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Attica Locke: "Bluebird, Bluebird"
Von Rassismus, Hass und Liebe

Attica Locke wirft in "Bluebird, Bluebird" einen analytischen Blick auf Amerikas Süden. Ihr vierter Roman spielt in ihrer Heimat Texas mit seinen offenen Problemen: Rassismus und Verehrung der Konföderierten sowie derer Ideale. Und obwohl er schon 2016 entstand, ist er heute aktueller denn je.

Von Kirsten Reimers | 12.03.2019
Die US-amerikanische Schriftstellerin Attica Locke und ihr neuer Roman "Bluebird, Bluebird"
„Bluebird, Bluebird“ liest sich wie eine Bestandsaufnahme der USA unter Trump, entstand aber noch zur Regierungszeit Barack Obamas (Foto: Mel Melcon / Cover: Polar Verlag)
Geneva Sweet betreibt seit Jahrzehnten am Ortsausgang des fiktiven Städtchens Lark in Osttexas ein Café; es liegt direkt am Highway 59, der geradewegs nach Norden führt, für viele Schwarze aus dem Süden bis heute der Fluchtweg in ein besseres Leben. Das Geneva’s war das erste Café der Gegend, in dem Schwarze einkehren konnten. Am anderen Ende des Ortes findet sich das Eishaus, eine Bar, die Schwarze lieber meiden sollten. Der Geschäftsführer gehört der Arischen Bruderschaft von Texas an, einer rassistischen, neonazistischen Gang, die auch im Drogen- und Waffenhandel aktiv ist. Die Bruderschaft sei schlimmer als der Ku-Klux-Klan, erklärt eine der Figuren, sie sei "der Klan mit Geld und halbautomatischen Waffen".
Das Geneva’s und das Eishaus bilden die entgegengesetzten Pole, zwischen denen Attica Lockes Roman "Bluebird, Bluebird" angesiedelt ist. In der Nähe des Eishauses wurde die Leiche eines Schwarzen gefunden – Michael Wright, in der Gegend geboren und aufgewachsen, inzwischen als Anwalt in Chicago tätig. Wenige Tage später wird Missy Dale, eine junge Weiße, die im Eishaus arbeitete, hinter dem Geneva’s tot aus dem Fluss geborgen.
"Huxley nickte und schob seinen Kaffee weg. 'Erinnert ihr euch noch, wie unten in Corrigan ein weißes Mädchen ermordet wurde? Sie haben fast jeden Schwarzen im Umkreis von dreißig Meilen verhaftet. Haben sie aus Kirchen und Spelunken geholt, aus den Geschäften, die im Besitz von Schwarzen waren, haben jeden, der ihrer Vorstellung von einem Mörder entsprach, verfolgt. (…) Aber wegen des Schwarzen, der letzte Woche ein Stück die Straße rauf ermordet wurde, hat niemand auch nur einen Finger gerührt', sagte Huxley.
'Sie verschwenden keinen Gedanken mehr an den Mann', sagte Tim und warf die fettige Serviette auf seinen Teller. 'Nicht, wenn ein weißes Mädchen tot aufgefunden wird.'
'Merkt euch meine Worte', sagte Huxley und blickte ernst in jedes schwarze Gesicht im Café. 'Jemand wird dafür einfahren.'"
Toter Schwarzer, tote weiße Frau – falsche Reihenfolge
Texas Ranger Darren Mathews irritiert die Reihenfolge der Morde – normalerweise ist es in dieser Gegend anders herum: erst ein totes weißes Mädchen, dann irgendein toter Schwarzer, der dafür verantwortlich gemacht wurde. Darren beginnt, sich in Lark umzuhören. Was zunächst wie ein rassistisch motivierter Mord erscheint, entwickelt ganz andere Dimensionen und zwingt am Ende auch Darren dazu, sich selbst zu hinterfragen.
Darren Mathews ist ebenfalls Schwarzer und stammt wie das männliche Mordopfer aus einer kleinen Stadt in Osttexas. Wie Michael Wright war er in den Norden gegangen, um in Princeton Jura zu studieren. Doch anders als jener brach Darren sein Studium ab. Ausschlaggebend – so berichtet die fiktive Figur Darren Mathews – war der reale Mord an James Byrd Jr. im Jahr 1998 in Jasper, Texas: Drei weiße Männer zogen den 49-jährigen Afroamerikaner an einem Pick-up über eine Asphaltstraße, bis ihm wortwörtlich der Kopf abgerissen wurde. Für die Figur Darren Mathews ein Wendepunkt im Leben: Er beschloss, nach Texas zurückzukehren und Polizist zu werden. Attica Locke lässt ihn erklären:
"Die Marke sollte sagen, das ist auch mein Grund und Boden, mein Staat, mein Land, und ich laufe nicht davon. Ich stehe hier meinen Mann. Meine Leute haben das hier aufgebaut, und wir gehen nirgendwohin."
