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Auf den Spuren von Adam Mickiewicz

Die Stärke der polnischen Literatur liegt bekanntlich in der Dichtung, und zu den wichtigsten modernen Dichtern des Landes gehört Tomasz Rozycki. Sein an den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz angelehntes Werk "Zwölf Stationen" begeisterte Leser und Kritiker.

Von Marta Kijowska | 07.06.2010
    Litauen! Vaterland! Du gleichst dem Wohlbefinden.
    Wie groß Dein wahrer Wert ist, kann nur der ergründen,
    Der Dich verlor.


    Nein, das Zitat stammt nicht aus Rozyckis Poem, sondern aus dem Epos Pan Tadeusz (Herr Taddäus) des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz. Im Pariser Exil entstanden, war es eine Liebeserklärung an seine litauische, damals aber innerhalb der polnischen Grenzen liegende Heimat. Allerdings würden Zwölf Stationen, dieses herrlich ironische Porträt der polnischen Provinz, ohne das zitierte Werk vermutlich gar nicht existieren. Denn Rozycki hatte ursprünglich einen Roman geplant, da er aber ein Dichter ist, kam er anfangs nicht so recht voran – zumal auch widersprüchliche Emotionen im Spiel waren:

    "Diese Geschichte wirkt zwar leicht und amüsant, zumindest an manchen Stellen, doch im Grunde ist sie recht sentimental und behandelt ein Thema, das ich als sehr persönlich empfand. Deswegen brauchte ich etwas, was mir eine Distanz ermöglichen würde, sonst hätte ich mich, um es bildhaft auszudrücken, schon beim Schreiben zu Tode geweint. Zum Glück kam mir eines Tages unser Nationalepos Pan Tadeusz in den Sinn, und seitdem begleitete es mich ständig – als ein Text, mit dem ich immer wieder einen trotzigen Dialog führte."

    So geht es auch in Rozyckis Zwölf Stationen um die ehemaligen polnischen Randgebiete, genauer um einen ukrainischen Ort namens Gliniany, den die Familie des Ich-Erzählers 1945 verlassen musste. Und das hat plötzlich auch für ihn Folgen: Als er nämlich nach Oppeln kommt, um seine Oma zu besuchen, bekommt er einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll zu den im ganzen Land verstreuten Verwandten fahren und sie zu einer gemeinsamen Eskapade in die alte Heimat überreden. Dem Enkel erscheint die Idee völlig absurd, und er macht sich auf die Reise mit dem gleichen Widerwillen, mit dem er nach Oppeln gekommen ist.

    Diese Stadt, meine Krankheit! Bazillus der schwarzen Galle,
    trauriger Tumor, der in der Seele wuchert
    – wie ich dich hasse, Stadt!


    Die Ablehnung des Enkels ist nicht zuletzt die Folge des Verhaltens, das seine gesamte Familie an den Tag legt. Und diese wiederum ist stark der Familie des Autors nachempfunden – mit gutem Grund: Auch sie war Teil der polnischen Ostbevölkerung, die nach dem Krieg in Schlesien angesiedelt wurde, und da ihr die neue Umgebung oft über Jahre fremd blieb, neigte sie dazu, das Land ihrer Jugend zu einem verlorenen Paradies zu stilisieren.

    "Sowohl in meinem Elternhaus als auch in vielen anderen, in denen ehemalige Bewohner der Ostgebiete lebten, herrschte die Legende der verlorenen Heimat vor. Für sie war es ein ideales, ein wunderschönes, herrliches Land, wo der Winter noch richtig kalt und der Sommer noch richtig warm war, und wo ein Kilo Karotten vor dem Krieg elf Groschen kostete. Später kamen die Kriegserinnerungen hinzu, und die waren natürlich schrecklich, doch dadurch wurde das, was davor gewesen war, noch stärker idealisiert. Das alles war in meiner Familie immer sehr lebendig, sodass ich mich damit auch irgendwie auseinandersetzen musste. Es gab sogar einen Moment, in dem ich stark dagegen rebellierte. Und dann beschloss ich, darüber zu schreiben."

    Das Ergebnis dürfte Rozycki selbst überrascht haben. Denn die Suche nach den Verwandten wird für seinen Protagonisten zu einer Reise in die eigene Vergangenheit. Während er nämlich mit den verschiedenen Onkeln, Tanten und Cousinen zusammentrifft, ruft er sich auch ein Stück Kindheit in Erinnerung: längst vergessene Bilder und Gerüche, damalige Alltagsrituale, die Tradition der Zubereitung von Speisen und der Einrichtung von Wohnungen.

    Zunächst also sah man in der Küche jene weiße Anrichte,
    Hüterin der Tradition und der ganzen Familie erkennbare Stütze,
    sodann den Herd in Form eines Ofens mit Blechbeschlägen
    auf dem Boden davor, zum Schutz vor allzu großen Schäden
    durch Glut, schließlich das Heiligenbild an der Wand.


    Der Erzählton schwankt zwischen liebevoll und ironisch, doch das ist noch nicht alles: Rozycki sprengt oft den Rahmen des Realistischen, indem er auf banale Alltagssituationen zurückgreift und daraus mit Hilfe kunstvoller Steigerungen und absurder Wendungen irreale, albtraumartige Bilder kreiert. So ist ein kleiner, stinkender Fisch imstande, eine ganze Kette von Naturkatastrophen auszulösen, und auch die Umwandlung eines Schrebergartens in eine Baustelle kann apokalyptische Züge annehmen.

    Niemand kam mit heiler Haut davon,
    die Kiefer zerrissen Sträucher, brachen Halme, ließen das Mark
    hervortreten und verspritzten den Saft zermahlener Blätter.


    Solche Beschreibungen erinnern ebenfalls stark an Pan Tadeusz, und auch die Gliederung des Poems ist Mickiewicz entliehen, nur handeln die zwölf "Bücher" seines Epos von einem Konflikt zwischen zwei Adelsgeschlechtern und sind deshalb mit Der Streit oder Die Schlacht überschrieben, während die einzelnen Zwölf Stationen ganz unspektakulär Der Zug oder Piroggen heißen. All diese Analogien hätte man, wie ich finde, dem deutschen Publikum erklärt müssen. Der euphorische Aufruf einer Rezensentin, "Rozycki sollten alle lesen”, wird zwar ohne Folgen bleiben – die wenigen, die es tun, wären wohl aber für einige Hinweise dankbar.

    Tomasz Rozycki: "Zwölf Stationen. Poem". Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Luchterhand Literaturverlag, München 2009, 173 S., 7 Euro.