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Auf der Suche nach Auswegen

Derzeit diskutieren die US-Amerikaner über die richtige Strategie in Afghanistan. US-Präsident Barack Obama muss sich auch im eigenen Land um Alliierte bemühen.

Von Klaus Jürgen Haller | 20.10.2009
    Populär ist der Krieg in Afghanistan auch in den Vereinigten Staaten nicht mehr. Dass es sich um einen Krieg handelt, ist allerdings unbestritten. Den Berlin-Korrespondenten von National Public Radio wunderte deshalb, dass deutsche Politiker von Friedensmission, von Polizeieinsatz und humanitärem Einsatz sprechen, aber nicht vom Krieg. Als versuchten sie, die Öffentlichkeit überzeugen, dass sie 4.200 Sozialarbeiter nach Afghanistan geschickt hätten und keine Soldaten der Bundeswehr.

    In diesem Krieg haben fast 900 Amerikaner ihr Leben gelassen. Dabei war der Beginn vielversprechend. Beim Sturz der Taliban Ende 2001 standen keine 500 Amerikaner auf afghanischem Boden; 316 Soldaten und 110 Agenten der CIA, die mit vielen Millionen Dollar im Gepäck die Kämpfer der Nordallianz motiviert hatten, etwa 25.000, gegen die zahlenmäßig überlegenen Taliban – rund 45.000 Mann - anzutreten. Dass diese Mazar-i-Sharif, Kabul und schließlich Kandahar fluchtartig räumten, lag an der massiven amerikanischen und britischen Luftunterstützung der Nordallianz. Weniger überzeugend war, dass die Führungskader der Taliban und der El Kaida sich ins pakistanische Grenzgebiet absetzen konnten.

    Barack Obama hat dem Angriff auf den Irak von Anfang an widersprochen; den Krieg in Afghanistan nennt auch er einen unausweichlichen Krieg, den man sich nicht ausgesucht habe. Ein unausweichlicher, ein unpopulärer, ein lange vernachlässigter Krieg. Gleich bei Amtsantritt hatte Präsident Obama eine Bestandsaufnahme in Auftrag gegeben und Ende März lag das Ergebnis vor:

    Obama: "Die Lage wird immer gefährlicher. Über sieben Jahre nach dem Sturz der Taliban geht der Krieg immer noch weiter; Aufständische kontrollieren Teile Afghanistans und Pakistans. Angriffe auf unsere Truppen, unsere NATO-Verbündeten und die afghanische Regierung haben ständig zugenommen. Am schmerzlichsten, 2008 war für die amerikanischen Streitkräfte das verlustreichste Jahr des Krieges."

    Was wollen wir in Afghanistan, weshalb kämpfen wir dort? Fragen wie diese verlangten eine klare Antwort.

    Obama: "Wir sind nicht in Afghanistan, um das Land zu kontrollieren oder seine Zukunft zu diktieren. Wir sind in Afghanistan, um einem gemeinsamen Feind entgegenzutreten, der die Vereinigten Staaten, unsere Freunde und Verbündeten und die Bürger von Afghanistan und Pakistan bedroht, die am meisten unter den gewalttätigen Extremisten gelitten haben."

    Das bezog sich auf die Terroristen der El Kaida , die im pakistanischen Unterschlupf neue Anschläge planten. Schön, sagen Gegner eines verstärkten militärischen Engagements; El Kaida spielt in Afghanistan doch keine Rolle mehr; warum liefern wir uns mit den Taliban blutige Gefechte, die immer Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern, was den Aufständischen neuen Zulauf garantiert. Wir sollten stattdessen die Atommacht Pakistan stabilisieren und Terroristen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet mit Spezialtruppen unter Einsatz bewaffneter Drohnen bekämpfen, also mit weniger Soldaten. Überall liest man, dass Vizepräsident Biden dieser Auffassung sei.
    Dem widersprechen andere: Erst einmal müssen wir der afghanischen Bevölkerung - wie der im Irak - ein Mindestmaß an Sicherheit bieten; ansonsten erhalten wir auch keine verlässlichen Aufklärungsergebnisse. Und sollten die Taliban in Afghanistan wieder das Kommando übernehmen, wäre El Kaida auch mit von der Partie. Diese Auffassung scheint Präsident Obama zu teilen:
    "Falls die die Taliban in Afghanistan an die Macht kommen oder El Kaida nicht bekämpft wird, wird das Land von neuem zum Stützpunkt von Terroristen, die so viele wie möglich von uns umbringen wollen."

    Was ist demzufolge das strategische Ziel?

