Dienstag, 16. April 2024

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Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen

Was ist ein Atlas? Die meisten werden sich wohl an die Schule erinnert fühlen und an den Diercke-Atlas denken, jenes feste Bildungsgut, das wohl jedes deutsche Schulkind einmal in der Hand gehalten hat. Atlanten sind Bücher, die Übersichtskarten von Ländern, Erdteilen, aber auch von Straßen und Städten versammeln. Alles was sich kartographisch darstellen läßt, findet sich in einem Atlas zusammengefaßt, so auch - wie beim beliebten Wein-Atlas - die Anbaugebiete des köstlichen Kulturgutes. Aber auch die übersichtsartige Darstellung auf Bildtafeln nennt man Atlas, wie zum Beispiel beim Anatomie-Atlas, der gewissermaßen die Regionen des menschlichen Körpers vermißt. Das Ziel dieser Präsentationsform ist der Vergleich, weshalb gerade das im 19. Jahrhundert sich durchsetzende wissenschaftliche Dokumentationsmedium der Photographie zu einem Wuchern von Atlanten geführt hat, die unter anderem Wolken- oder Wellenformationen, aber auch ethnographische und psychologische Aufnahmen von Menschentypen mit statistischer Akribie nebeneinander anordneten.

Michael Wetzel | 25.01.1999
    Was aber ist ein Künstler-Atlas? Sicherlich kein von Künstlerhand entworfenes geographisches Werk, wie man noch für die frühe Neuzeit vermuten könnte, als es Künstlern überantwortet wurde, das neue, erweiterte Weltbild in entsprechenden Karten zu visualisieren. Man kennt andererseits die Tendenz gerade der neueren Kunst, das Buch als Medium der technischen Reproduktion wieder zum Ausdruck individueller Formgebung werden zu lassen: und sei es - wie zum Beispiel bei Anselm Kiefer - durch Übermalen politischer Weltkarten. In bezug auf Gerhard Richters Atlas wird man damit in die Irre geführt. Das so genannte Werk, das in seiner ganzen Fülle auf der letzten Dokumenta in Kassel ausgestellt wurde und jetzt in erweiterter Form vom Lenbach-Museum in München neu präsentiert wird, ist - auch wenn die Ausstellung anstelle eines Katalogs von einer Buchpublikation begleitet wird - als Sprengung der Buchform angelegt. Es handelt sich genau genommen um eine vom Künstler seit Jahrzehnten angelegte Sammlung von über 5000 Photographien, Collagen und Skizzen, die ihm als Fundus für seine malerische Tätigkeit dienen. Also eine Art Privatarchiv?

    Ja und nein, denn obwohl man in vielen der Photographien bekannte Ölbilder Richters wiedererkennt, stellt schon die Auseinandersetzung mit diesen dokumentarischen Vorlagen, ihre Anordnung, Montage, auch ihre Verfremdung einen wesentlichen Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit dar. In diesem Sinne ist auch die Entscheidung zu verstehen, diesen Bereich der scheinbar nur materialen Datensammlung als eigenen Werkkorpus zu begreifen und auszustellen. Erst durch die Zusammenstellung auf Bildtafeln und die räumlich-museale Konstellation derselben in einer veritablen Ausstellung gewinnt das bloße Sammeln von Spuren seine kompositorische Kraft.

