Donnerstag, 25. April 2024

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Audre Lorde: "Sister Outsider"
Kreativer Reiseführer durch das Dickicht der Identitätsdebatten

Die karibisch-amerikanische Schriftstellerin Audre Lorde fand in der Sprache das wichtigste Werkzeug, um gegen Rassismus und Sexismus zu kämpfen. Sie war immer zuerst Dichterin, aber gerade ihre Prosa hat Potential Brücken zu schlagen - weit über die Grenzen Amerikas oder des Feminismus hinaus.

Von Anna Auguscik | 27.04.2021
Audre Lorde: "Sister Outsider" Zu sehen sind ein Porträt der Autorin und das Buchcover.
"Sister Outsider" von Audre Lorde - die oft retro- und introspektiven Einblicke sind eng verwoben mit der politischen US-Geschichte im 20. Jahrhundert (Cover: Hanser Verlag / Foto: Audre Lorde Papers, Spelman College)
Audre Lorde, gebürtige US-Amerikanerin und Tochter karibischer Einwanderer, wusste gut, was Marginalisierung bedeutet. Die zentralen Begriffe der "cultural studies" waren für sie gelebte Praxis. So beginnt sie einen programmatischen, 1980 am Amherst College in Massachusetts gehaltenen Vortrag mit dem Titel "Alter, Race, Klasse und Gender" mit dieser Selbstbeschreibung:
"Als neunundvierzigjährige Schwarze lesbische feministische Sozialistin, Mutter von zwei Kindern – eines davon ein Junge – und Schwarze Partnerin einer weißen Frau finde ich mich meistens in irgendeiner Gruppe wieder, die vermeintlich anders ist, abweichend, zweitklassig, einfach falsch."
Eine Illustration zeigt eine schwarze, zum Himmel erhobene Faust auf rosa Hintergrund.
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Der Charme, mit dem Lorde ihr Anderssein hier offenlegt, dürfte entwaffnend gewirkt haben. Zudem setzt die Autorin einen Meilenstein für die Theorie der Intersektionalität. Was wie die Zerstückelung ihres Selbst wirkt, steht für den Anfang eines ehrlichen Dialogs. Die Bezeichnung als weiß oder Schwarz ist kein bloßer Marker der Hautfarbe, sondern steckt einen politischen Raum ab. Schwarz wird in der Übersetzung von Eva Bonné und Marion Kraft übrigens großgeschrieben, wie im englischen Original. Weiß dagegen klein und kursiv. So wird Sprache eingesetzt um asymmetrische Machtansprüche umzukehren.

Rassismus und Homophobie

Audre Lordes Selbstdefinition als Schwarze Frau grenzt sich damit ab von der Definition weißer Frauen auf der einen Seite und Schwarzer Männer auf der anderen, eröffnet aber auch die Möglichkeit von Allianzen. Gleich im ersten Aufsatz des Bandes "Sister Outsider" greift Lorde den Leitsatz des Feminismus auf, wonach das Persönliche immer auch politisch ist. Sie wendet sich explizit an weiße Frauen:
"Rassismus und Homophobie bestimmen hier und heute unser aller Leben. Ich fordere jede Einzelne von euch eindringlich auf, sich an den Ort des tief in eurem Inneren verborgenen Wissens zu begeben und euch eurem Schrecken und eurer Abscheu vor Verschiedenheit zu stellen. Seht, wessen Gesicht sie tragen. Dann können wir unsere Entscheidungen endlich im Licht des Persönlichen und des Politischen treffen."
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Schmerz wird in Sprache verwandelt

Hass und Leid sind unproduktiv, Wut und Schmerz dagegen lassen sich umformen, so Audre Lordes Botschaft. In ihrer Vorlesung vor den Mitgliedern der Modern Language Association, dem wichtigsten Berufsverband amerikanischer Sprach- und Literaturwissenschaftler, macht Lorde diesen Prozess noch einmal deutlich. So nutzt sie die persönliche Erfahrung ihrer Krebsdiagnose, und beschließt, auch ihre Krankheit kreativ zu verarbeiten:
"Dass ich heute hier bin und zu euch spreche, ist mein Versuch, das Schweigen zu brechen und einige der Unterschiede zwischen uns zu überbrücken. Denn nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen. Und es gibt so viel Schweigen, das gebrochen werden muss."

Vom Nutzen der Erotik

Dieser alchemistische Prozess zwischen dem Gefühlten und dem Gesprochenen musste mühsam erlernt werden. Er brauchte auch Energie. Die Quelle für diese Energie findet Lorde in der Erotik, wie die lesbische Schriftstellerin in dem Kapitel "Vom Nutzen der Erotik" beschreibt.
Zu Beginn ihrer Laufbahn bediente sich die fast blinde aber hochbegabte junge Frau vor allem der Dichtung. Erst nachdem ihre Stimme in der kulturellen Bewegung des Black Art Movement bekannt wurde, definierte Lorde ihre Poetik auch mithilfe der Prosa, so in dem 1977 publizierten Aufsatz "Lyrik ist kein Luxus":
"Zu dichten ist eine Möglichkeit, das Namenlose zu benennen, so dass es gedacht werden kann. Indem wir unsere Gefühle wahrnehmen, akzeptieren und ehrlich erforschen, werden sie zu unserem Tempel und zum Laichgrund für radikale und gewagte Ideen. Sie werden zu einer Zuflucht für unsere Unterschiedlichkeit, die für Veränderungen und für wirksames Handeln unabdingbar ist."

Introspektion und Reisebericht

Die oft retro- und introspektiven Einblicke in das Werden Audre Lordes sind eng verwoben mit der politischen Geschichte US-Amerikas im 20. Jahrhundert. Den Rahmen der englischen Originalausgabe des Essaybandes bilden zudem zwei Reiseberichte, 1976 in die Sowjetunion und 1983 nach Grenada. Im ersten entpuppt sich Lorde als gewitzte Beobachterin der sowjetischen Fassade. Etliche Reiseführer halten sie auf Distanz. Als Lorde dann glaubt, in einer Einheimischen eine Verbündete gefunden zu haben, erfährt sie eine erotische Abfuhr, an die sie sich mit offener Selbstironie erinnert:
"Sie hieß Toni und gehörte zum Volk der Yupik. Sie stammte aus jenem Teil Sibiriens, der an der Beringsee und Alaska am nächsten liegt. Toni sprach kein Englisch und ich kein Russisch, aber an dem Abend hatte ich das Gefühl, über den Umweg unserer Dolmetscherin mit ihr zu flirten. Bevor sie aufstand, küsste sie mein Porträt auf dem Buchumschlag. Sie bedankte sich bei allen für den Abend und verschwand dann mit dem lettischen Delegierten, einem Mann aus Riga."

Konfrontativ und kreativ

In der englischen Ausgabe steht dieser Tagebucheintrag am Anfang, was bewirkt, dass wir einen viel intimeren Zugang zu den folgenden Texten bekommen. Die deutsche Ausgabe dagegen endet mit diesen beiden Reisen. Das verweist bereits auf Audre Lordes Aufbruch nach Deutschland.
"Sister Outsider" ist ein konfrontativer und kreativer Reiseführer durch das Dickicht der Identitätsdebatten. Geschrieben wurde all das Jahrzehnte bevor die entsprechenden Diskurse in aller Munde waren. Die Streitbarkeit und der Optimismus von Audre Lordes Schriften und Vorlesungen sind beeindruckend, bis heute.
Audre Lorde: "Sister Outsider"
Aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft
Mit einem Nachwort von Nikita Dhawan und Marion Kraft
Hanser Verlag, München, 256 Seiten, 20 Euro.