Donnerstag, 18. April 2024

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Attentat von Halle
Jüdischer Blogger: Ein Anschlag auf uns alle - nein!

Der Anschlag von Halle jährt sich zum ersten Mal. Der Blogger und Podcaster Chajm Guski kritisiert die Rituale und Floskeln der Betroffenheit. "In erster Linie würde uns Ehrlichkeit helfen, dass Politiker sagen: Wir haben keine Ahnung, wie wir im Moment darauf reagieren sollen", sagte er im Dlf.

Chajm Guski im Gespräch mit Christiane Florin | 08.10.2020
Blick auf die Einschusslöcher in der Tür zur Synagoge in Halle/Saale, durch die ein rechtsextremer Attentäter am 09. Oktober 2019 in die Synagoge eindringen wollte.
Die Tür, die standhielt. Mittlerweile wurde sie ersetzt. (picture alliance / ZB / Hendrik Schmidt)
"Ich bin ziemlich sauer auf den Typen, der sich in mein Gedächtnis für Jom Kippur, zumindest mit seinem Namen und seiner Tat - eingebrannt hat, wahrscheinlich bis ans Ende meines Lebens. Ich bin ziemlich sauer auf die Reaktionen darauf, nämlich immer die gleichen Mechanismen zu sehen, die dann greifen."
Das sagte der Blogger Chajm Guski Ende Oktober 2019 in seinem Podcast "Anti und Semitisch". Am 09. Oktober 2020 ist der Anschlag von Halle ein Jahr her. Am Jom-Kippur-Tag hatte ein schwer bewaffneter Mann versucht, in die gut besuchte Synagoge einzudringen. Als er das nicht schaffte, weil die Holztür standhielt, erschoss er auf der Straße und in einem Imbiss zwei Menschen. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter hat vor einigen Wochen begonnen. Die Synagogentür wurde mittlerweile durch eine noch stabilere ausgetauscht.
Blick auf die Synagoge in Halle/Saale.
Protokoll eines Anschlags - Mutmaßlicher Halle-Attentäter vor Gericht
Oktober 2019: Am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, scheitert ein Attentäter daran, in die Synagoge von Halle einzudringen. Danach tötete er zwei Passanten. Nun steht er vor Gericht. Wie konnte es dazu kommen und was sind die Lehren der Tat?
Christiane Florin: Sauer, das ist ein scheinbar mildes Wort. Andere zeigten sich in offiziellen Statements erschüttert, tief betroffen, schockiert. Für die Menschen in der Synagoge war es ein Trauma, das sagen viele Zeuginnen und Zeugen beim Prozess. Was hat sich da in Ihr Gedächtnis eingebrannt?
Guski: Nach wie vor hat sich natürlich das Ereignis an sich in mein Gedächtnis eingebrannt und ich habe natürlich das Trauma, wenn man das so sagen kann, beobachtet. Man hört ja aus der eigenen Blase, sozusagen, was sich in den Menschen tut. Und es hat sich fest eingebrannt, dass das möglich ist in Deutschland so etwas zu machen. Es hat sich aber auch fest eingebrannt, dass die Leute bzw. die Gesellschaft immer danach fragt: Warum? Und: Wie konnte das passieren? Und: Woher kommt das so plötzlich? Und das wird sich eigentlich nach jedem Zwischenfall gefragt.
Florin: Haben Sie Angst, in die Synagoge zu gehen?
Guski: Habe ich Angst, in die Synagoge zu gehen. Ich glaube, die Synagogen – auch wenn man die Sicherheit noch ein bisschen verbessern könnte – sind ja an sich schon ziemlich gut geschützt. Aber jüdisches Leben findet ja auch außerhalb der Synagoge statt und Jüdinnen und Juden müssen ja auch außerhalb der Synagogen agieren mit ihrem Umfeld. Und einen Rund-um-die-Uhr-Schutz für jeden Juden und jede Jüdin ist halt ein bisschen schwierig umzusetzen.
"Es werden immer die gleichen Dinge gesagt"
Florin: Es gab vor einem Jahr Zeichen der Solidarität. Es gab Lichterketten, Kerzen als Symbole dieser Solidarität. Was stört Sie daran, wenn Sie sagen, das sind diese Rituale, die Sie vorhergesehen haben. Und die haben Sie ja vorhergesehen.
Guski: Ich glaube, wir haben diese Rituale, wenn Sie viele Jüdinnen und Juden fragen – die haben schon antizipiert, wie das vor sich geht. Ich glaube, an der Solidarität stört nichts. Es ist nur dieses Ritualisierte daran: Dass es zunächst einen Aufschrei gibt, dann werden möglicherweise Kerzen aufgestellt, dann gibt es eine Demonstration und dann läuft das Thema langsam wieder aus. Und wir haben verschiedene Statements, die auch immer gleich ablaufen. Also: Es werden auch immer die gleichen Dinge gesagt. Also: Es ist ein Angriff auf uns alle. Und: Es soll nie wieder passieren.
