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Auf dem Weg zu neuen Lösungen?

Berthold Huber und Detlef Wetzel, zwei erklärte Reformer, sollen von den Delegierten auf dem Leipziger Gewerkschaftstag der IG Metall an die Spitze gewählt werden. Das scheint auch geboten, denn die größte deutsche Einzelgewerkschaft steht vor schwierigen Kursbestimmungen.

Von Gerhard Schröder | 03.11.2007
    Die Deutz AG im Süden von Köln: Unbemannte Gabelstapler gleiten durch die Halle, beladen mit Kolben, Bolzen und schwerem Gestänge. Hier werden Dieselmotoren für Bagger, Walzen und Kräne zusammengebaut, Präzisionsarbeit für den Weltmarkt.

    Werner Scherer strahlt, denn die Geschäfte laufen gut - für den Betriebsrat eine beruhigende Lage. Allein in den vergangenen beiden Jahren hat der Motorenhersteller 300 neue Jobs geschaffen. Und Scherer, der Chef des Gesamtbetriebsrats, ist einer der Väter des Erfolgs. Er hat dem Konzern in schwieriger Zeit geholfen, wieder auf die Beine zu kommen.

    "So ab dem Jahr 1998 waren wir im Grunde mehr als klamm. Wir haben kein Geld mehr von den Banken bekommen, wollten uns aber in der Entwicklung des Unternehmens weiter nach vorn bewegen."

    Ende der 90er Jahre, nach einem milliardenschweren Bilanzskandal war die Deutz AG ausgeblutet, hatte keine Kraft mehr für notwendige Investitionen, die Banken gaben kein Geld. Ein Niedergang auf Raten drohte. Da schaltete sich der Betriebsrat ein und machte ein Geschäft mit der Konzernführung: Die Belegschaft verzichtete auf Lohn, damit der Konzern investieren konnte. Seitdem sind die Jobs in Köln sicher - und der Betriebsrat mischt mit, wenn es um die Zukunft des Konzerns geht.

    "Nur Geld geben, einem Vorstand unser Geld geben, und ihr könnt damit machen, was ihr wollt, und in drei Jahren reden wir mal wieder darüber, was sie daraus gemacht haben - nein, wir haben ganz klar gesagt: Wir wollen in die Prozesse des Unternehmens eingebunden sein. Und das gilt auch bis heute."

    Das ist ungewöhnlich für einen Betriebsrat und kam in der Gewerkschaftsspitze nur mäßig an. Eine zu starke Verlagerung der Gewerkschaftsarbeit auf die Betriebsebene sieht man in der Frankfurter Zentrale mit Skepsis. Zwar hat die IG Metall mit dem Pforzheimer Abkommen vor drei Jahren das Tor für betriebliche Vereinbarungen geöffnet. Abweichungen vom branchenweiten Tarifabkommen sollten aber die Ausnahme bleiben, warnt der scheidende Gewerkschaftschef Jürgen Peters:

    "Wir haben noch nie daneben gestanden, wenn ein Unternehmen Schwierigkeiten hatte. Und wenn der Tarifvertrag mithelfen konnte, die Karre aus dem Dreck zu ziehen, haben wir uns da auch bemüht. Aber man muss ja unterscheiden: Wir machen eine Tarifpolitik, die nicht eine zusätzliche Konkurrenznummer werden darf. Nun haben wir seit geraumer Zeit zugelassen abweichende Regelung für Bereiche, denen es punktuell, temporär schlechter geht. Wir haben uns schwer getan damit, gar keine Frage, und wir prüfen auch, ob denn der Sachverhalt gegeben ist oder ob sich hier jemand eine unzulässige Wettbewerbsposition erschleichen will."

