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Auf dem Sprung über die 50-Prozent-Marke

Kraftwerkstechnik. – Kohlekraftwerke wandeln immer noch weniger als die Hälfte der Energie, die die Kohle theoretisch zur Verfügung stellt, in Strom um. Daher sind Anlagentechniker rund um die Welt bemüht, den so genannten Wirkungsgrad der Anlagen über die magische Grenze von 50 Prozent zu hieven. Chancen haben hier hauptsächlich Steinkohlekraftwerke, doch auch bei diesen müssen alle Register gezogen werden. Ein Gelsenkirchener Projekt versucht es mit erhöhten Dampftemperaturen.

Von Volker Mrasek | 14.07.2006
    Wer unbedingt meint, dass er sich ein Kohle-Großkraftwerk von innen anschauen muss, sollte hart im Nehmen sein. Dort, wo die Kohle verbrannt wird, im Kesselhaus, sind Lärm und Hitze ständige Begleiter ...

    "Ich schätze mal, dass wir hier so lockere 40 Grad haben."

    Und dann muss Christian Folke auch noch einen Helm tragen. Strikte Sicherheitsbestimmung im Kraftwerk Gelsenkirchen-Scholven! Die Anlage im Ruhrgebiet gehört dem Energiekonzern E.ON, wo Folke als Ingenieur beschäftigt ist. Mit Helm und Schweißperlen auf der Stirn bewegt er sich durch den Kraftwerksblock F. Der allein hat schon 700 Megawatt. Genug Leistung, um eine Großstadt mit Strom zu versorgen ...

    "In der Mitte steht der Kessel, also dieses hohe Haus, in dem innen drin die Kohle verbrennt. Und drum herum sind Rohrleitungen angeordnet. Und verschiedene Ebenen, auf denen man halt rumgehen kann oder kontrollieren kann: Was passiert im Kessel? Und was passiert mit meinen Rohrleitungen? Sind die noch alle dicht? Funktionieren meine Ventile noch alle? Das ist es eigentlich."

    Im Prinzip ist ein Kraftwerk nichts anderes als ein riesiger Wasserkocher. Die Kohle wird verbrannt, um Wasser zu verdampfen, und das strömt in eine Turbine mit angeschlossenem Strom-Generator. Das ist auch im Scholvener Block F nicht anders. Doch hier zwacken die Ingenieure eine gewisse Menge Wasserdampf aus dem normalen Kreislauf ab und überhitzen ihn, von den üblichen 600 auf 700 Grad Celsius. Auch wenn das unspektakulär klingt: Es ist die Technik für das Kohle-Kraftwerk der nächsten Generation. Durch höhere Dampftemperaturen beim Eintritt in die Turbine soll ein Wirkungsgrad von 50 Prozent bei der Elektrizitätserzeugung erzielbar sein. Denn je heißer der Dampf, je mehr Energie also in Turbine und Generator fließt, desto größer ist auch die Stromausbeute. Heutige Kohlemeiler bringen es bestenfalls auf einen Wirkungsgrad von 45 Prozent

    "So! Der Kessel wird etwas im Unterdruck gefahren, das heißt er zieht Luft von außen."

    "Da drin, in dem Höllenfeuer, da ist unser Testverdampfer. Und da drin ist auch unser Testüberhitzer."

    Comtes700 heißt die Versuchsanlage in Scholven. Das steht für Komponententest bei 700 Grad Celsius. Im Mittelpunkt steht nicht so sehr die Prozesstechnik, sondern die Materialforschung. Die Frage ist: Gibt es überhaupt Werkstoffe, die auf Dauer die höheren Dampftemperaturen und Arbeitsdrücke in einem 700-Grad-Kraftwerk aushalten? Seit genau einem Jahr ist die Testanlage jetzt in Betrieb und Projektleiter Folke ziemlich zufrieden:

    "Die positive Betriebsnachricht, die ich so weit geben kann, ist, dass wir diverse tausend Betriebsstunden mit 700 Grad schon erreicht haben."

    Die Kernfrage ist: Welche Stähle benutzt man für Leitungen und Ventile? Bisher sind Legierungen aus Eisen und Chrom das Material der Wahl im Kraftwerksbau. Doch sie würden höhere Heißdampftemperaturen nicht verkraften, wie Ludger Mohrbach sagt. Der Ingenieur ist Forschungsleiter beim Verband für Strom- und Wärmeerzeugung, VGB Power Tech, in Essen:

    "Für 700 Grad brauchen Sie hochspezialisierte nickelbasierte Stähle, also mit einem hohen Nickelanteil. Weil Nickel speziell diese Temperaturen besser aushält als Eisen. Und diese Stähle sind im Labormaßstab auf solche Temperaturen und Drücke qualifiziert, aber es gibt noch keine Anlage, die weltweit so etwas in Betrieb gesehen hat."

    In Scholven müssen die Nickel-Stähle jetzt erst einmal zeigen, ob sie den Belastungen in der Praxis standhalten. Der Langzeit-Test soll noch bis 2009 dauern. Die bisherigen Erfahrungen sind so gut, dass E.ON bereits daran denkt, ein Demonstrations-Kraftwerk mit 700-Grad-Technik zu bauen. Nach den gegenwärtigen Planungen könnte es 2015 in Betrieb gehen. Die ersten kommerziellen Anlagen hält Christian Folke so um das Jahr 2020 herum für möglich:

    "Der VGB, der Projektkoordinator ist, und E.ON Kraftwerke haben also eine Reihe von Anfragen. Auch aus dem asiatischen Raum, aus USA und so weiter. Es sind also eine ganze Reihe weltweit von Kraftwerksspezialisten, die sich für die Anlage interessieren."

    Das Fernziel ist, einmal eine 700-Grad-Anlage mit zusätzlicher CO2-Abtrennung zu haben - also ein Kohle-Kraftwerk, das die Ressourcen stärker schont als heute und das Klima nicht mehr belastet. Dazu müßte das Kohlendioxid aber sicher unterirdisch entsorgt werden, in alten Gaslagerstätten zum Beispiel. Ob das wirklich funktioniert, und ob so viel Speicherkapazität überhaupt zur Verfügung steht - das kann heute noch niemand sagen.