Florin: Was ist daran falsch, an "Das ist ein Angriff auf uns alle"?
Guski: Das ist kein Angriff auf die gesamte Gesellschaft. In erster Linie ist es, wenn es Jüdinnen und Juden betrifft, ein Angriff auf Jüdinnen und Juden. Wenn es ein Angriff auf Migranten ist, dann ist es ein Angriff auf Migranten. Und das muss auch so gesehen werden. Und es muss auch so behandelt werden.
Florin: Und warum, meinen sie, wird dann doch gesagt, und was ja vielfach schon geschrieben wurde, was Sie ja gerade schon klargestellt haben – warum, wird dann trotzdem gesagt: Das ist ein Angriff auf uns alle?
Guski: Ich glaube, weil das das Einfachste ist, was man sagen kann. Für mich ist es eine Floskel. Also: Es ist eine Floskel, wie zu sagen: Es ist ein Weckruf. Oder: Jüdisches Leben ist ein Geschenk für Deutschland. Das sind diese Floskeln, die man in aller Regel und sehr häufig hört, die sich aber total abgegriffen haben.
"Ich vermute, man versucht dem Begriff ‚Jude‘ auszuweichen"
Florin: Sie reagieren auf Ihrem Blog mit Humor, mit Sarkasmus. Sie haben so eine Art Bullshit-Bingo bzw. Reaktionen-auf-Antisemitismus-Bingo veröffentlicht. Und unter diesen Bingo-Begriffen steht auch: "jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger". Das wird ja gesagt, um nicht Jüdin oder Jude zu sagen. Da gibt es Hemmungen. Wie lesen Sie dieses "Mitbürgerinnen und Mitbürger"?
 Ein Teilnehmer einer Mahnwache trägt eine Israelische-Fahne vor der Synagoge. Am Abend  des 11. Oktober 2019 hatte die Stadt Dresden, TU Dresden und Kirchen der Stadt nach den Vorfällen in Halle/Saale zu einer Solidaritätsbekundung an der Jüdischen Gemeinde aufgerufen. Foto: Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Anschlag in Halle: Keine Einzeltäter, sondern rechtsextreme Strukturen
Bei einer Gedenkveranstaltung in Halle wurde der Opfer des Anschlags auf die Synagoge gedacht. Seit der Tat werde zwar mehr über Rechtsextremismus gesprochen, sagte die Journalistin Bascha Mika im Dlf. Vor den strukturellen Ursachen verschließe man aber weiter die Augen.
Guski: Nicht nur ich, denke ich, empfinde das als Ausgrenzung. Denn "jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger", das sind erst mal Leute, die holt man künstlich dazu. Das sind keine Leute, die in der Gesellschaft stehen, wenn ich sage "jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger". Dann sind das erst mal andere und die hole ich dann dazu in einem Statement und sage: Jetzt gehört ihr mal dazu. Es sind einfach Jüdinnen und Juden. Es sind Jüdinnen und Juden in Deutschland. Es sind deutsche Jüdinnen und Juden, das darf man ruhig sagen. Wie Sie schon sagten – ich vermute, dass man versucht, dem Begriff "Jude" auszuweichen, weil man irgendwie denkt, der ist noch kontaminiert, was er nicht ist. Man kann das ruhig sagen. Aber das gehört anscheinend zu dem Umgang mit dazu.
Florin: Der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, hat kürzlich gesagt: "Wenn mit jüdische Bürgerinnen und Bürger sagen, dass Sie sich fragen, wann der Zeitpunkt erreicht ist, Deutschland zu verlassen, dass die überhaupt schon an dem Punkt sind, dann ist die Lage schlimm." Was sagt Ihnen ein solcher Satz?
Guski: Ich glaube, das ist nicht das erste Mal, dass der Satz fällt und es ist ja in der Diskussion immer wieder von den gepackten und eingepackten Koffern die Rede. Das wird immer wieder bemüht und es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Zustand der jüdischen Gemeinde … Ich habe mal gehört, das sei ein Lackmus-Test für die gesamte Gesellschaft. Das ist natürlich ein bisschen schwierig, weil Jüdinnen und Juden keine gesellschaftliche Funktion haben, also für die Gesellschaft. Klar haben sie gesellschaftliche Funktionen, die sie ausüben, aber sie haben keine Funktion als Mitteilungsorgan oder so etwas. Das finde ich dann ein bisschen schwierig.
"Ehrlichkeit würde uns helfen"
Florin: Was wünschen Sie sich? Dass anders eingeschritten wird, früher eingeschritten wird? Sie haben jetzt viel kritisiert. Was wäre die bessere Variante?
Guski: Ich glaube, in allererster Linie würde uns Ehrlichkeit helfen – dass Politiker dann auch mal so reagieren: Wir haben keine Ahnung, wie wir im Moment darauf reagieren können, sollen. Wir legen die Karten auf den Tisch und sagen; Wir sind hier an der Stelle auch verzweifelt. Wir können die Sicherheitsmechanismen für die jüdischen Gemeinden natürlich weiter hochfahren, aber wir wissen nicht, wie wir dem gesellschaftlich begegnen sollen. Das fände ich zumindest mal ehrlich. Das wäre vielleicht der erste Schritt, zu sagen: Wir verbessern da etwas.