    Obama: "El Kaida in Pakistan und Afghanistan zu bekämpfen, zu vernichten und zu besiegen und ihre Rückkehr in beide Länder zu verhindern."

    Auf den ersten Blick ist das ein begrenztes Ziel; aber Obama fuhr fort: Wir brauchen Diplomatie, Entwicklung und eine verantwortliche Regierung, in Kabul nämlich, eine Verbesserung der Lebensbedingungen und vor allem Sicherheit für die Bevölkerung.

    Obama: "Wir müssen das afghanische Volk beschützen und die Lebensbedingungen im Lande verbessern."
    Weil der Schutz der Bevölkerung vor den Taliban mehr Soldaten erfordert als der Kampf gegen Terroristen, ordnete Präsident Obama an, dass die amerikanischen Truppen in Afghanistan bis zum Jahresende um 21.000 auf 68.000 Mann verstärkt werden. Demnach stünden Ende des Jahres rund 100.000 ausländische Soldaten in Afghanistan, zwei Drittel davon in amerikanischer Uniform. Wie die "Washington Post" in der vergangenen Woche meldete, sind - ohne öffentliche Ankündigung – weitere 13.000 Mann Kampfunterstützungstruppen für den Afghanistaneinsatz mobilisiert worden. Ob das reicht oder ob zusätzlich noch einmal 30.000 bis 40.000 Soldaten in Marsch gesetzt werden müssen, ist Gegenstand einer überaus heftigen Diskussion.

    Obama: "Sechs Jahre lang sind Afghanistan die von Kabul verlangten Mittel verweigert worden, wegen des Kriegs im Irak."

    Neben den Soldaten fehlte offenbar auch eine angemessene Strategie. Dies sei die erste seit Anfang der 80er-Jahre, sagt Verteidigungsminister Gates, und damals sei es weniger um Afghanistan als um die Sowjetunion gegangen, die sich am Hindukusch zehn Jahre ohne Erfolg mit Aufständischen herumschlug, die von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten unterstützt wurden. Demnach hätte auch die Administration des George W. Bush, der Gates auch schon als Verteidigungsminister angehörte, für Afghanistan keine wirkliche Strategie gehabt.

    Robert Gates: "Wir verfolgten eine Hinhaltetaktik; wir waren voll im Irak engagiert. Im ersten Monat im Amt, im Januar 07, habe ich den Einsatz der 10. Gebirgsdivision verlängert; im Frühjahr 2007 habe ich eine weitere Brigade nach Afghanistan geschickt. Mehr hatten wir nicht; wir waren überlastet. Ich glaube, wir hatten keine umfassende Strategie in der Art, wie wir sie jetzt haben."

    Aufstandsbekämpfung nennt man diese Strategie, counter-insurgency im Englischen. Sie zielt weniger auf die Vernichtung des Gegners, als darauf, ihm die Unterstützung der Bevölkerung streitig zu machen und Zeit für den Aufbau der afghanischen Streitkräfte zu gewinnen. Der Befehlshaber in Afghanistan, General David McKiernan, war offenbar nicht der richtige Mann für den neuen Ansatz; jedenfalls wurde er im Frühjahr Knall auf Fall seines Kommandos enthoben. Dabei lag er, seinen öffentlichen Äußerungen nach zu urteilen, durchaus auf Präsident Obamas Linie.

    Gen. Davic McKiernan: "Der Krieg kann gewonnen werden. Aber wir sollten das nicht nur unter militärischen Vorzeichen sehen. Wir brauchen Sicherheit, eine verantwortliche Regierungsführung und sozio-ökonomischen Fortschritt, und das alles umfassend. Aber dieser Feldzug ist auf jeden Fall zu gewinnen und er wird gewonnen."

    Die Begründung für die höchst ungewöhnliche Amtsenthebung eines Viersternegenerals mitten im Krieg klang geradezu läppisch.

    Robert Gates: "Wir haben eine neue Strategie, einen neuen Auftrag und einen neuen Botschafter. Ich glaube, wir brauchen auch eine neue militärische Führung."

    Der neue Befehlshaber, General Stanley McChrystal, hatte zuvor im Irak wie auch in Afghanistan Spezialkräfte geführt.

    Gen. McChrystal: "Wir gewinnen nicht, indem wir die Taliban zerschlagen, nicht durch die Zahl der getöteten Feinde, nicht durch die Zahl erfolgreicher Angriffe. Wir gewinnen, wenn die Bevölkerung will, dass wir gewinnen."

    Der Schutz der Zivilbevölkerung war nunmehr oberstes militärisches Ziel. Sobald Zivilisten erkennbar gefährdet waren, hatten Luftangriffe zu unterbleiben.