    Bislang wurden knapp 1000 betriebliche Bündnisse geschlossen - für die Unternehmen ein Weg, die starren Regeln des Flächentarifs geschmeidiger zu gestalten. Meist geht es um längere Arbeitszeiten oder Einschnitte beim Lohn. Bis zum Pforzheimer Abkommen waren diese Abweichungen auf den akuten Krisenfall begrenzt. Das hat sich nun geändert, sagt Hagen Lesch, Tarifexperte beim arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft:

    "Mit Pforzheim hat sich der Geist ein bisschen gewandelt. Statt Krisenbündnisse soll es mehr präventive Bündnisse geben - Pforzheim erlaubt ja Abweichungen jeder Art vom Flächentarifvertrag, also da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt -, und das auch, wenn es um die Beschäftigung, Sicherung oder Mehrung oder auch Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit geht. Das heißt also, es ist schon ein wesentlich breiterer Anwendungsbereich."

    Auch für die Gewerkschaften kann das von Vorteil sein. Die Gewerkschaft wird für die Belegschaften interessanter, wenn sie sich stärker in die Betriebsbelange einmischt, wie der Fall der Deutz AG zeigt. Dort hat die IG Metall in den vergangenen drei Jahren 300 neue Mitglieder gewonnen - ein Plus von 20 Prozent.

    "Nur mit Nein sagen kommen wir in dieser Welt nicht mehr weiter. Und die Belegschaft und die IG-Metall-Mitglieder nehmen es einem ab einem gewissen Zeitpunkt auch nicht mehr ab, sondern die fragen einen speziell in Krisenzeiten: Ja, wo ist denn jetzt euer Konzept? Sich nur mit Arbeitsniederlegungen und den anderen üblichen Instrumentarien, die ein Betriebsrat hat, Mehrarbeit dann verweigern oder was auch immer, ist begrenzt belastbar. Man muss auch eigene Konzepte auf den Tisch legen."

    Dass die Gewerkschaft ihre Programmatik überprüfen muss, das zeigt schon ein Blick in die eigenen Reihen. Nach wie vor laufen der IG Metall die Mitglieder in Scharen davon - und das, obwohl die Zahl der Beschäftigten steigt, zuletzt um 2,6 Prozent auf 3,5 Millionen. Die IG Metall profitiert davon aber nicht. Im vergangenen Jahr schrumpfte sie um 1,8 Prozent, im Osten waren es sogar 4 Prozent, was in der Frankfurter Zentrale schon als großer Erfolg gewertet wird. Denn in den Vorjahren lichteten sich die Reihen in noch höherem Tempo. Allein seit der Jahrtausendwende - also innerhalb von sieben Jahren - hat die IG Metall 430.000 Mitglieder verloren. Eine besorgniserregende Entwicklung, meint der Frankfurter Gewerkschaftsforscher Josef Esser:

    "Wie schaffen wir es, uns zu öffnen gegenüber Frauen, gegenüber jungen Leuten, gegenüber den neuen Dienstleistungsangestellten, den ganzen Technikern, Ingenieure. Auf dem Gebiet hat die IG Metall weiterhin enorme Probleme. Sie hat die Probleme erkannt, aber sie hat noch keine Lösung dafür. Also, sie ist auf der Ebene des Mitgliederschwundes noch nicht konsolidiert."

    Neues Führungsduo
    Die IG Metall sucht nun die Flucht nach vorn. Mit Berthold Huber und Detlef Wetzel werden die Delegierten auf dem morgen in Leipzig beginnenden Gewerkschaftstag zwei erklärte Reformer an die Spitze wählen. Huber gilt als Architekt des Pforzheimer Abkommens, das den Unternehmen mehr Flexibilität bei Löhnen und Arbeitszeiten einräumt. Und Wetzel hat als Bezirksleiter in Nordrhein-Westfalen Akzente gesetzt.

    Das neue Führungsduo steht vor großen Herausforderungen. Es muss den Mitgliederschwund stoppen, neue Zielgruppen ansprechen und den drohenden Machtverlust der Gewerkschaften aufhalten. Immer mehr Unternehmen flüchten aus der Tarifbindung und entziehen sich so den branchenweiten Vereinbarungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Der Einfluss der Tarifparteien schwindet.