Geschärfter Blick für die Abgründe der Gesellschaft
In Darren Mathews laufen verschiedene Konfliktlinien zusammen: So steht er einerseits zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Die Familie seiner Mutter ist sehr arm, sie hat den Süden nie verlassen, weil sie kein Geld hatte; seine Familie väterlicherseits hingegen ist reich, sie hat Texas nie verlassen, gerade weil sie über Geld und Grundbesitz verfügte. Die Ehe seiner Eltern war nur kurz, nach dem Tod des Vaters wuchs Darren bei dessen Brüdern auf und erhielt die bestmögliche Schulbildung. Seine Mutter, eine Alkoholikerin, die Darren nur selten sieht, lebt abgerissen in einem Trailer.
Zudem trägt Darren als schwarzer Polizist, der zuvor Jura studiert hat, den Konflikt in sich, ob das Gesetz die schwarze Bevölkerung schützt oder ob es nicht vielmehr etwas ist, vor dem Afroamerikaner beschützt werden müssen – ein Streitpunkt zwischen seinen Ziehvätern, den Zwillingsbrüdern William und Clayton, der eine Polizist, der andere Jurist:
"Für William, den Ranger, war es das Gesetz, das sie rettete, indem es sie beschützte – indem Verbrechen gegen Schwarze genauso zielstrebig verfolgt wurden wie gegen Weiße. Nein, sagte Clayton, der Verteidiger: Das Gesetz ist eine Lüge, vor der Schwarze beschützt werden müssen – ein Regelwerk, das schon damals, als Tinte zum ersten Mal Pergament berührte, gegen sie verfasst worden war."
Eine dritte Konfliktlinie, die Darren in sich vereint, ist die zwischen dem Norden und dem Süden der USA, eine Konfliktline, die noch aus dem US-amerikanischen Bürgerkrieg bis in die Gegenwart hineinreicht. Zurückgekehrt vom Studium im Norden ist sein Blick für den allgegenwärtigen Rassismus des Südens geschärft: Da ist das Café mit dem Namen "Kay’s Kountry Kitchen", geschrieben mit drei K – eine eindeutige Anspielung auf den Ku-Klux-Klan, ein "offenkundiger Akt von Mikroaggression, wie er für Texas typisch war", wie Darren registriert; da ist der Sheriff von Lark, der die Aktivitäten der Arischen Bruderschaft leugnet und versucht, weiße Verdächtige zu decken, so lange es ihm möglich ist. Da ist das strickte Verneinen von rassistisch motivierten Verbrechen durch die Texas Ranger. Da sind die ungeschriebenen Verhaltensregeln, die das Miteinander, das Gegeneinander von Schwarzen und Weißen bestimmen. Und doch ist Darren Mathews ein stolzer Texaner, der seine Heimat liebt.
Über Nacht ein anderes Buch
In dieser Hinsicht hat Attica Locke ihrer Hauptfigur viel von sich selbst mitgegeben. Locke ist Afroamerikanerin; sie ist in Houston geboren und fühlt sich ihrer Heimat Texas tief verbunden – ohne aber die Augen vor den Problemen des Staates zu verschließen: dem offenen Rassismus und der bis heute währenden Verehrung der Konföderierten und ihrer Ideale.
"Bluebird, Bluebird" liest sich wie eine Bestandsaufnahme der USA unter Trump. Doch wie Attica Locke in einem Interview mit dem Guardian erklärt, schrieb sie den Roman bereits im Jahr 2016, also während der Regierungszeit Barack Obamas. Zwar gab es da schon vermehrt rassistische Übergriffe und eine deutlichere rassistische Rhetorik, wie sie im Interview mit Spiegel Online berichtete. Dennoch hoffte sie, über etwas zu schreiben, das bald Geschichte sei. Erschienen ist ihr Roman im Original 2017, als in den USA unter Trump das tatsächliche Ausmaß an Rassenhass offenbar wurde. Ohne dass Attica Locke auch nur ein Wort änderte, wurde ihr Buch über Nacht ein anderes.
Attica Locke macht es sich nicht einfach, sie wirft einen scharfen analytischen Blick auf Amerikas Süden. Ihr Roman bietet keine schlichten Antworten, sondern stellt grundlegende Fragen. "Bluebird, Bluebird" ist ein kluges, sehr differenziertes Buch über Vorurteile und Rassismus sowie ein packender Roman über die unheilvolle Verklammerung von Hass und Liebe.
Attica Locke: "Bluebird, Bluebird"
Aus dem Englischen von Susanna Mende
Polar Verlag, Stuttgart. 329 Seiten. 20 Euro