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Auf Beobachterposten

"Wozu Gesellschaft?" Diese Frage scheint absurd, denn wir haben ja keine Wahl. Der Titel von Dirk Baeckers Aufsatzsammlung meint jedoch etwas anderes, nämlich den Versuch, sehr unterschiedliche Phänomene unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Funktion ins Visier zu nehmen.

Von Joachim Büthe | 07.02.2008
    Zu diesem Zweck, so schreibt Baecker, habe er versucht, sich nicht restlos der Faszination durch den jeweiligen Sachverhalt zu ergeben, sondern an einem "Formular" festzuhalten. Das klingt zunächst furchterregend, kann aber ein Instrument der Erkenntnis sein.

    "Ich habe ein Formular verwendet, dass darin bestand, zu jedem x-beliebigen Gegenstand fünf und nur fünf Fragen zu beantworten. Worin besteht das Medium, worin besteht das Netzwerk, worin besteht die Funktion, worin könnte der Knoten des jeweiligen Gegenstandes bestehen? Und zwar aus dem Grund, dass ich bei der Bearbeitung von Phänomenen, ob es die Frage der Elite ist, ob es die Frage der gewerkschaftlichen Rolle ist, mich immer wieder in der Uferlosigkeit des jeweiligen Gegenstands verlor, nicht genau wusste, was ich eigentlich wissen wollte, nicht genau wusste, was ich eigentlich fragen wollte, nicht genau wusste, wohin ich eigentlich gucken wollte, und indem ich mich an dieses Formular, an die vorgegeben Fragen hielt, sehr viel präziser gucken konnte. Mit anderen Worten, was mich verblüfft, zuweilen auch irritiert hat, ist, dass man erst dann genauer gucken konnte, wenn man sich an bereits bekannte, bereits erprobte Fragen hält, auf Deutsch gesagt, wenn man eine bestimmte Brille aufsetzt."

    Dass diese Brille beim Luhmann-Schüler Baecker systemtheoretisch getönt ist, muss eigentlich nicht erwähnt werden. Von einem kontraintuitiven Verfahren spricht Baecker. Guter Geist ist trocken, sagt Luhmann. Und so bleibt der Soziologe selbst bei einem emotional so aufgeladenen Phänomen wie der Gewalt staubtrocken. Auch wenn die Fetzen fliegen, er kann den neutralen Beobachterposten nicht aufgeben.

    "Und die Beobachtung, die Soziologen dort haben, ist, dass Gewalt nicht nur physisch ausgeübt wird, sondern gleichzeitig innerhalb der Kommunikation, in die sie eingebettet ist, auch ihre eigenen Effekte vorführt, ja gleichsam vor sich selbst warnt. Deswegen habe ich mit einem Begriff gearbeitet, der darauf hinauslief zu sagen, dass jede physische Gewalt ein symbolisches Element hat, dass jeder Schlag auf den Tisch oder in das Gesicht des Gegenübers immer die Botschaft enthält: Ich könnte noch fester schlagen. Wenn du aber jetzt nachgibst, höre ich auf zu schlagen. So dass auch der, der geschlagen wird, in der Situation ist zu entscheiden, ob die Schlägerei weitergeht oder ob er nachgibt und damit der Schlägerei ein Ende macht, was eine Option ist die nicht einfach zu entscheiden ist. Dieses Phänomen der Selbstmoderation eines Extremphänomens im gesellschaftlichen Verkehr, das hat mich in diesem Aufsatz interessiert."

    Es bleibt eine schmerzhafte Angelegenheit, aber wir wissen jetzt, warum sie in der Regel nicht tödlich ausgeht. Eine weitaus erfreulichere Angelegenheit, zumindest aus meiner Sicht, ist die Kunst. Auch ihr, genauer gesagt der Funktion des Systems Kunst innerhalb der Gesellschaft, ist Dirk Baecker auf der Spur.

    "Die Antwort war dann die zu sagen: Kunst ist das System, das den Mitgliedern der Gesellschaft vorzuführen versucht, dass Wahrnehmung uneindeutig ist. Dass wenn man auf die Bühne schaut und glaubt, das Geschehen zu erkennen, das sich dort abspielt, man sehr daneben liegen kann, so dass die Mehrdeutigkeit oder die Ambivalenz der Kunst, eine ganz präzise und zwar eindeutige Funktion hat. Nämlich die Wahrnehmung auf sich selbst zurückzubiegen, dem Betrachter zu sagen, du glaubst zwar, dass du siehst, was du siehst, aber wenn du genauer hingucken könntest und ein Kenner des Theaters, der Bildenden Kunst, zeigt dir, wie man genauer hingucken kann, dann würdest du sehen, dass du gar nicht gesehen hast, was du eigentlich sehen könntest. Und dieses verdutzt Machen des Betrachters, dieses Irritieren des sonst viel zu schnell einsetzenden Wahrnehmungsvorgangs, das könnte, so eine soziologische Vermutung, die Funktion der Kunst in der Gesellschaft sein."

