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Asli Erdogan: "Das Haus aus Stein"
Der spitze Knochen der Angst

Seit 2017 lebt die türkische Schriftstellerin Aslı Erdoğan im deutschen Exil. Denn unter Recep Erdoğan droht ihr als angebliche "Terror-Unterstützerin" lebenslange Haft. Nun liegt ihr wichtigstes Buch "Das Haus aus Stein" auf Deutsch vor. Ein dunkler Gesang über Gefängnishaft und Foltererfahrung.

Von Wolfgang Schneider | 28.05.2019
Zu sehen ist die Autorin Asli Erdogan: und ihr Roman "Das Haus aus Stein"
In der Türkei politisch verfolgt: Asli Erdogan (Autorenfoto: ©Sebastian Willnow/ dpa/ picture alliance; Cover: PenguinKnaus)
"Ist das Schreiben nicht die Kunst, in der Glut zu rühren, ohne sich dabei die Finger zu verbrennen?". So fragt Aslı Erdoğan an einer Stelle des Buches. In ihrem Fall muss man die Frage verneinen. Diese Autorin hält die Glut fest umschlossen in der Hand, strategische Schmerzvermeidung ist nicht ihre Sache.

"Die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Nur das Haus aus Stein ist echt. Nur die Hölle ist echt."
Dunkler Gesang aus der Hölle des Strafvollzugs
Die Schriftstellerin als Schmerzensfrau: Das ist das Rollenmodell für Aslı Erdoğan. Endlose Qual, äußerste Verzweiflung, bodenloser Abgrund, das ist die dunkle Melodie ihres Schreibens.

