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Auf der Spur des verlorenen Gottes. Die großen Religionsphilosophen im 20. Jahrhundert

Gott ist tot – dieses berühmte Verdikt, das Nietzsche vor gut 120 Jahren niederschrieb, scheint bis heute nichts an seiner Aussagekraft eingebüßt zu haben. Zumindest eines ist sicher: Der wissenschaftlich-technologische Fortschritt hat die Religion in ihrer sinnstiftenden und weltdeutenden Funktion zunehmend geschwächt – Religionsausübung ist immer mehr zu einer privaten, individuell gewählten Angelegenheit geworden.

Nicole Ruchlak | 29.07.2003
    Bedeutet dies zugleich, dass in der Gegenwartsphilosophie das Reden über Gott völlig verstummt ist? Keineswegs – das führt Hans-Martin Schönherr-Mann klar vor Augen in seinem Buch "Auf der Spur des verlorenen Gottes". Darin bespricht er zwölf Philosophen des 20. Jahrhunderts – darunter so unterschiedliche Denker wie Wittgenstein, Whitehead, Max Weber, Heidegger, Jonas und Lévinas. Dabei zeigt sich einerseits, wie heterogen die religionsphilosophischen Wege sind, die die großen Denker des letzten Jahrhunderts beschritten haben. Andererseits verbindet sie trotz ihrer diversen Konzepte zwei Gemeinsamkeiten: Erstens akzeptieren sie alle die Diagnose vom Tod Gottes als zutreffende Beschreibung der gesellschaftlichen Haltung. Zweitens, so Schönherr-Mann, suchen sie nach Glaubensansätzen gerade in den Entwicklungen, die zur Verdrängung der Religion als feste Instanz beigetragen haben.

    Der französische Philosoph Henri Bergson etwa betrachtet die Entwicklung der Technik und die Dominanz des mechanistischen Denkens als entscheidende Faktoren dafür, dass die spirituelle Dimension des Menschen im Laufe der Zeit verschütt gegangen ist. Aber statt die Technik aus diesem Grunde zu verwerfen, begreift Bergson sie als Chance. Denn die moderne Technik befriedige die körperlichen Bedürfnisse so weitgehend, dass sich daraus eine Entwicklungsoption für die mystischen Anlagen der Menschen eröffnen.

    Im Vergleich zum Lebensphilosophen Henri Bergson ist der US-amerikanische Philosoph William James weit pragmatischer, wie Schönherr-Mann betont. James richtet sein Denken radikal an Ergebnissen aus der Erfahrungswelt aus. Dabei meint er, auch die Realität der Religion empirisch beweisen zu können – eine Herangehensweise, die den Leser zunächst verwundert. Denn: Neigt die Erfahrungswissenschaft nicht zum Atheismus, indem sie jede Orientierung zum Jenseits hin ausblendet? Nicht unbedingt, erläutert Schönherr-Mann in seinem Aufsatz: Die Realität der Religion zeige sich James zufolge in ihrer konkreten Wirkung, wie sie das Individuum etwa im Gebet erfährt. Der Nutzen der Religion für das Individuum sei daher das beste Argument dafür, dass in ihr Wahrheit liege.

    Dass William James in seinen religionsphilosophischen Überlegungen auf seine Beobachtung lebensweltlicher Phänomene vertraut anstatt auf die Suche nach einem logisch geführten Gottesbeweis, führt der Autor auf klar verständliche Weise aus. In der Klarheit liegt die Stärke des gesamtes Buches: Schönherr-Mann gibt zunächst einen kurzen Überblick über das philosophische System jedes besprochenen Denkers, um anschließend dessen spezifische religionsphilosophische Position auszuführen. Dabei bindet er seine Erläuterungen in eine Beschreibung der gesellschaftlichen Situation ein, wodurch die Aktualität der Fragestellungen und ihre Verwobenheit mit innerweltlichen Problemen deutlich zutage treten. Deutlich zutage tritt in den Ausführungen der Philosophen ein weiterer Punkt, den Schönherr-Mann mit dem italienischen Philosophen Gianni Vattimo folgendermaßen ausdrückt: Wenn es mit Nietzsche keine letzten Gewißheiten mehr gibt, dann schwächt eben das auch jene modernen Theorien, die den wissenschaftlichen Fortschritt propagiert und den Glauben an Gott als unseriös verworfen haben. Daher gebe es heute keine starken philosophischen Gründe mehr dafür, Atheist zu sein oder die Religion abzulehnen.