    Eine Standortbestimmung steht an auf dem Gewerkschaftskongress - und ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Denn mit der Amtszeit des scheidenden Vorsitzenden Jürgen Peters verbindet die Gewerkschaft vor allem jenes Ereignis, das die Gewerkschaft in ihren Grundfesten erschütterte: den verlorenen Streik um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland im Juni 2003 und den sich anschließenden Machtkampf an der Führungsspitze.

    Als der Streik die BMW-Produktion in München und Regensburg lahm legt, weil der Zulieferer aus Brandenburg bestreikt wird, da zeigt sich, dass es unter den Betriebsräten und in der Chefetage der Gewerkschaft von Anfang an Uneinigkeit gibt. Nach vier Wochen wird der Streik abgebrochen. Die treibende Kraft des Arbeitskampfes, Jürgen Peters, damals IG-Metall Vize und designierter Nachfolger von Klaus Zwickel, gerät nicht nur in den Medien unter Beschuss. Werner Neugebauer, Bezirksleiter in Bayern, fordert Peters auf, der Gewerkschaft einen letzten guten Dienst zu erweisen und seine Kandidatur zurückzuziehen.

    Aber Peters lässt sich nicht stoppen. Auch nicht von Klaus Zwickel, dem amtierenden IG-Metall-Chef. Der bringt den baden-württembergischen Bezirksleiter Berthold Huber als seinen Nachfolger in Stellung, scheitert aber und tritt wenige Wochen vor dem Stabwechsel frustriert zurück. Vom Kampf zweier Lager ist die Rede, Traditionalisten gegen Modernisierer, Reformer gegen Blockierer. Die Basis verfolgt das desaströse Treiben an der Spitze mit ungläubigem Staunen und erteilt Jürgen Peters einen ordentlichen Denkzettel: Bei der Wahl zum Gewerkschaftschef fährt er das schlechteste Ergebnis ein, das ein IG-Metall-Chef jemals erzielt hat.

    "Ich glaube, das ist ein ganz ehrliches Ergebnis. Nach diesen Tagen konnte man nicht erwarten, dass da nun alle sagen: Schwamm drüber, und jetzt machen wir das auch mit dem Stimmzettel. Ich werde Euch versprechen, jedenfalls werde ich mich bemühen, diejenigen, die mir heute nicht das Vertrauen haben schenken können, in keinem Falle zu enttäuschen, sondern im Gegenteil, ich rufe Ihnen zu: Ich werde es schaffen, dass auch Sie sagen: Er hat das Vertrauen verdient. Ich nehme die Wahl an. Danke sehr."

    Schadensbegrenzung ist angesagt, meint auch der Peters-Rivale und künftige Vize Berthold Huber.

    "Wir sind zu einer kollegialen Zusammenarbeit geradezu verdammt, und ich will alles tun, dass uns dieses gelingt."

    Tatsächlich überrascht, wie geräuschlos das ungleiche Führungsduo die Arbeit aufnimmt. Peters, der polemische Polterer, und Huber, der feingliederige Intellektuelle, sie raufen sich zusammen und bewähren sich als Krisenmanager. Unter ihrer Führung bringt die IG Metall das wegweisende Pforzheimer Abkommen auf den Weg, das Betrieben mehr Flexibilität bei Arbeitszeiten und Entlohnung gibt. Und sie setzen begünstigt von der anziehenden Konjunktur ordentliche Lohnzuschläge für die 3,5 Millionen Beschäftigten der Metallindustrie durch.

    In diesem Jahr setzte die IG Metall 4,1 Prozent mehr Lohn und Gehalt durch - soviel wie keine andere DGB-Gewerkschaft, Balsam für die geplagte Metallerseele.