    Unübersehbar ist dabei die historische Entwicklung des Interesses. Am Anfang stehen Bilder, ja Schnappschüsse, wie sie sich in jedem privaten Photoalbum finden, daneben typische Presse- oder Kalenderphotos von Berühmtheiten, Stars und Sensationen, aber auch von historisch-dokumentarischen oder kitschig-sentimentalischen Motiven. Nach und nach integriert Richter persönliche Photos von Freunden, von Ina Genzken und seiner Tochter Betty, von sich selbst, von Reisen, auf Streifzügen entdeckten Landschaften und Kuriositäten. Es folgen die komplette Sammlung der Lexikon-Porträts berühmter Persönlichkeiten, die zu den im Museum Ludwig ausgestellten 48 Porträts geführt haben, Luftaufnahmen europäischer Städte, zahllose photographische Studien von Pflanzen, Wolken- und Meeresbildern, Gebirgen und Eisbergen, Stilleben mit den für Richter typischen Konstellationen von Totenkopf und Kerzen oder Blumenarrangements, vorbeifahrenden Zügen, abstrakten Farbkonstellationen, und last not least die ganz privaten Photos, die Richter in den letzten Jahren von seiner Frau Sabine und der Geburt seiner Kinder Moritz und Ella gemacht hat, ergänzt zugleich durch Aufnahmen des neuen Hauses in Köln.

    Strukturiert wird dieses Photomaterial im Sinne der Präsentation nicht nur durch die Anordnung der Einzelbilder zu Tableaus, das heißt ihre Montage zum Gesamtbild einer Schautafel, sondern auch durch vielfältige Bearbeitungen des Materials. So experimentiert Richter schon sehr früh mit den Effekten unscharf aufgenommener Bilder, eine Technik, die dann vor allem bei den Vorstudien zum Zyklus 18. Oktober 1977 in Form von unscharf abphotographierten Pressebildern von RAF-Mitgliedern zum Einsatz kommt. Zwischen den Schnappschüssen, den öffentlichen Bildern der Medien, den verzerrten Reproduktionen und den studierten Bildern von Farnoberflächen und Naturphänomenen gibt es auch Raumskizzen, in die Richter kleine Reproduktionen der Photos perspektivisch hineinmontiert hat, um mögliche Ausstellungsarrangements auszuprobieren. Manche Photographien sind auf den Bildträgern, deren Farbspritzer auf die Spuren der anderen künstlerischen Arbeit verweisen, durch Klebeband grob eingerahmt, wenn ein Ausschnitt für die malerische Umsetzung gesucht wurde.

    Richter hat bei der Wahl des Titels bewußt ein Programm verfolgt. Es geht um den klassifikatorischen Blick, der in der Konstellation zum Ausdruck kommt. Der Künstler als Wissenschaftler, Forscher, als Datensammler und Spurensicherer? Auf jeden Fall zeigt Richter, daß der künstlerische Ausdruck sich heute nicht nur darauf beschränkt, Bilder zu malen, sondern auch andere zu montieren. Eine kunstwissenschaftliche Vorform hat diese Idee schon bei Aby Warburg und seinem Mnemosyne-Atlas gefunden, der durch die Zusammenstellung des Bildmaterials der abendländischen Kunst typische Ausdrucksformeln katalogisieren wollte. Bei Richter geht es aber zugleich um mehr und weniger. Indem er gewissermaßen das Material seines konzeptuellen Gerüstes ausstellt, will er die für die Bildentstehung entscheidenden Analogien und Kontraste sichtbar machen, wie sie nicht nur in der photographischen Reproduktion eine Rolle spielen, sondern auch im seriellen Prinzip des aus Einzelaufnahmen zusammengesetzten Filmbildes. Dabei soll aber kein verborgener Sinn bildlich transportiert werden, weshalb man vergeblich nach einer moralischen Erklärung beim Künstler suchen wird für die als besonders skandalös empfundene Kontrastierung von Bildern aus Konzentrationslagern mit Aufnahmen aus Pornomagazinen. Konstellation heißt auch zufällige, schicksalhafte Begegnung, und nach solchen scheint Richter unablässig im Meer seiner Bilderfluten zu suchen. Von einer Abgeschlossenheit kann bei diesem work in progress jedenfalls nicht die Rede sein. Im Französischen heißt Werk Oeuvre, entsprechend kann man Richters Atlas als Hors d'oeuvre bezeichnen, auch wenn es manchmal ob seiner Mächtigkeit schwer verdaulich scheint.