Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Auf der Couch

Wien, Berggasse 19, ist eine für Eingeweihte vertraute Adresse. Im hinteren Teil der Erdgeschosswohnung, dort, wo der Blick auf den begrünten Innenhof geht, saßen die Patienten des Dr. Freud im Wartezimmer, bevor sie sich auf die Couch des berühmtesten Zuhörers der Welt legten. Wien, Berggasse 19, ist zugleich ein Fall für die Literaturgeschichte. Nicht nur, dass an diesem Platz bedeutende essayistische Prosa entstand – nein, auch als magischer Ort der Literatur hat die Adresse ihren Reiz bis heute nicht verloren. Wer mitteleuropäische Geschichte von 1890 bis 1933 zum Hintergrund seiner Belletristik macht, lässt seinen Helden gern mal die Berggasse 19 besuchen. Mittlerweile dürfte die Zahl der erfundenen Patienten die der historisch überlieferten weit übersteigen, und auch deren Probleme sind in der Literatur weitaus bizarrer, als sie es in Wirklichkeit waren – bei aller Absonderlichkeit der realen Fälle.

Von Florian Felix Weyh | 05.08.2004
    Nathan Lewinski, der Romanheld von Laurent Seksik, macht darin keine Ausnahme. Aus einem polnischen Schtetl kommend, gilt ihm der entfernte Cousin seiner Mutter mit dem Namen Dr. Freud als letzte Hoffnung. Nathan kann nämlich Gedanken lesen, eine nur auf den ersten Blick die Lebensqualität steigernde Gabe. Auf den zweiten macht sie einsam und panisch, denn sie isoliert vollständig von den Mitmenschen. Entweder, weil deren intime Gedanken für einen selbst unerträglich sind, oder weil die Mitmenschen spüren, dass man ihre finsteren Abgründe durchschaut. Nathans Onkel Benjamin, ebenfalls mit dem Fluch der Hellsichtigkeit geschlagen, fällt aus diesem Grunde dem Pöbel zum Opfer, und sein Neffe sieht sich schon blutend neben ihm liegen.

    Doch auch Dr. Freud kann nicht helfen, im Gegenteil. Sobald sich die Analysestunden umkehren, und der Patient in die Gedankenwelt des Meisters eindringt – er findet darin gigantomane Wünsche vor, mit Nathans Hilfe eine weitere Tür in den Köpfen der Patienten zu öffnen –, ergreift er die Flucht. Ohnehin ist alles, was er in Wien sieht, sexuell aufgeladen, und Sex wird auch ihm zum Verhängnis. Ein Dienstmädchen lockt ihn erst mit ihren Reizen, dann liefert sie ihn zwielichten Unterweltgestalten aus, die den Unterhaltungswert des sonderbaren Jungen erkannt haben. Im fernen Berlin muss Nathan im Varieté auftreten, liest die destruktiven Gedanken eines Mannes namens Adolf Hitler, flieht entsetzt und landet nach Irrfahrten in einem zionistischen Kibbuz. Natürlich eckt er dort wiederum an, wird als Spion zu den Arabern geschickt, flieht, landet während der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs in Nizza ... und so weiter und so fort. Am Ende stellt sich heraus, dass die vernommene Lebensgeschichte ein mündlicher Vortrag in einem Tanzlokal in Brooklyn gewesen ist, und der dreißigjährige Zuhörer Nathans einen uns allen bekannten Namen trägt: Henry Kissinger. Der verabschiedet sich mit den Worten: »Wir beide werden Großartiges vollbringen.« Was für ein Schlussgag, Kissingers spätere Karriere durch Gedankenleserei erklärt!

    In den Augen von Schreibkursleitern mag dieser Stoff als vorbildlich gelten. Eine niemals den Leser überfordernde Grundidee, mit historisch-satirischem Material mühelos anzufüttern und handwerklich für jeden zu bewältigen, der ein paar Bücher zur Geschichte des 20. Jahrhunderts gelesen hat. Es genügen solche Exemplare, in denen jedem Jahr eine Doppelseite mit Highlights eingeräumt wird. Genau so kommt einem Laurent Seksiks Roman aus der Retorte vor, bei dem man nicht weiß, ob er überhaupt noch als Literatur gedacht ist oder gleich als Verfilmungsangebot.

    Er beginnt im polnischen Schtetl wie eine lausige Kopie von Isaak Bashevis Singer, um dann nach zwanzig, dreißig Seiten grobianisch zu entgleisen. Das liegt an der penetranten Art, mit der Sexualität und Witz vermählt werden sollen, wobei zwangsläufig nur Krampf entsteht. Das Wissen aus zweiter, dritter, vierter Hand erlaubt keine tieferen Einblicke in die geschilderten Milieus oder die historische Wirklichkeit. Wäre das Buch wenigstens sprachlich überzeugend, könnte man über seinen synthetischen Charakter hinwegsehen, so aber ist es ein Fall für den frühen Tod in der Ramschkiste. Komisch, dass in Verlagskrisenzeiten nicht sorgfältiger ausgewählt wird, was man aus fremden Sprachen übersetzt, aber wo vermeintlich jüdischer Humor vorliegt, versagen die Filtersysteme besonders rasch. Nein, Die besondere Gabe des Nathan Lewinski spiegelt keine besonderen Talente des Autors Laurent Seksig wider.

    Laurent Seksik
    Die besondere Gabe des Nathan Lewinski
    Rowohlt, 190 S., EUR 7,90