    Auch im Osten geht es allmählich wirtschaftlich bergauf, und das stärkt die Gewerkschaft. Nicht mehr Jobabbau und Werksschließungen sind das Thema, sondern Überstunden und Arbeitskräftemangel sagt Renato Thielecke, Betriebsrat bei Arcelor Mittal in Eisenhüttenstadt:

    "Die Situation ist jetzt im Osten so, dass fast alle Buden brummen ohne Ende, dass man Aufträge hat ohne Ende. Und die Zeit ist jetzt auch gekommen, dass die Unternehmen wach werden und sagen, mit permanenter Lohndumping-Politik kommen sie nicht mehr weiter, weil sie dann hier kein Personal mehr finden werden, das bereit ist, unter diesen Bedingungen zu arbeiten."

    Aber auch die gute Konjunktur kann kaum verdecken: In Ostdeutschland ist die IG Metall auch 17 Jahre nach der Wende noch schwach auf der Brust. Nur in den großen Stahlkonzernen und Autofabriken hat die sie eine verlässliche Basis. Aber dort sitzt der Groll noch tief: über den verlorenen Streik um die 35-Stunden-Woche und auf die Gewerkschaftsbosse im Westen. Detlef Nagel ist Betriebsrat bei VW in Sachsen und gerät noch heute in Rage, wenn er zurückblickt.

    "Die Narben werden nie vergehen. Die sind nach wie vor so etwas von tief gewesen. Wir sehen das so, dass wir verraten und verkauft worden sind. Wenn die Solidarität aus den Reihen der IG Metall, sprich aus den Alt-Bundesländern, so gekommen wäre, wie das verabredet war, dann wäre dieser Streik erfolgreich zu Ende gegangen."

    Renato Thielecke sieht es ähnlich. Wären die West-Gewerkschafter um den einstigen IG-Metall-Chef Zwickel nicht eingeknickt, dann wäre der Streik erfolgreich gewesen. Thielecke weiß, wovon er spricht. Die ostdeutschen Stahlkocher hielten durch - für sie gilt seit 2003 die 35 Stunden-Woche.

    "Aber es war eine bittere, bittere Enttäuschung bei uns darüber, dass sich ein IG-Metall-Vorsitzender erdreistet, von sich aus einfach einen Streik abzubrechen. Das war ein Schlag ins Gesicht für jeden Metaller, der mit Herz bei der Sache dabei ist."

    Für Betriebsräte wie Renato Thielecke und Detlef Nagel ist klar: Die 35-Stunden-Woche bleibt auf der Tagesordnung. 2008 läuft der Manteltarifvertrag aus. Dann muss die neue Gewerkschaftsführung Flagge zeigen.

    "Da muss der neue Vorstand der IG Metall klare Positionen bekennen. Wir wollen die Ost-West-Angleichung nach wie vor, sprich: die 35-Stunden-Woche."

    Ob sich die IG Metall noch einmal zutraut, diesen Konflikt auszutragen, ist fraglich. Ihr fehlt es im Osten an Kraft. Und das liegt nicht nur an der fragilen Basis in den Betrieben. Das Problem ist tiefgreifender. Selbst wenn die Gewerkschaft den ostdeutschen Metallarbeitgebern im zweiten Anlauf die 35-Stunden-Woche abringen könnte - nur eine Minderheit der Beschäftigten würde davon profitieren. Denn die meisten Unternehmen haben sich längst den Zwängen des Flächentarifvertrags entzogen. Ihnen sind die branchenweiten Regeln zu starr. Sachsens Arbeitgeber-Chef Bodo Finger:

    "Ich möchte mehr Flexibilität, was die Arbeitszeit angeht, ich möchte mehr Flexibilität, was die Entlohnung angeht, ich möchte mehr Flexibilität, was den Kündigungsschutz angeht - da sind wir dann gleich wieder bei dem Thema Leiharbeit. Das muss man regeln können unkompliziert und unbürokratisch innerhalb einer Firma und innerhalb einer Belegschaft."

