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Auf Bewährung

Sie nannten ihn "Samurai", doch er war nur ein Hooligan unter vielen, bis zum bis Juni 1998. Gemeinsam mit anderen WM-Hooligans prügelte Frank Renger den französischen Gendarmen Nivel ins Koma, Renger wurde zur nationalen Schande. Heute ist sein Spitzname "Betreuter Samurai" - der Geläuterte engagiert sich in einem Revierverein.

Von Friederike Schulz | 13.01.2011
    Auf dem Ascheplatz von TuRa 86 kicken sechs junge Männer einen Ball hin und her: Zwei andere joggen am Zaun entlang: das abendliche Training der Elitetruppe des Essener Traditionsvereins - die Kreisliga A-Mannschaft. An der Bande am Spielfeldrand lehnt ein rundlicher kleiner Mann mit Glatze in schwarzer Trainingshose: Frank Renger, 40 Jahre alt. Neben ihm ein Kasten mit Wasserflaschen - als ehrenamtlicher Betreuer kümmert er sich beim Training um die Getränke. Das schwarze T-Shirt spannt über Rengers Bauch, auf dem Rücken der weiße Aufdruck "Betreuer Samurai": der Spitzname aus alten Zeiten, als er mit einem Samurai-Schwert im Kofferraum zu Auswärtsspielen von Schalke fährt und sich mit Hooligans der gegnerischen Mannschaft prügelt.

    "Ich habe immer so rumgesponnen und gesagt: Das benutze ich, ich schlage hier die Köpfe ab von den anderen. Das war aber mehr auf einen Joke raus. Die Jungs haben mir dann diesen Namen Samurai verpasst. Mit meinen Worten vor 15 Jahren: Es war einfach nur geil. Adrenalin wird hochgepumpt. Wenn's halt zu einer Ausschreitung kommt. Der gegnerische Mob kommt, wir kommen. Und es passiert halt einfach."

    Eine tiefe Narbe auf der Stirn erinnert noch an diese Zeit - dennoch fällt es schwer zu glauben, dass dies die Vergangenheit des freundlichen kleinen Mannes mit den Lachfalten und Grübchen sein soll. Anfang der 90er-Jahre ist es, als der gelernte Bäcker vom Sauerland nach Gelsenkirchen zieht. Dort lernt er eine Clique von Schalke-Fans kennen und kommt durch Zufall mit Hooligans in Kontakt.

    "Ich bin halt in die Szene reingerutscht. Ich bekam bei einem Spiel gegen Borussia Mönchengladbach bei Fanausschreitungen, ich war ein normaler Fußballfan, einen Regenschirm vor den Kopf. Seitdem habe ich gesagt: Ich mache da mit und musste mich dann halt auch beweisen, dass ich was drauf habe."

    Fast jedes Wochenende prügelt sich Frank Renger fortan im Namen von Schalke, ernsthaft verletzt wird niemand - bis Juni 1998, als die Gruppe zur WM nach Lens fährt. Frustriert, weil sie keine Karten haben, suchen die Männer die Konfrontation mit englischen Fans. In einer engen Straße treffen sie auf drei Polizisten. Zwei der Beamten können fliehen, der dritte, Daniel Nivel, fällt hin, die deutschen Hooligans stürzen sich auf ihn und prügeln ihn ins Koma.

    "Normal ist der Ehrenkodex gewesen: Personen, die auf dem Boden liegen, da wird nicht nachgetreten und auch nicht bei Polizeibeamten. Zu dem Zeitpunkt, weil die Stimmung schon so aufgeheizt war, konnte ich nicht raus kristallisieren, dass das ein Beamter war. Ich habe da rein getreten und bin dann weggelaufen. Ich habe jetzt keine Glücksgefühle dabei gekriegt, dass ich da zugetreten habe, es war einfach situationsbedingt, weil alle getreten haben."

    Einen Monat später wird Renger verhaftet - jemand hat ihn auf einem Foto in der "Bild"-Zeitung erkannt. Zeugen sagen, die Männer hätten sie an Hunde erinnert, die sich in ein Opfer verbeißen. Der Staatsanwalt spricht von "besonderer Gefühlskälte". Im Gerichtssaal sitzt Daniel Nivel apathisch neben seiner Frau, er kann kaum noch sehen, sein Gehirn ist so stark geschädigt, dass er nur wenig von seiner Umwelt wahrnimmt. Renger steht auf, entschuldigt sich. Dass die Familie ihm nicht verzeihen kann, versteht er. Dass man ihn gefasst hat, betrachtet er heute als Glück.

    "Denn was wäre gewesen, wenn man mich nicht erwischt hätte und ich nicht meine Haft verbüßt hätte? Wäre ich heute immer noch in der Szene? Wäre ich bei der WM jetzt in Südafrika dabei gewesen? Bei der Europameisterschaft in der Schweiz? Oder 2012 in Polen und der Ukraine? Ich weiß es nicht."

    Die Aufwärmphase ist beendet, die Spieler gehen zur Bande, begrüßen Frank Renger mit Handschlag.

    "Wir sind eine Familie."

    Dass man ihn noch mal so herzlich in einem Fußballverein aufnimmt, hätte Renger nicht zu träumen gewagt, als er 2002 freikommt. Seine Frau hat ihn verlassen, seine Familie ist zerstritten darüber, ob er noch zu ihnen gehört. In Essen lernt er seine heutige Lebensgefährtin kennen. Deren Sohn kickt regelmäßig bei TuRa 86. Renger begleitet ihn häufig, fasst schließlich den Mut und fragt den Geschäftsführer, ob er als ehrenamtlicher Betreuer arbeiten darf. Der muss erst mal schlucken, als er von der Vergangenheit des freundlichen kleinen Mannes erfährt, dann sagt er ja und besorgt ihm sogar noch einen regulären Job als Bäcker in der Konditorei eines Freundes. Über seine Zeit als Hooligan spricht Renger offen mit den Vereinsmitgliedern und auch mit Journalisten, damit die Öffentlichkeit erfährt, dass auch ein Hooligan sich ändern kann. Die Wochenenden verbringt Renger bei TuRa oder bei seiner alten Liebe, auf Schalke. Seit zwei Jahren darf er wieder ins Stadion und begegnet dort auch manchmal seinen früheren Freunden aus der Schlägertruppe.
    "Ich sehe zwar auch noch bei Spielen meine alten Kameraden. Man grüßt sich, man unterhält sich kurz, aber sonst passiert da nichts."