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Auf der Flucht in die Freiheit

Die Fluchtwege wurden immer enger, dennoch wollten viele in den Westen. Manchen bezahlte die Flucht mit ihrem Leben, anderen hatten Glück. Zwei Werke beschäftigen sich dem Schicksal der Flüchtlinge und dem Alltag in den Notaufnahmelagern.

Von Elke Kimmel | 08.08.2011
    Na, auch den letzten Zug verpasst?

    So oder so ähnlich begrüßten sich in den Tagen nach dem 13. August 1961 viele Menschen im soeben abgeriegelten Ost-Berlin. Resignation, Verzweiflung und Verbitterung halten sich die Waage in den über vierzig Flüchtlingsberichten, die Maria Nooke und Lydia Dollmann jetzt zugänglich machen. Diese entstanden anno 1961 und 62 als Auftragsarbeiten für die sogenannte Girrmann-Gruppe, die studentische Fluchthilfeorganisation von Detlef Girrmann, Dieter Thieme und Bodo Köhler. Heute befinden sich diese Berichte im Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer. Nookes Einleitung vermittelt einen lebhaften Eindruck davon, wie die Fluchtwege gen Westen immer enger wurden, wie immer mehr Löcher in der Mauer von der DDR-Staatssicherheit geschlossen wurden und die Kosten für die Fluchthilfe enorm stiegen. Die Fluchthelfer waren gezwungen, immer höhere Beträge von den westdeutschen Angehörigen der Fluchtwilligen im Voraus zu kassieren.

    "Dennoch haben sie nicht aufgegeben und vor allem deswegen auch nicht beenden können, weil inzwischen der Schuldenberg so hoch angewachsen war und einige für ihre zu holenden Flüchtlinge schon gezahlt hatten, und sie das einfach noch irgendwie, abwickeln mussten, sodass sie also bis 1964 dann systematisch versucht haben, alle Forderungen zu erfüllen und dann die Fluchthilfe beendet haben."

    Bis zu diesem Zeitpunkt gelangten etwa 1000 Flüchtlinge mithilfe der Girrmann-Gruppe in den Westen. Viele von ihnen fassten sehr detailreiche Berichte über die Situation in der DDR ab. In den Worten von Maria Nooke:

    "Die SED hat massiven Druck ausgeübt in allen Bereichen - ob das in den Schulen, in den Universitäten, in den Arbeitsstätten, in der Landwirtschaft, in der Industrie war (...) die Leute sollten dazu gebracht werden, diese sogenannten Maßnahmen zur Friedenssicherung zu befürworten, und man wollte jeglichen Protest im Keim ersticken."

    Und so verlegten sich Teile der eingemauerten Bevölkerung auf passiven Widerstand. Vielfach werde gebummelt und es fehle zudem an Material, notieren die Flüchtlinge. Aber noch etwas kommt zur Sprache - eine große Enttäuschung über die Haltung des Westens, wie hier im Bericht des im November 1961 geflüchteten Studenten Günter G.:

    Die vom Westen sehnsüchtig erhoffte Hilfe, die auf verschiedene Arten möglich gewesen wäre, blieb aus, abgesehen von zahlreichen Lippenbekenntnissen prominenter Mauer-Touristen. Wir fühlten uns verlassen und von unseren Landsleuten im Westen abgeschrieben, die anscheinend vor lauter Wirtschaftswunder unsere Sorgen nicht verstanden und die sich vor allem in West-Berlin um ihre eigene, teure Haut besorgt zeigten."

    Selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Flüchtlinge die Verhältnisse im geteilten Berlin negativer wahrnahmen als Kollegen und Freunde, die blieben, so nimmt dies den Schilderungen bis heute nichts von ihrer Härte. Einige äußern auch einen trotzigen Stolz auf die eigene Standhaftigkeit unter den Bedingungen der Diktatur. So schreibt eine Medizinstudentin:

    Jahrelang sind wir zu Marxisten und Materialisten erzogen worden, aber ich glaube mit Gewissheit sagen zu dürfen, dass wir Studenten im Osten größere Idealisten sind und mehr für unsere Ideale kämpfen als unsere Kommilitonen im Westen. Wie viele Studenten im Westen beschäftigen sich überhaupt mit unseren Problemen? Ich glaube, behaupten zu können, dass ein großer Teil der Studenten trotz Rundfunk und Presse gar nicht über das Geschehen orientiert ist und sich auch gar nicht dafür interessiert.