Florin: Wünschen Sie sich von den Vertreterinnen und Vertretern des Judentums in Deutschland, zum Beispiel vom Zentralrat der Juden in Deutschland, mehr Wut? Weniger verbale Zurückhaltung?
Jüdischer Podcast: "Ein elektronischer Stammtisch"
In ihrem neuen Podcast "Anti&Semitisch" unterhalten sich Juna Grossmann und Chajm Guski über Judentum im Alltag. Religion spielt nur eine Nebenrolle, Kultur und Politik sind wichtiger. Man hoffe auf ein bisschen Empathie der Mehrheitsgesellschaft, sagte Guski im Dlf.
Guski: Ich glaube, im Augenblick, da ist man ja schon relativ deutlich – würde ich sagen, aus meiner Sicht. Natürlich sind die Leute, die keine Funktionen tragen, eher in der Lage, auch mal auszupacken und ein bisschen sauer zu sein. Denn die sitzen ja nachher nicht mit Menschen am Tisch und müssen mit denen verhandeln und über politische Maßnahmen beraten. Da bin ich und andere Bürger, wir sind da natürlich in einer etwas bequemeren Lage, wenn man auch mal austeilen kann. Aber ansonsten, denke ich, ist es natürlich auch ein bisschen eingefahren. Denn der Zentralrat macht viele andere Dinge und in den Medien wird er oft zu Antisemitismus befragt. Und das verursacht häufig das Bild, dass der Zentralrat sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigt. Aber der hat ja auch noch die Fragen und Themen, die sich mit dem täglichen Leben beschäftigen. Die kommen da natürlich nicht vor.
Florin: Verschwörungserzählungen sind massenweise im Umlauf, digital wie analog – auch auf der Straße zu besichtigen, zu hören. Die sind im Kern oft antisemitisch. Wenn Sie so etwas hören, wenn Sie jemandem begegnen, der die verbreitet, widersprechen Sie dann sofort?
Guski: Das kommt auf die Person an. Also: Es gibt Leute, die sind einfach nicht erreichbar. Das merken Sie nach wenigen Sätzen. Die können Sie mit Argumenten nicht mehr erreichen. Und da muss ich dann auch sagen: Da ist mir meine Zeit zu schade für. Wenn es Leute gibt, die erreichbar sind, dann ist das etwas anderes. Dann kann man mit denen möglicherweise noch diskutieren und versuchen, die zu erreichen. Aber wir sehen einfach, dass es viele Menschen gibt, die sind für vernünftige Argumente nicht mehr erreichbar. Also, wenn Sie jetzt noch erklären müssen, warum die Erde keine Scheibe ist, ich glaube, da ist nicht mehr viel zu holen.
"Eingestehen, dass man ein großes Problem hat"
Florin: Morgen wird es in Halle ein umfangreiches Programm geben. Es werden Gedenktafeln eingeweiht, der Bundespräsident wird kommen, der Ministerpräsident, der Oberbürgermeister, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Halle. Was sollte da geschehen, dass die am Ende sagen: Das war jetzt mal besser. Das war ehrlicher, das war aufrichtiger.
Synagoge in Halle: Die Tür, die hielt
Ein Blutbad blieb aus, letztes Jahr beim Anschlag in Halle an Jom Kippur. Denn die Synagogentür hatte gehalten. Die Tür soll nun Teil eines Mahnmals vor dem Gotteshaus werden. Wo die einen an ein Wunder glauben, sprechen andere von Physik.
Guski: Das ist möglich, vielleicht sagt jemand etwas Aufrichtiges und etwas Ehrliches und sagt, wie ich schon sagte: Wir legen die Karten auf den Tisch und sagen, wir sind an der Stelle auch verzweifelt, weil wir ein riesiges Problem haben, dem wir begegnen müssen. Das fände ich ehrlich und tatsächlich aufrichtig.
Florin: Und inwiefern wäre mit öffentlich bekundeter Verzweiflung jemandem geholfen?
Guski: Ich glaube, das wäre der erste Schritt zur Verbesserung der Lage, wenn man sich eingesteht, dass man ein großes Problem hat, kann man das vermutlich anders angehen als wenn man sagt, das ist nicht schlimm. Oder: Wir haben das erkannt und wir arbeiten daran, das zu verbessern. Vielleicht ist das die erste Möglichkeit, da etwas zuheilen.
Florin: Ja, vielen Dank. Ehrliche Verzweiflung, fordert der Blogger Chajm Guski. Seine Sicht der Dinge schreibt er unter der Adresse sprachkasse.de auf. Dort finden Sie auch seine Version des Bullshit-Bingos, über die wir vorhin gesprochen haben. Danke schön.
Guski: Danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.