Hörspiel über das Aushalten der Gegenwart

60 Quadratmeter Hass

29:40 Minuten
Weder der Wellensittich noch Shimon finden im Hörspiel die Freiheit, die sie suchen.
Weder der Wellensittich noch Shimon finden im Hörspiel die Freiheit, die sie suchen. © Chehad Abdallah
Von Juri Sternburg · 12.09.2021
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Die Hölle, das sind die anderen. Bei diesem Familientreffen werden seit Jahren akkumulierter Frust sowie Verachtung füreinander spürbar. Mittendrin: Shimon, der in der Lethargie des Alltags den Sinn vermisst. Ein tragikomisches Hörspiel von Juri Sternburg.
Man hat sich nichts zu sagen bei diesem Familienessen in Devorahs und Shimons Wohnung und wenn doch, will es niemand hören. Es gilt altbekannte Provokationen zu vermeiden, auszuhalten und sie zu ertragen, wo man eben kann. Fotos werden von Devorah für den Besuch ihrer Schwester Chawah samt zum Judentum konvertierten Ehemann Daniel sowie ihrer Eltern aus Kisten gekramt, um danach sofort wieder darin zu verschwinden. Die elfjährige Tochter der Gastgeber hat das Sprechen vor sieben Jahren direkt wieder aufgegeben. So denkt Shimon beim Abendessen: "Warum soll man denn auch was sagen, man wiederholt ja eh nur was alle bereits mitbekommen. Wie kann das nur sein? Der Mensch braucht doch mehr als das hier. Irgendeine Aufgabe, der man nicht gewachsen ist zum Beispiel."
Es ist dieses Aushalten der Gegenwart, das Shimon beschäftigt – die Lethargie des Alltäglichen in einem Leben, in dem nichts passiert. Bestens situiert, eingerichtet, lösen ereignislose Tage einander ab, gehen ineinander über.
Ganz so, wie im Leben eines Wellensittichs, dessen Schicksal das besagter Familie an diesem Abend kreuzt und der sich, kaum hat er die Freiheit gewonnen, nach den Halt und Richtung gebenden Stäben seines goldenen Käfigs sehnt. Vom Großvater eingefangen, findet die kurze Episode seiner Freiheit in einer Pappschachtel ein Ende. "Vielleicht passiert hier nun endlich mal was", denkt sich Shimon, als die Schachtel seiner Tochter überreicht wird.

Ursendung
60 Quadratmeter Hass
Von Juri Sternburg
Regie: Chehad Abdallah
Mit: Anton Weil, Miss Platnum, Taktloss, Kat Kaufmann, Benjamin Lillie, Heide Simon, Fiszel Ajnwojner, Robert Levin, Hayiti
Komposition: Ben Bazzazian
Ton: Jean Szymczak
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2021
Länge: 29'34

Juri Sternburg, geboren 1983 in Berlin, ist Autor, Dramatiker und Journalist. Er erhielt 2018 den "International Music Journalism Award". Seine mehrfach ausgezeichneten Stücke premierten u.a. am Deutschen Theater Berlin, am Maxim Gorki Theater und am Hamburger Thalia Theater.