    Gen. McChrystal: "Wenn wir sagen, wir sind Euretwegen hier; wir respektieren Euch und wollen Euch beschützen und zerstören dann ihre Häuser, töten ihre Verwandten und vernichten ihre Ernte, fällt es ihnen schwer, das zu begreifen."

    General McChrystal ordnete an, der Bevölkerung mit Respekt zu begegnen - schon im Straßenverkehr - und auf sie zuzugehen. Also raus aus befestigten Stellungen und gepanzerten Fahrzeugen. Damit sind zusätzliche Risiken verbunden, und das sei den Angehörigen der Soldaten doch kaum zu vermitteln, gab ein Reporter zu bedenken. Die Antwort: Das größte Risiko wäre der Verlust der Unterstützung der Bevölkerung.

    Gen. McChrystal: "Wenn sie uns als Besatzer und Feinde ansehen, können wir keinen Erfolg haben und die Opferzahlen werden dramatisch steigen."

    In der Öffentlichkeit verzichtet General McChrystal ostentativ auf seine Splitterweste; seine afghanischen Gesprächspartner trügen auch keine. Aber das hat ihn nicht in die Schlagzeilen gebracht. Zwei Monate ging der neue Befehlshaber der Frage nach, ob die neue Strategie mit den vorhandenen Kräften zu bewältigen sei. Die Antwort war: Nein.

    McChrystals Botschaft lautet: die Lage in Afghanistan ist prekärer als angenommen; falls die USA in den kommenden 12 Monaten nicht die Initiative ergreifen und die Aufständischen zurückwerfen, könnte eine Lage entstehen, in der der Krieg nicht mehr gewonnen werden kann. Als dann noch jemand unter die Leute brachte, General McChrystal werde bis zu 40.000 zusätzliche Soldaten fordern – der Bericht selbst nennt keine Zahlen -, brach die überfällige Afghanistan-Debatte los. Bei einem Vortrag in London wiederholte General McChrystal öffentlich, die Lage in Afghanistan verschlechtere sich. Eine enorme Zahl von Dorfbewohnern lebe in Furcht. Afghanische Offizielle seien nicht willens oder nicht fähig, der Bevölkerung effektiv zu dienen. Die Gewalt habe zugenommen.

    Als McChrystal Überlegungen, ohne mehr Soldaten auszukommen, "ineffektiv" und "kurzsichtig" nannte, wurde er von Präsident Obama kurzerhand nach Kopenhagen zitiert, wo es um olympische Austragungsorte ging. In einem privaten Gespräch an Bord der Air Force One dürfte der Präsident dem General die Spielregeln erläutert haben: ungeschminkte Ratschläge ja; aber auf den Dienstweg, nicht über die Öffentlichkeit.

    Natürlich geriet die Diskussion ins parteipolitische Fahrwasser. Republikaner machen sich für weitere Verstärkungen stark. Hier Senator Mitch McConnell von Kentucky, der Führer der Republikaner im Senat:

    Sen. Mitch McConnell, R-Ky: "Im Interesse unserer langfristigen Sicherheit, sollten wir McChrystals Plan unterstützen. Das nicht zu tun, würde die Auffassung von El Kaida bestätigen, dass Amerika nicht stark und entschlossen genug ist, einen langen Krieg zu führen."

    Ähnlich Senator John McCain von Arizona: In 12 oder 18 Monaten werde man die Anzeichen des Erfolges sehen, wenn man diese Strategie zügig umsetze.

    Obamas Parteifreunde, die Demokraten, zögern. Populär ist der Krieg in Afghanistan schon lange nicht mehr. Zudem legt der massive Wahlbetrug bei den afghanischen Präsidentschaftswahlen die Frage nahe, ob man mit dieser ineffektiven und korrupten Regierung überhaupt vorankommen kann. Senator John Kerry von Massachusetts, der Vorsitzende im Auswärtigen Ausschuss.

    Sen. John Kerry: "Ich denke nicht, dass wir uns mit Zehntausenden Soldaten auf einen langen Krieg eingelassen haben, nur um eine Regierung zu stützen. Das war nicht der ursprüngliche Auftrag. Ich bin auch nicht sicher, dass er gegenwärtig unter diesen Umständen zu erfüllen wäre."

    Die horrende Korruption in Afghanistan kritisieren auch Republikaner wie Senator John McCain:

    "Die Korruption erstreckt sich vom gewöhnlichen Streifenpolizisten bis zu Präsident Karzais Bruder. Das Thema muss angesprochen werden, wenn wir Erfolg haben wollen. Aber wir hätten keinerlei Erfolgschancen, wenn wir abzögen."