    Wenn diese Vermutung zutrifft, dann könnte sie zumindest erklären, warum die Mehrheit in dieser Gesellschaft, getreu dem Dylanschen Motto "Don't think twice, it's allright" einen großen Bogen um die Kunst macht. Wozu Gesellschaft führt in gewisser Weise den Alltag des Soziologen vor, die theoretische Arbeit an den unterschiedlichsten Phänomenen der Gesellschaft. Die Studien zur nächsten Gesellschaft gehen darüber hinaus. Sie wagen sich auf das Gebiet der Prognose, denn die nächste, wesentlich durch den Computer bestimmte Gesellschaft, ist erst in Umrissen erkennbar. Baecker nimmt, in der Nachfolge von McLuhen und Kittler, eine Epocheneinteilung vor, die von der prägenden Bedeutung der Vermittlungsmedien ausgeht: Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer. Prägend heißt jedoch nicht determinierend. Dazu sind gesellschaftliche Systeme zu komplex. Vor allem aber führen die jeweils neuen Medien einen Sinnüberschuss mit sich, mit dem die Gesellschaft zunächst überfordert ist.

    "Das ist der Ausgangspunkt. Jedes neue Medium konfrontiert die Gesellschaft mit einem Sinnüberschuss. Das ist zunächst einmal eine Auseinandersetzung mit den Ökonomen, weil die Ökonomen davon ausgehen, mit jedem neuen Medium sinken die Transaktionskosten der Kommunikation. Alles wird leichter, alles wird schneller, alles wird verständlicher."

    Von beiden Aspekten kann auch der gemeine Computerbenutzer ein Lied singen. Er hat die Beschleunigung durch den Computer erfahren, und er weiß, dass er nur einen Bruchteil der Möglichkeiten seines Computers zu nutzen in der Lage ist. Doch das ist nicht das Entscheidende. Der Sinnüberschuss zeigt sich vor allem darin, dass der Computer sich auf eine Weise in unsere Kommunikation einmischt, die von uns nicht mehr zu kontrollieren ist.

    "Das heißt, der Computer beteiligt sich an der Kommunikation, bringt ein für den Benutzer des Computers nicht kontrollierbares Gedächtnis in die Kommunikation ein und zwingt daher den Benutzer, ob das nun der Wertpapierhändler oder der Arzt am Diagnosegerät, zwingt den Benutzer dazu, die Frage zu entscheiden, mache ich etwas, das mir der Computer auf seinem Bildschirm zeigt, das ich machen soll oder mache ich es nicht? Das heißt, angesichts des Umstands, dass kein Benutzer mehr kontrollieren kann, mit welchen Rechenergebnissen und mit welchen Daten der Computer zu welchen Ergebnissen kommt, sind in der komplett neuen Situation eines geradezu aus der Luft zu greifenden Vertrauens, das der Benutzer braucht, um zu sagen okay."

    Arbeiten ist gefährlich, heißt einer der Aufsätze dieses Bandes, und das kann man unter dem Gesichtspunkt der Sinnüberschussproduktion so sehen. Dirk Baecker, auf Luhmann fußend geht davon aus, dass jede Epoche eine Form gefunden hat, die den Umgang mit diesem Problem ermöglicht.

    "Es gibt pro Epoche, pro Medienepoche der Gesellschaft, immer nur eine Kulturform, die in der Lage ist, mit diesem Sinnüberschuss umzugehen. Das war für die Moderne die Figur des unruhigen Gleichgewichts, die möglicherweise von Descartes am präzisesten formuliert worden ist. Und das könnte für die nächste Gesellschaft die Figur der Form selbst sein und zwar so, wie sie von George Spencer Brown, einem englischen Mathematiker, entwickelt worden ist, der unter einer Form, die Zweiseitenform oder auch Mehrseitenform einer Unterscheidung versteht, die das Phänomen beschreibbar macht, dass wir beim Benennen von Sachverhalten spätestens von einem Beobachter zweiter Ordnung, der wir selbst sein können, darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir einen Sachverhalt nur beobachten können, wenn ihr unterscheiden von etwas Anderem, das wir gleichzeitig nicht mit beobachten können."

    Das klingt abstrakt und ist es auch. Am anschaulichsten wird die Figur der Form in Baeckers Aufsatz zum Medientheater, einer Versuchsanordnung, in der die Form des Handelns sich vor die herkömmliche Dramaturgie schiebt. Ob sich mit dem Brownschen Formbegriff der Umgang mit dem Sinnüberschuss beschreiben lässt, wissen wir ohnehin noch nicht.

    "Das ist eine Art Wette, die der Theoretiker da formuliert. Könnte es sein, dass wir ausnahmsweise mal auf dem richtigen Dampfer sind und hier etwas in der Hand haben, das geeignet ist, mit den Problemen, die wir jetzt haben, auch umzugehen?"


    Dirk Baecker: Wozu Gesellschaft?
    Kadmos Kulturverlag, geb., 19,90 Euro

    Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft
    Suhrkamp (stw 1856), kart., 10 Euro