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Astronomie [*]
Die Sternengucker von Kabul

Ibrahim Amiri, ein junger Mann aus Kabul, redet mit Leidenschaft über das Universum. Er ist aktives Mitglied der Astronomischen Gesellschaft Afghanistans. Der Club zählt heute rund 60 Mitglieder. Es könnten mehr sein, doch Aberglaube und die schlechte Sicherheitslage erschweren das Sternegucken.

Von Sandra Petersmann | 13.09.2016
    Eine Sternschnuppe leuchtet am Sternenhimmel.
    Sternschnuppenhimmel (dpa/picture-alliance/Patrick Pleul)
    Für Laien sind es Sätze wie von einem anderen Planeten.
    "Ich baue hier gerade unser 11-Inch-Celestron Schmidt-Cassegrain Teleskop mit einer deutschen äquatorialen Montierung auf. Über diese Fernbedienung wird es dich durch den Himmel führen", erklärt Sternengucker Ibrahim Amiri mit glänzenden Augen.
    Um ihn herum hat sich ein Dutzend Gäste versammelt, die den Mond, Mars, Jupiter und Saturn sehen wollen. Das Teleskop ist eine Spende aus dem Ausland. Es hängt an der Batterie eines Autos. Das Auto steht im großen Innenhof eines Kultur-Cafés im Westen der afghanischen Hauptstadt Kabul. Das Café ist von einer hohen Schutzmauer umgeben. Es ist schwer, in Afghanistan einen sicheren, dunklen Platz zu finden, um ungestört in die Sterne zu gucken, berichtet Yunus Bakshi. Er ist die treibende Kraft der Sternengucker von Kabul.
    Es ist schwer zu erklären, dass das Teleskop keine Waffe ist
    "Wir laufen Gefahr, zum Ziel zu werden von Leuten, die nicht verstehen, was wir da in der Dunkelheit mit diesem Gerät treiben. Die Leute werden nachts schnell misstrauisch. Es ist schwer, an den Straßensperren zu erklären, dass das Teleskop keine Waffe ist."
    In einem Land, in dem Terroranschläge und Gewalt zum Alltag gehören, kann ein Teleskop schnell wie ein Raketenwerfer wirken. Yunus Bakshi hat seine Liebe zur Astronomie in Russland entdeckt. Er studierte in der ehemaligen Sowjetunion englische und russische Literatur. Während des afghanischen Bürgerkriegs lebte er mehrere Jahre in Russland und lernte Kosmonauten kennen. Heute arbeitet der 45-Jährige für die Vereinten Nationen in Afghanistan. Seine Freizeit widmet er den Sternen und der Astronomie.
    "Jeder Mensch hat doch dieses Rätsel im Kopf, wie ist das Universum entstanden, was ist der Sinn des Universums, wie wird unsere Zukunft aussehen. Das sind die Fragen, die mich antreiben, nach Antworten zu suchen."
    Yunus Bakshi stammt aus einer religiösen Familie. Er wuchs in dem Glauben auf, dass Gott die Welt geschaffen hat. Heute bringen ihn die Sterne dazu, die Rolle der Religion und ihre Interpretation zu hinterfragen. Bakshi ist davon überzeugt, dass Astronomie persönliche Horizonte erweitert und Radikalismus bekämpft.
    "Wir müssen das Wissen in Afghanistan verbreiten, denn der Aberglaube ist groß. Wenn eine Sonnen- oder eine Mondfinsternis auftreten, laufen die Menschen hier schreiend auf die Straße und rufen 'Gott ist groß'. Sie begreifen die Finsternis als Strafe Gottes."
    Mitglieder des Astronomieclubs diskutieren über das Sternenbild.
    Mitglieder des Astronomieclubs diskutieren über das Sternenbild. (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann)
    Der Blick in das Universum gibt Amiri Hoffnung
    Die Sternengucker um Yunus besuchen regelmäßig Schulen in Kabul, um Kinder für die Wissenschaft zu begeistern. Doch es ist nicht immer einfach, die Schulleiter vom Nutzen der Astronomie zu überzeugen.
    "Wenn ich in den Himmel gucke, dann stelle ich mir vor, dass irgendwo auf einem der Sterne da oben ein anderer Mensch ist, der sich die Frage stellt, ob es da unten einen anderen Menschen gibt, der über das Leben nachdenkt und sich fragt, was der Sinn des Lebens ist. Durch unser astronomisches Wissen können wir Grenzen überwinden. Wenn du in den Himmel schaust, siehst du keine geographischen oder politischen Grenzen. Egal ob du schwarz oder weiß, muslimisch, christlich oder jüdisch bist, wir teilen uns den Himmel und die Sonne."
    Derzeit hat der Astronomie Club von Afghanistan etwa 60 Mitglieder. Neben Gründungsvater Yunus ist der 26-jährige Ibrahim Amiri das aktivste Mitglied. Er redet über Sterne wie andere junge Menschen über Gadgets, Musik und Kino. Ibrahim wuchs in einem afghanischen Flüchtlingslager im Nachbarland Pakistan auf. 2003 kehrte seine Familie nach Kabul zurück.
    "Die Sterne haben schon immer zu mir gesprochen, mehr als Musik. Es geht mir nicht nur ums Wissen, die Sterne zu entdecken und das Universum zu begreifen ist auch romantisch. Im Endeffekt führen uns die Sterne zu uns selber. Unser Ursprung liegt in diesen Sternen. Die Astronomie ist ein so wichtiges Feld."
    Traum vom Astrophysik-Studium in den USA
    Als Teenager baute sich Ibrahim ein eigenes Teleskop. Er verschlang Bücher und Diagramme, bevor er in Kabul Stück für Stück die nötigen Einzelteile auftrieb. Dann studierte er Physik. Heute arbeitet er als Übersetzer und träumt von einem Astrophysik-Studium in den USA. Schwarze Löcher faszinieren ihn. Saturn ist sein Lieblingsplanet. Auch Ibrahim ist davon überzeugt, dass es gerade in einem kriegszerrütteten Land wie Afghanistan Sinn macht, in die Sterne zu gucken.
    "Wenn dir klar wird, dass du nur auf einem winzigen Planeten lebst, der um einen Stern kreist, und dass es da draußen Milliarden Sterne in unserer Galaxie gibt und dass es Milliarden von Galaxien gibt, das öffnet dein Denken. Das hat meine Sicht auf das Leben und die Welt sehr verändert."
    Laila Haidari schaut an diesem Abend im Innenhof des Künstlercafés im Westen Kabuls zum ersten Mal durch ein Teleskop. Sie erforscht den Mond, kann Krater und Gebirge erkennen. Ihre Augen leuchten mit Ibrahims um die Wette, der das Teleskop für sie mit der Fernbedienung nachjustiert.
    "Du kannst auch im Internet nach Mondbildern googlen. Aber das hier ist anders. Hier siehst du ihn live", sagt Laila, bevor sie ihr linkes Auge zum zweiten Mal gegen das Okular presst. Nach ein paar Minuten des Schweigens huscht ein breites Grinsen über ihr Gesicht.
    "Viele Dichter vergleichen das Gesicht einer Frau mit dem Mond. Aber wenn mehr Frauen die Krater und Narben da oben selber durch das Teleskop sehen könnten, würden sie es den Dichtern verbieten", fasst Laila lachend ihr erstes Rendevouz mit dem Mond über Kabul zusammen.

    [* Anm. d. Redaktion] An dieser Stelle haben wir den Begriff in der Titelzeile korrigiert.