    Er denke nicht an Abzug, ließ Präsident Obama inzwischen verlauten. Nur seit er Ende März die "umfassende Strategie für Afghanistan und Pakistan" erläuterte, hat sich dreierlei verändert: Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich weiter verschlechtert; die Legitimität Präsident Karzais ist angeschlagen; Pakistan scheint entschlossener gegen El Kaida nd die Taliban, die afghanischen wie die pakistanischen, vorzugehen. Was tun? Verteidigungsminister Gates:

    "Brauchen wir zusätzliche Kräfte, wie viele und wozu? Dieses WOZU müssen wir klar definieren, bevor wir dem Präsidenten Empfehlungen geben."

    Klare Alternativen - hier der Kampf gegen die Terroristen der El Kaida und dort der Schutz der Bevölkerung vor den Taliban – findet man bestenfalls in den Schlagzeilen. Was passierte denn, wenn die Taliban in Afghanistan wieder Fuß fassten?

    "Ich kann gar nicht sagen, wie schnell El Kaida wieder da wäre", sagt Außenministerin Hillary Clinton. Afghanistankenner unter Journalisten zeichnen ein düsteres Bild. Mark Thompson von "Time Magazine" beispielsweise:

    "In der Umgebung von Kandahar und anderswo, vor allem im Süden, haben die Taliban das Sagen. Sie erheben Steuern, sie sprechen Recht. Wenn das so weitergeht, hat die Zentralregierung in Kabul keine Chance."

    Dann der pakistanische Journalist Ahmed Rashid, vielleicht der beste Kenner der Taliban überhaupt:

    "Ich denke, wenn das Engagement in irgendeiner Weise reduziert wird, werden die Taliban in sechs Monaten oder einem Jahr Kabul einnehmen, und die Lage wird sich nachhaltig verschlechtern. Die Taliban werden lokale Verbündete suchen, in Pakistan, im Iran, vielleicht in China, in den arabischen Golfstaaten."
    Ein militanter fundamentalistischer "Talibanismus" breitet sich aus in der Region. Aus dem Mittleren Osten hat er die Bomben am Straßenrand und die Selbstmordattentate übernommen. Dass nach der Sowjetunion eine weitere Großmacht in die Flucht geschlagen würde, kann Präsident Obama nicht zulassen. Wobei nicht ausgeschlossen ist, dass Demokraten im Kongress ihm die Gefolgschaft verweigern. Sollte er – wie einst Bill Clinton - die Mehrheit bei den Republikanern suchen, gefährdete er wichtige Gesetzgebungsvorhaben von der Gesundheitsreform bis zum Klimaschutz. Henry Kissinger hat Obamas Dilemma grausam genannt. Folge er dem Rat General McChrystals nicht, hafte er für die Folgen; folge er ihm, sei Afghanistan sein Krieg, und mit einem Kompromiss könne er sich zwischen alle Stühle setzen. Wo sonst das Gespenst des Vietnamkrieges auftaucht, ist es hier die militärische Niederlage der Sowjetunion. Entsprechende Vergleiche will Verteidigungsminister Gates allerdings nicht gelten lassen.

    Robert Gates: "Sie führten einen Terrorfeldzug gegen die Afghanen. Sie haben wahrscheinlich eine Million Afghanen getötet und fünf Millionen zu Flüchtlingen gemacht und versucht, dem Land ein fremdes sozio-kulturelles System aufzuzwingen. Ich denke, dass die Afghanen uns weiterhin als Verbündeten und Partner betrachten."

    Aber auch das wäre noch keine Garantie, dass die USA und ihre Verbündeten ihr Ziel in Afghanistan erreichen. Was die Vorgänger-Administration nicht wahrhaben wollte, weiß inzwischen jeder: Raus aus dem Schlamassel kommt man erst, wenn halbwegs stabile Verhältnisse herrschen, im Irak wie in Afghanistan. Nur herrscht dort seit 30 Jahren Krieg. Legitime Regierungsinstitutionen, die man dort aufbauen möchte, hat es dort nie gegeben, sagt der Bostoner Historiker Andrew Bacevich, ein ehemaliger Oberst des Heeres. Er scheut sich nicht, die Fragen zu stellen, die viele Amerikaner umtreiben, voran die Angehörigen der Soldaten:

    "Wann werden wir zum Erfolg kommen? In wie viel Jahren? Wie viele zehn oder hundert Milliarden Dollar werden wir aufwenden? Wie viele Hunderte US- und NATO-Soldaten werden ihr Leben verlieren?"