuhe über und guckt der 46-Jährigen Frau kurz in den Mund.

    "Bemerkenswert ist, dass es keine Füllungen gibt. Die Zähne, das sind sehr stabile Zähne. Das nennt man auch ein resistentes Gebiss. Das einzige: Sie hat einen leicht lockeren Zahn. - Finger raus, hat sie jetzt wahrscheinlich gesagt, Finger raus aus meinem Mund."

    Karin Streit wird die schmerzenden Wurzelreste eines abgebrochenen Zahnes entfernen. Das ist bei ladkhischen Patienten eines der Hauptprobleme. Karies tritt - auch bei Kindern - seltener auf, als in Europa, weil weniger Süßigkeiten gegessen werden. Eine weitere Besonderheit der Patienten hier sei eine Zahnfleischschwäche. Häufig fallen deshalb gesunde Zähne aus. Das könne, so Streit, mit einseitiger Ernährung zusammenhängen. Manchmal gibt es nur Dal - Linsen - und Reis. Ladakhis sind zum großen Teil Selbstversorger. Besonders in den harten Wintern mit Minusgraden von bis zu 40 Grad ist vitaminreiche Kost Mangelware. Im Sommer ist das anders:

    "Manchmal ist es so, dass, wenn die Ladakhis ihr selbstgezogenes Gemüse essen, dass sie dann ein besseres Abwehrsystem haben und dadurch mehr Spritzen benötigen."

    Auch Dolma braucht eine Betäubungsspritze mehr, als Doktor Karin das von ihren deutschen Patienten kennt. Manchmal sei es schwierig, die richtige Dosis herauszufinden. Denn: "Ein Ladakhi kennt keinen Schmerz", lacht die Zahnärztin und macht sich an die Arbeit.

    "Also, es wird schon etwas schwierig werden. Es sind die Wurzelreste und der Weisheitszahn ganz hinten. Aha, jetzt hat sie aber reagiert und gesagt, das tut ihr weh."

    Kurze Zeit später ist der schlimme Zahn gezogen. Dolma ist sichtlich erleichtert und serviert den traditionellen Buttertee. Das Julee, julee - danke, danke - versteht Doktor Karin noch gut, den Rest übersetzt der ladakhische Helfer Namgyal.

    "Sie sagt, sie wird diesen Zahn jetzt nehmen und auf einem Felsen zermalmen."