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Aschenbecher Meeresgrund

Umwelt.- Vor Kalabriens Küste liegen etliche Boote auf dem Meeresgrund. Für die Mafia, so vermutet die italienische Polizei, ist das eine einfache und kostenlose Methode der Müllentsorgung. Aber dort unten finden sich auch noch ganz andere Abfälle: tonnenweise Zigarettenkippen.

Von Thomas Migge | 26.02.2010
    Mit ferngesteuerten Mini-U-Booten der italienischen Marine wird derzeit der Meeresgrund der Küste Kalabriens abgesucht. Dort vermutet die Polizei versenkte Schiffe. Versenkt von der Mafia, die auf diese Weise illegal Müll beseitigte. Auch atomaren Müll. Jedenfalls ermittelt die Staatsanwaltschaft.

    Auf die Spur brachten Mafia-Aussteiger die Polizei. Sie spricht von bis zu zehn Schiffen. Noch wurden keine atomaren oder sonst wie lebensgefährlichen Rückstände entdeckt, doch Fachleute des staatlichen Energie- und Umwelt-Instituts ENEA fanden etwas anderes: Kippen, jede Menge abgerauchte Zigaretten. Dazu Giacomo Mangiaracina, Mediziner und Biologe an der römischen Universität La Sapienza. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den "cicche", den Kippen:

    "Untersuchungen des staatlichen Umwelt- und Energieinstituts ENEA aus den Jahren 2000 bis 2009 weisen nach, dass das Gros der Müllrückstände auf dem italienischen Meeresgrund aus Kippen besteht. Unser Mittelmeer ist zu einem gigantischen Aschenbecher geworden"

    Die Mitarbeiter des ENEA entnahmen vor den Küsten Italiens 250 Meerwasser-Stichproben. Vor den Küsten weil Untersuchungen erhaben, dass 52 Prozent aller im Meer ermittelten Abfälle aus Hotels und Gaststatten stammen. Die Forschungen des ENEA ergaben, dass acht Prozent der Müllrückstände auf dem italienischen Meeresgrund Plastiktüten sind, neun Prozent Plastikflaschen und sieben Prozent Metalldosen. Mehr als ein Drittel der Müllrückstände im Meer bestehen aus abgerauchten Zigaretten. Ähnliches meldeten Forscher aus den Vereinigen Staaten. nach einer Studie des International Coastal Projects bestehe der Hauptteil aller vor den Küsten der USA ermittelten Müllrückstände aus Zigarettenresten. Wenn die Zigarettenstummel den Hauptmüll auf dem italienischen Meeresgrund ausmachen, vermutet Umweltforscher Mangiaracina, sei das ein deutlicher Hinweis dafür, dass anscheinend tonnenweise Zigarettenstummel ins Meer gekippt werden. Genaue Zahlen kenne das ENEA nicht, nennen aber die Folgen: eine Kippe benötige immerhin bis zu fünf Jahre, um sich im salzigen Meerwasser zu zersetzen. Bis dahin träten zahlreiche Giftstoffe aus.

    Umweltmediziner ermittelten, das beim Rauchen einer Zigarette mehr als 4500 chemische Substanzen austreten, ein großer Teil davon sei giftig und krebserregend. Diese Substanzen werden zum einen durch das Verbrennen des Tabaks freigesetzt und zum anderen durch die Zersetzung der chemischen Zusätze, mit denen der Tabak bei der Zigaretteproduktion behandelt wird. In den weggeworfenen Kippen konzentrieren sich die Giftstoffe auf den Filter und jenen Teil des Glimmstengels, der nicht aufgeraucht wird.

    In eine Restzigarette sind unter anderem Nikotin, Benzol und radioaktives Poloniums enthalten, ein Zerfallsprodukt des Edelgases Radon. Radon in der Atemluft erhöht das Risiko an Lungenkrebs zu erkranken. Auch der Filter, hergestellt aus Zelluloseazetat, ein thermoplastischer Kunststoff, setzt im Meerwasser Giftstoffe frei. Die Teilnehmer eines kürzlich in Rom abgehaltenen Kongresses forderten weitergehende Studien dazu, wie sich von Kippen in die Natur abgegebenen Substanzen auf Tier und Pflanzen im Meer auswirkten. Studien, die bisher noch nicht durchgeführt wurden. Giacomo Mangiaracina:

    "Eine Kippe enthält alle in der intakten Zigarette enthaltenen Giftstoffe. Ist eine Zigarette abgeraucht, verbleiben in der Kippe bis zu 60 Prozent der Gesamtgifte. Wenn also ein Fisch eine einzige Kippe verschluckt, riskiert das Tier eine Vergiftung oder auch eine genetische Veränderung aufgrund der radioaktiven Substanzen."