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Auf den Spuren von Huckleberry Finn

Seit der Schriftsteller Mark Twain seinen Helden Huckleberry Finn auf ein paar zusammengebundenen Baumstämmen den Mississippi hinuntertreiben ließ, gibt es ein eigenes Romantik-Genre: die Floßfahrt. Wer es Huckleberry Finn nachmachen möchte, der kann sich an der Mecklenburger Seenplatte im Nordosten Deutschlands ein Floß mieten und damit über Seen und Kanäle schippern.

Von Gerhard Richter | 07.09.2008
    "Tom Sawyer Tours, mein Name ist Thomas John, was kann ich für sie tun?"

    Thomas John könnte sein Handy wegstecken, und uns endlich unser Floß geben. Es heißt "New Orleans" und liegt vor uns am Steg, 5,50 Meter lang, mit einer kleinen Hütte an Deck, Holzpfosten an den Ecken, ein Seil als Reeling. Überhaupt sieht man nur dunkles Holz, keine Ahnung, warum das überhaupt schwimmt:

    "Da sind PE-Schwimmkörper drunter und zwar auf jeder Seite ein Fünfkammersystem. Und die sind mit einem stabilen Aluminiumrahmen verbunden. Praktisch unsinkbar."

    Ein Hamburger Tischler hat die Flösse konstruiert, seit 2003 kann man sie offiziell mieten. Die Kinder tragen schon das Gepäck auf das Floß und wollen sofort los.

    "Legen wir jetzt ab?

    Erstmal sabbele ich euch ein bisschen zu.

    Oh no!

    Doch , muss sein."

    Thomas John, der Stationsleiter von Tom Sawyer Tours setzt sich auf die Backskiste in der Holzhütte. Mit seinem Viertagebbart, verstrubbelten Haaren und dem ausgebleichte schwarzen T-Shirt sieht er selber aus wie ein Tom Sawyer. Schnell erklärt er uns die Ausrüstung. Außenbordmotor mit fünf PS, zwei Anker, Paddel, Leinen, Bootshaken, Kocher, Topf und Kaffeekanne, Tassen und Dosenöffner. Ein Kanister mit Trinkwasser und eine Trockentoilette, eine Petroleumlampe. Das reicht für zwei Erwachsene und zwei Kinder für ein paar Tage und Nächte auf dem Wasser. Wir starten den Motor:

    "Leinen los

    Aye, aye Sir! "

    Durch einen Stichkanal tuckern wir langsam hinaus auf den Labussee. Die Kinder müssen orangene Schwimmwesten tragen, der einzige Farbklecks in der stillen Natur der Mecklenburger Seenlandschaft - ein Paradies für Tiere, Segler und Paddler. Obwohl motorisiert, brauchen wir für die "New Orleans" keinen Führerschein. Der rustikale Holzaufbau mit den Aluminiumträgern und den Kunststoff-Pontons darunter wiegt zwar anderthalb Tonnen, aber steuern ist wirklich kein Problem. Und selbst wenn man den Gasgriff voll aufdreht, wirkt das eher entschleunigend.

    Der Wind kräuselt das Wasser, träge zieht das Ufer vorbei. Wir überholen ein paar Enten. Zwei Dutzend Seen könnten wir ansteuern, bis nach Potsdam oder Berlin könnten wir schippern, aber warum sollten wir? Lieber suchen wir am Ufer eine geschützte Stelle, binden das Floß an einen umgestürzten Baum und springen erstmal ins Wasser.

    Nach dem Bad dösen wir durch den heißen Nachmittag. Alles wird ganz einfach. Hier ist die Erde noch eine Scheibe: Oben Himmel, unten Wasser, und damit hell und dunkelblau nicht ineinanderfließen, ist dazwischen ein Streifen Ufer aus hellem Schilf und Wald. Ein Motorboot fährt vorbei und wir sehen zu, wie die Bugwellen auf uns zu rollen, und unser Floß schaukeln. Wir haben Zeit. Der Wind rauscht in den Bäumen und Anton liest uns aus seinem Buch vor. Die Geschichte von Huckleberry Finn, wie er auf seinem Floß den Mississippi hinuntertreibt.