"Der Mensch muss mit dem Körper schreiben, dem nackten schutzlosen Körper…"
So formuliert die Autorin ihre Poetologie, und auch ihr deutscher Verlag erlaubt sich eine Extraportion Pathos, wenn er im Klappentext und in der Nachbemerkung zu "Das Haus aus Stein" das Martyrium zum literarischen Gütesiegel erhebt. Zur Überhöhung und Mystifizierung des im Original 2009 erschienen Werkes gehört es zudem, dass ihm prophetische Kraft zugeschrieben wird. Die Autorin habe im "Haus aus Stein" ihre eigene Hafterfahrung "vorweggenommen". Ob dieses Pathos trägt - dazu später.
Haus aus Stein - ein Foltergefängnis
Haus und Stein: Der Buchtitel benennt zwei Grundwörter des Menschen. "Stein" ist bei Aslı Erdoğan eine Chiffre für die Härte des Lebens, für die Gefangenschaft hinter dicken Mauern, für das Verstummen und die Gewalt. Der Stein zerschmettert menschliche Glieder. Reales Vorbild für das Haus aus Stein ist ein fünfstöckiges, palastartiges Gebäude in Istanbul, das nach seinem Erbauer im 19. Jahrhundert Sansaryan Han genannt wird. Später wurde es von der Sicherheitspolizei übernommen und als Folterzentrum berüchtigt. Diesem erst 1990 geschlossenen Labyrinth des Schreckens, in dem auch der berühmte türkische Dichter Nâzım Hikmet gefoltert wurde, widmet Aslı Erdogan ihren Text.
Mit expressionistischer Kraft beschreibt die Ich-Erzählerin die verstörende Erfahrung, die Nächte in der engen Zelle mit der urinfleckigen Matratze zu verbringen, während die Geräusche im Hintergrund an den Horror eines Psychothrillers denken lassen:
"Da knallen Absätze, Türen werden zugeschlagen, irgendwo klingelt lange ein Telefon, doch niemand hebt ab. Ein Schrei ertönt, verkümmert zu einem Wimmern, erklingt erneut. Dauert diesmal an. Schwillt an wie eine Lawine, lässt dich an die Wand zurückweichen, in tiefste Dunkelheit. Stammt er von einer Frau, einem Mann, einem Menschen oder einem viel unschuldigeren Wesen?"
Schreien, wimmern, klagen
Dieser Schrei gellt durch das ganze Buch. Die Szene wird dreißig Seiten später noch einmal variiert, wie überhaupt Wiederholungen auch längerer Passagen den Text kennzeichnen. Dadurch wird sein lyrischer Charakter verstärkt, so wird er zum dunklen Gesang. Es geht nicht um einen äußerlichen Realismus des Gefängnisalltags, sondern um dessen Verheerungen in der Seele: die Zerstörung der Identität, des Gedächtnisses und des Zeitempfindens.
Ganz bewusst enthalte ihr Buch den Lesern "handzahme, zur Identifizierung einladende Charaktere" sowie den "Trost des erzählerischen Zusammenhangs" vor, schreibt Aslı Erdoğan im Vorwort. Diese programmatische Verweigerung des Erzählerischen kennt man auch von den ästhetischen Grundsatzdebatten um die Literatur des Holocaust. Aber bei allem "Unsagbaren", das hier umkreist wird, gibt es bei Erdoğan doch einen Glauben an den Sinn des Schreibens. Worte, heißt es, können "einen Stein in eine Melodie" verwandeln. Und tatsächlich liest man hier viele Sätze, die in ihrer dunklen Musikalität an Verse Paul Celans erinnern.
Die einzige Figur, die in diesem Schmerzensbuch halbwegs Umrisse bekommt, bleibt namenlos, wird nur "A." genannt. Es ist ein gebeugter Niemand, eine "fortgewischte" Existenz, ein Ausgestoßener, ein psychisch Kranker mit seinem irren Lachen. Sein Gesicht ist von einer Narbe zerrissen, der Schädel eingedrückt. Er kauert verwahrlost im Dreck vor dem Haus aus Stein: ein ehemaliger Häftling, der auch nach seiner Entlassung nicht loskommt vom Ort seiner Folterung. Schaurig hält er dem Gefängnis die Treue:
"Die Jacke war ihm zu weit geworden, die Hose rutschte ihm von den Hüften, und die Arme und Beine, die er fast nicht mehr bewegen konnte, hingen aus der Kleidung wie verwelkte Blätter. Alle Straßen gehören ihm, doch er geht nirgendwo hin. Verharrte schwankend vor dem Haus aus Stein, wie ein langsam auf und zu klappendes Augenlid."
Ein Gefangener, der nicht loskommt vom Gefängnis
Das sind beklemmende Bilder. Auch von einem verlorenen geliebten Menschen ist immer wieder die Rede, einem Mann, der als Engel mit gebrochenen Flügeln zu einem Leitmotiv des Textes wird. Ist er zu Tode geschunden worden? Oder verkörpert er gewissermaßen die Präexistenz von A.? Für beide Lesarten gibt es Anhaltspunkte. Die Konturen lösen sich in dieser Prosa auf wie in einem Albtraum, der zum realen Seinszustand geworden ist.
Zu konturenlos ist allerdings oft auch das Pathosvokabular, zu oft ergeht sich die Autorin in Formulierungen und Begriffen, die extreme existenzielle Erfahrungen wuchten sollen, aber schnell abnutzen oder schematisch wirken: die Einsamkeit und das Nichts, das Dunkel und die Nacht. Zu oft werden Genitiv-Metaphern wie "die endlosen Strudel des Fürchterlichen" bemüht. Die Bilder stürzen geradezu übereinander:
"Ein von Unendlichkeit erfüllter Wind zerzaust dir die Haare... Auf dem Bauch kriechst du über herzgraue Steine, durch die leeren, kalten Korridore des Gedächtnisses… Wie ein Phantom mit Staub in den Augenhöhlen tastest du dich über Trümmer hinweg, an deinen Knochen hängt in Fetzen die Zeit, klettert als Nichts gewandet deine Wirbelsäule empor, und deine Kinnladen schlagen aneinander."
Wo endet die Schmerzenslyrik und beginnt der Leidenskitsch?
Das ist eine Lyrik des Leidens, die vor Aslı Erdoğans Anspruch eines radikal körperlichen Schreibens doch oft merkwürdig wolkig und umständlich wirkt, eher auf die tiefe Bedeutung als auf das physisch Konkrete zielend. Die reale Gewaltausübung im Foltergefängnis wird dagegen nur angedeutet, wenn einmal von Schlagstöcken die Rede ist oder von dem heißen Schmerz, den die Hiebe mit einer Gürtelschnalle verursachen.
In der gewollten Unschärfe der Beschreibung repräsentiert das "Haus aus Stein" viele Orte, an denen Menschen inhaftiert und geschunden wurden, die ganze Vielfalt der Kerker und Lager auf dieser Welt. Der Besuch im Konzentrationslager Buchenwald im Jahr 2008, den die Autorin im Vorwort schildert, und die Lektüre von Jorge Semprun und anderen Klassikern aus der Bibliothek des Holocaust mag eine ebenso wichtige Inspiration für dieses Buch gewesen sein wie die bedrückende Geschichte der polizeilichen Folter in der Türkei.
Irritierend ist darüber hinaus die metaphysische Dimension des Textes. Jenseits des Schmerzes gibt es für Erdoğan offenbar noch etwas anderes als das Nichts:
"Dein Körper kann nicht mehr verletzt werden, er zittert wie ein gespannter Bogen, wartet an den Toren der Welt auf das letzte Exil… Schließlich wird die Nacht zu Ende gehen, und ein Morgen wird anbrechen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat."
Sind solche Passagen bloße Trostphantasmen des in die äußerste Verzweiflung getriebenen Menschen? Auch die messianischen Bezüge deuten darauf hin, dass das Martyrium des Körpers ein – wie auch immer zu verstehendes – Erlösungsgeschehen in Gang setzen soll. Der Sterbende, der Engel mit den gebrochenen Flügeln, wird zur Christus-Gestalt, und auch der im Wahnsinn versunkene A. bekommt Erlöser-Attribute:
"Wie ein mit den Sternen seiner eigenen Nacht gekrönter Gott nahm er die Mitschuld an der Existenz auf sich. Nahm sämtliche Lügen der Erde und des Himmels auf sich, alle Verbrechen und alle Schreie..."
Bei allem Respekt vor der Autorin, vor ihrem politischen Mut und ihrer bitteren Hafterfahrung sieben Jahre nach Erscheinen dieses Buches – solcher Mystik des Schmerzes lässt sich nur schwer folgen. Und es ist schwarzer Kitsch, wenn sich in einer anderer Passage Henker und Opfer umarmen und, wie es heißt, ihre "Tränen vermischen". Dass Aslı Erdoğan viel bessere Prosa schreiben kann, zeigen die fünf Seiten, die in lakonischem Ton von der Verhaftung eines jugendlichen Taschendiebs erzählen. Vor allem zeigen es die gelungenen, einprägsamen Bilder des Leidens, des Seelenschmerzes und der Feindseligkeit der Welt, die zwischen Passagen von formelhaftem Pathos immer wieder beeindrucken: Bilder wie das "gehobelte Herz" und das "splitternde Kopfkissen meiner Nacht"; wie die Wintersonne, "die am Horizont glänzt wie ein Beil" und die Angst, die wie "ein langer, spitzer Knochen im Bewusstsein" steckt. Dieser Roman, der eher ein langes Prosa-Gedicht ist, hinterlässt zwiespältige Eindrücke.
Asli Erdogan: "Das Haus aus Stein"
aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Penguin Verlag, München. 128 Seiten, 15 Euro