    In Sachsen herrscht längst tarifpolitische Anarchie. Nur noch vier Prozent der Betriebe sind an den Flächentarif gebunden. Die Abmachungen, die Arbeitgeber und Gewerkschaften aushandeln, gelten nur für eine verschwindend kleine Minderheit. Auch das Pforzheimer Abkommen hat die Tarifflucht der Unternehmen nicht stoppen können, sagt Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft. Die Unternehmer wollen mit der Gewerkschaft einfach nichts zu tun haben:

    "Viele, gerade mittelständische Unternehmen scheuen natürlich davor zurück, dass man der IG Metall mehr oder minder Einblick in die Bücher geben muss, dass man mit der IG Metall über künftige Unternehmensstrategien verhandeln muss, dass die IG Metall ein Stück weit in die Unternehmenspolitik hineinredet, was man ja in Nordrhein-Westfalen stark versucht. Und das schreckt viele Mittelständler ab. Deren Ausweg ist dann wohl der Ausstieg aus der Tarifbindung. Dagegen kann aber aus meiner Sicht ein Arbeitgeberverband nicht viel machen, weil: Der IG Metall sozusagen den Zustimmungsvorbehalt zu nehmen bei diesen betrieblichen Bündnissen für Arbeit, würde, glaube ich, bedeuten, dass die IG Metall sich dem Prozess mehr oder weniger ganz verschließt."

    Der IG-Metall-Gewerkschaftsvorsitzende Berthold Huber
    Berthold Huber. (AP)
    Der IG-Metall-Vorsitzender Jürgen Peters applaudiert seinem Vorgänger auf dem Gewerkschaftstag.
    Jürgen Peters applaudiert seinem Vorgänger Klaus Zwickel auf dem Gewerkschaftstag. (AP)
    Tarifsystem steht infrage
    Nicht nur der Flächentarifvertrag ist zwischen Oder und Elbe längst ein Auslaufmodell. Arbeitgeberchef Bodo Finger stellt längst das gesamte Tarifsystem in Frage:

    "Diese gesamte Verbandslandschaft mit IG Metall und Arbeitgeberverbänden - das steht doch alles in Deutschland auf dem Prüfstand. Da muss man doch nur mal überlegen, wie wir uns hier in Deutschland neu positionieren angesichts einer globalen, man kann schon sagen wirtschaftlichen Bedrohung. Es geht um unseren Wohlstand. Und wenn wir so weitermachen wie gehabt, dann werden wir diesen Wettbewerb nicht bestehen."

    Finger vertritt damit auch unter den Arbeitgebern eine Minderheitenposition. Zwar fordert auch Gesamtmetall-Chef Martin Kannegiesser, dass betriebliche Bedürfnisse bei den Tarifabschlüssen stärker berücksichtigt werden müssten. Er weiß aber auch den Wert des Flächentarifvertrags für die Unternehmen zu schätzen: Ihnen bleibt viel Ärger erspart, wenn sie nicht alles selbst aushandeln müssen.

    Aber die Strahlkraft des Flächentarifvertrags wird immer schwächer - nicht nur in Ostdeutschland. Im Westen gelten die branchenweiten Abmachungen in der Metallindustrie nur noch für 62 Prozent der Beschäftigten, vor zehn Jahren waren es noch über 70 Prozent. In Ostdeutschland gilt der Flächentarif noch für jeden vierten.

    Für die Gewerkschaft heißt das: Sie muss den viel beschworenen Häuserkampf aufnehmen. Wenn die branchenweiten Abmachungen ihre Wirkung verlieren, dann muss sie versuchen, mit einzelnen Unternehmen Tarifverträge abzuschließen. Olivier Höbel, Bezirksleiter der IG Metall für Berlin, Brandenburg und Sachsen:

    "Fällt dieser schützende Schirm des Flächentarifvertrages weg, wird natürlich den einzelnen Belegschaften schmerzhaft bewusst, welche Schutzfunktion ein Tarifvertrag hat. Wenn jede Belegschaft einzeln antreten muss, und das tut sie mit uns, dann stellt sich auch für jeden einzelnen Beschäftigten im Betrieb stärker als vorher die Frage: Wenn ich unter den Schutz einer kollektiven Regelung kommen will, dann muss ich mich auch organisieren, um dort mitmachen zu können. Insofern ist das eine Entwicklung, die wir durchaus mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen."