    "Wir sagten uns, dass es kein schöneres Heim als ein Floß gäbe. An anderen Orten wäre alles so beengt und stickig. Aber auf einem Floß fühlte man sich frei und leicht. Das war einfach herrlich."

    Alle fühlen sich wie Huckleberry Finn, träge und einfach. Sogar unsere Seele ist zu faul zum Baumeln. Dafür meldet sich der Magen. Am Mississippi musste man damals nur ein paar Angelschnüre auslegen, um sein Abendessen zu kriegen. Warum soll das auf dem Labussee anders sein?

    Stundenlang angeln wir und freuen uns auf gebratenen Fisch, bis die Kinder die Geduld verlieren.

    "Wir brauchen einen Topf. Wir wollen eine Suppe kochen, über dem Gasherd.

    Ja."

    Also packen wir die Angel weg, und holen die Dosen aus der Backskiste.

    "Tomatenreistopf mit Fleischklößchen."

    Den Topf muss man auf dem Kocher festhalten, damit er nicht umkippt, falls es doch mal etwas mehr schaukelt. Das ist schon das anstrengendste am Kochen. Dann löffeln wir aus blau emaillierten Blechtellern, ein Stück Brot in der Hand. Dabei lümmeln wir auf den warmen Holzplanken unseres Floßes und blinzeln in die tiefstehende Sonne. Die Zivilisation ist weit, und der Abendwind weht eine feine Brise Freiheit herüber. Aber auch die ersten Mücken. Wir legen also vom Ufer ab und werfen unsere Anker draußen auf dem See.

    Kaum ist die Sonne untergegangen, da sind die Kinder müde. In der Hütte aus Pfosten, dicken Brettern und brauner Zeltplane ist Platz für vier Leute. Auf den Backskisten bauen wir das Lager aus Isomatte und Schlafsack.

    "Na dann geh ich mal rein in unser Haus.

    Praktisch. Und dann gleich wieder zumachen.

    Nein nicht, na doch, ich mach es, wenn du drin bist."

    Durch die Folienfenster sehen wir noch, wie sich die Kinder in den Schlafsack kuscheln, und langsam einschlafen.

    Auch wir sind müde, obwohl wir kaum etwas gemacht haben, aber wahrscheinlich haben wir am ersten Tag auf dem Floß die rasanteste Entschleunigung unseres Lebens erlebt. Wir reiben uns mit Mückenmittel ein und stoßen mit blauen Blechtassen an: Ein Schluck Whiskey auf Muff Potter, den trinkfesten Pechvogel aus der Tom Sawyer-Geschichte. Dann überlassen wir uns den Mücken und den dunklen lautlosen Wellen des Labussees.

    Vom Lärm der Vögel werden wir geweckt, kaum dass es hell ist. Die Isomatten sind zu dünn, und das Mückenmittel hat nicht verhindert, das Emil einen Stich unter dem Auge hat. Die rote Schwellung sieht aus, als hätte er mit Indianer Joe gekämpft.

    Aber seine Liebe zu Tieren hat dadurch nicht gelitten, denn pünktlich zum Frühstück besucht ein Entenpärchen unser Floß und Emil füttert die beiden mit den Broten, die wir ihm schmieren. Nach dem Frühstück zieht er die Schwimmweste über, wir wollen in den Canower See und der liegt anderthalb Meter tiefer als der Labussee. Da hilft nur schleusen.

    Die Seen haben alle unterschiedliche Niveaus, von der Müritz bis Berlin sind es immerhin acht Meter. Durch elf Schleusen können Schiffe und Boote von einem See zum nächsten fahren. Ganz langsam motoren wir durch die offenen Schleusentore und binden das Floß lose am betonierten Kai fest.