    Ebenfalls negativ empfanden viele ihre Ankunft im Notaufnahmelager Marienfelde. Einer von ihnen berichtet über das Verfahren:

    Von den Personen in den Büros von Marienfelde wurde man meist recht hochmütig behandelt und kam sich oft degradiert und als Mensch zweiter Klasse vor.

    Die meisten Flüchtlinge überwanden solch negative Eindrücke rasch und kamen schnell im bundesdeutschen Alltag an. Ihnen dabei zu helfen oder ihnen doch während der Zeit des Lageraufenthalts beizustehen, war eines der Hauptanliegen der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge in West-Berlin. Den etwa 1000 Aufnahmen umfassenden Fotobestand dieser Einrichtung hat Clemens Niedenthal jetzt unter dem Titel "Nahaufnahme" im Auftrag der Stiftung Berliner Mauer ausgewertet.

    Wenn ich ins Lager kam, waren es die Kinder, die mich mit lauter Freude bestürmten und begrüßten. Kinder, die sich nach etwas Liebe und Wärme sehnten, während ihre Mütter ruhig weiterschliefen oder in einem 30-Pfennig-Roman schmökerten.

    So begann ein Pfarrer seinen Bericht über die Verhältnisse in den West-Berliner Aufnahmelagern. Ganz deutlich traten dabei einige der zeitgenössischen Vorbehalte den Flüchtlingen gegenüber zutage, Vorbehalte, die er so an seine Heimatgemeinde in der Bundesrepublik weitergab. Zusätzlich dokumentierten Fotos mit ähnlicher Aussage den seelsorgerischen Einsatz in den Lagern: Damit hoffte man, vor allem die Spendenbereitschaft von West-Berlinern und Bundesbürgern zu erhöhen. Autor Clemens Niedenthal über sein Quellenmaterial:

    "Das Spannende war, dass man inszenierte Bilder sieht, die trotzdem als authentische Quelle ernst zu nehmen sind. [...] Dass man inszenierte Bilder hat, die die Evangelische Flüchtlingsseelsorge mit einer ganz klaren Intention in Auftrag gegeben hat, und diese Bilder erzählen trotzdem ganz viel Ernstzunehmendes, Authentisches aus dem Alltag in den Notaufnahmelagern."

    In sieben Kapiteln zeichnet Niedenthal diesen Alltag nach, den man kaum als solchen bezeichnen möchte: Menschen in großen Fabrikhallen und anderen Massenunterkünften, deren Privatsphäre durch behelfsmäßig mit Decken abgetrennte Zellen kaum vorhanden scheint. Flüchtlinge, die vor riesigen Schuh- und Kleiderbergen stehen, aus denen sie sich Passendes auswählen dürfen. Und: Kinder, die sich scheinbar allein gelassen irgendwie abzulenken versuchen. Dazwischen aber auch Skurriles:

    "Es gab eine Frau, die ist mit 15 Königspudeln geflohen, weil sie wohl Hundezüchterin war, und diese Hunde waren ihr Kapital. Und das wird einfach im Bild auf eine ja fast schon rührende, ein wenig auch ironisch-distanzierte Art und Weise gezeigt. Das sind einfach so Bilder, wo man dann merkt, da ist dieses Riesenthema "Flucht im geteilten Deutschland" so richtig auch in persönlichen Geschichten erfahrbar und greifbar und pointiert."

    Fazit: "Nahaufnahme" und "Fluchtziel Freiheit", die ersten beiden Bände dieser Reihe der Stiftung Berliner Mauer, beleuchten zentrale Stationen des deutsch-deutschen Fluchtgeschehens und ergänzen sich in ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung perfekt.

    Maria Nooke/Lydia Dollmann (Hrsg.): Fluchtziel Freiheit. Berichte von DDR-Flüchtlingen über die Situation nach dem Mauerbau
    Christoph Links Verlag, 136 Seiten, 14,90 Euro
    ISBN: 978-3-861-53620-8

    Clemens Niedenthal: Nahaufnahme. Fotografierter Alltag in West-Berliner Flüchtlingslagern
    Christoph Links Verlag, 96 Seiten, 12,90 Euro
    ISBN: 978-3-861-53621-5