    Auch Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft meint, die Verlagerung des Kampffeldes auf die Betriebsebene könnte der Gewerkschaft mehr nutzen als schaden.

    "Man will ja gerade langfristig von Unternehmensseite irgendetwas tun, damit der Standort und auch die Beschäftigung gesichert bleibt. Und auch hier hat die IG Metall jetzt erkannt, dass man damit durchaus punkten kann. Es gibt seit diesem Pforzheim-Abkommen jetzt nun 590 geregelte Fälle. Und das zeigt ja, dass davon Gebrauch gemacht wird und dass die IG Metall diesen Weg auch offensichtlich gewillt ist mitzugehen."

    Ohnehin fällt es in Zeiten des globalen Wettbewerbs immer schwerer, einheitliche Regeln zu finden. Das zeigt das Beispiel Leiharbeit. Immer mehr Betriebe greifen auf Personal von Zeitfirmen zurück und umgehen so Tarifverträge und Kündigungsschutz. Die Leiharbeiter bekommen meist weniger Geld und können jederzeit wieder weggeschickt werden. Ein Ärgernis für die Gewerkschaft, sagt Gewerkschaftsfunktionär Olivier Höbel:

    "Zeitarbeit ist, wenn man so will, so ein bisschen auf dem Samtfuß dahergekommen. Die Arbeitgeber haben gesagt, wir wollen ja nur mal Produktionsspitzen abdecken und ein bisschen Flexibilität haben. Das ist ein Argument, das man im Einzelfall nicht ganz von der Hand weisen kann. Wenn wir aber Situationen haben, dass 30 oder sogar 50 Prozent der Belegschaft aus Leiharbeitern besteht, die ja auch zu anderen, nämlich schlechteren Konditionen arbeiten, dann ist das ein Problem, das wir nicht vernachlässigen dürfen."

    In den Betrieben finden Gewerkschafter dazu höchst unterschiedliche Lösungen. Bei Arcelor in Eisenhüttenstadt hat der Betriebsrat erreicht, dass Leiharbeiter genauso bezahlt werden wie Festangestellte. Beim Motorenhersteller Deutz war das nicht durchsetzbar, nun verfolgt Betriebsrat Scherer eine andere Linie:

    "Insgesamt missfällt es uns. Wir haben zu viele, die wollen wir nach unten bringen, nicht dergestalt, dass die Kollegen nicht mehr bei uns arbeiten, sondern genau umgekehrt, dass diese Kollegen eine Anstellung bei der Deutz AG erfahren."

    Die Gewerkschaft besinnt sich wieder auf die gewerkschaftlichen Kernthemen, das zeigt auch der Gewerkschaftstag in Leipzig. Viel Zeit ist eingeplant für Sachthemen. Die Liste der politischen Gastredner dagegen wurde kurz gehalten. Nur die Kanzlerin wird einen großen Auftritt haben. Ansonsten will die Gewerkschaftsspitze die übliche Politfolklore vermeiden, was allerdings keine inhaltlichen Rückschlüsse zulässt. Das neue Führungsduo wird sein grundlegende Abneigung gegenüber zentralen Reformprojekten wie Hartz IV und Rente mit 67 vielleicht im Ton verbindlicher, aber in der Sache kaum nachgiebiger formulieren als der scheidende IG-Metall-Chef Peters.

    Betriebsrat Scherer sieht diese politische Zurückhaltung mit Genugtuung. Die Gewerkschaft sei in Bewegung, sagt er - und das stimmt ihn hoffnungsvoll. Endlich fange sie an, sich auf die wichtigen Themen zu konzentrieren:

    "Also, ich und viele andere Kollegen fühlen uns zurzeit sehr wohl, weil man eindeutig Wandlungen feststellt, wo man von dem reinen Gesichtspunkt: Wir machen gute Tarifverträge in Form von Lohn und Gehalt und ansonsten mischen wir uns in die große Politik ein. Die gewerkschaftliche Betriebspolitik ist anscheinend wieder stärker in den Fokus gerückt."