    Hinter uns schließen sich die Stahltore, vorn sprudelt das Wasser hinaus. Mit dem abfließenden Wasser sinkt unser Floß an der Spundwand immer tiefer. Im brodelnden Wasser ruckt unser Floß und zerrt an der Leine wie ein unruhiges Pony, als ob es sich an die Stromschnellen des Mississippi erinnert. Nach einer Viertelstunde öffnet sich die Schleuse - wir ziehen die Startleine des Motors und schieben uns ganz gemächlich auf das glatte Wasser des Canower See hinaus. Neben den dicken Motorjachten und den kleinen Faltbooten ist unsere "New Orleans" der Hingucker. Alle drehen die Köpfe nach uns.

    Der Canower See ist gesäumt von Schilf, unterbrochen von Badestellen, Feriensiedlungen und Hausbootkolonien. Zwei Stunden sind wir unterwegs, der See leuchtet in der Mittagssonne einem frischen kühlen Blau, unsere Holzplanken dagegen sind so heiß, dass man kaum barfuss stehen kann. Schließlich springen wir ins flache Wasser, verscheuchen dabei einen Graureiher und ziehen das Floß an einen Steg. Dahinter ein Gartenrestaurant. Hier gibt es Marmortische, die Kellnerin bringt sogar feine Stoff-Deckchen für jeden.

    "Das wäre aber nicht nötig gewesen

    Ach, wenn schon denn schon, wenn sie da sind, dann wollen wir das schon richtig machen.

    Das ist ja wie in einer anderen Welt - Tischdecke!"

    Nach Eintopf und Brotkanten gestern, gibt es hier eine Speisekarte. Die Kinder finden sich sofort wieder zurecht:

    "Anton und ich nehmen beide dasselbe. Kirschsaft und und Erdbeereis. Ich glaub, ich kühl noch mal meinen Mückenstich."

    Die abenteuerliche und deshalb noch unbenutzte Trockentoilette auf dem Floß bekommt hier ernsthafte Konkurrenz von einem gut bürgerlichen Klosett mit Wasserspülung. Huck hat Pause. Aber danach geht es nochmal in die Wildnis des Pälitzsees. Ankern, Angeln, tauchen, schwimmen, faulenzen, und vorlesen - wie Huckleberry Finn sein Floßleben damals erlebte.

    " So verbrachten wir einen weiteren Tag. Wohlig faul lagen wir herum und lauschten in die große Stille."

    Die Beine im kühlen Wasser lassen wir uns durch den Tag treiben, die Zeit wird immer länger, aber das Leben auf der "New Orleans" ist nur gebucht. Auf dem Rückweg machen wir am langen Steg einer Fischräucherei halt. In einem gekachelten Raum brummt eine Kühltheke, Doreen Brinkmann verkauft hier alles, wonach wir vergeblich geangelt haben:

    "Wir haben im Angebot Forelle, Karpfen Aal, Saibling, Wels Zander Lachsforelle geräuchert, ansonsten haben wir unseren Brathecht sauer eingelegt, Barsche sauer eingelegt. Dann unsere Aspikware Karpfen in Aspik, Hecht in Aspik, Aal in Aspik, ansonsten haben wir noch Barsche, Plötzen, Rotfedern, Rotaugen."

    Im Schatten eines Baumes sitzen wir auf Holzbänken und schlemmen geräucherten Wels, Forelle und Aal. Die Kinder sind bald satt und gehen selbst auf die Jagd. Im Schatten unter dem Steg entdecken sie einen Flusskrebs, und im seichten Wasser eine Ringelnatter. Dann müssen wir endgültig die Leinen loswerfen, und uns zurück in den Alltag schleusen. Anton findet dazu nochmal eine passende Stelle im Huckleberry Finn Buch.

    "So gingen zwei oder drei Tage dahin. Fast möchte ich sagen, sie schwammen dahin. So ruhig und sanft glitten sie vorbei."