Auf der Suche nach dem Wir

Kriegskinder und Kriegsenkel

43:49 Minuten
Mehrere Hände halten sich gegenseitig fest und bilden einen Kreis
Beim „Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust“ kommen jüdische und nichtjüdische Nachfahren der Zweiten-Weltkriegs-Generation zusammen um über die Erlebnisse und Taten ihrer Eltern und Großeltern zu sprechen. © Canva
Von Ursula Reinsch · 09.07.2021
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In Köln-Marienburg treffen sich alle zwei Monate Menschen, die ihr Kriegserbe erforschen, ihre Erinnerungskultur verbessern oder korrigieren wollen: Kriegskinder und Kriegsenkel. Doch die Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit und der der anderen erfordert viel Mut und Willenskraft.
"Gespenster vertreibt man nur, indem man das Licht anmacht", sagt Peter Pogany-Wnendt mit einem Lachen. Er ist Teil des "Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust", kurz PAKH, in Köln. Seit 1995 kommen hier jüdische und nichtjüdische Nachfahren der Zweiten-Weltkriegs-Generation zusammen, um über die Erlebnisse und Taten ihrer Eltern und Großeltern zu sprechen. Vorkommnisse über die in ihren eigenen Familien oft lange geschwiegen wurde.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gift

Der Arbeitskreis ist 1995 von Psychologen und Psychologinnen gegründet worden. Erda Siebert stieß drei Jahre später dazu, in der Hoffnung, nicht alleine mit der Last der Vergangenheit zu bleiben. Sie erzählt, wie sie als Erwachsene erfuhr, dass ihr Vater im Zweiten Weltkrieg SS-Obersturmbannführer war und den Tod von 300 000 Juden mitverantwortete: "Das war dann natürlich der Hammer und viel schlimmer als das, was man in seinen Phantasien hat. Es war nah und fremd und verrückt und alles zugleich. Das war sehr, sehr schwierig."
Durch die persönliche Auseinandersetzung und Aufklärung, dem Austausch von Täter- und Opfer-Nachkommen, wollen sich die Kriegskinder und Kriegsenkel von den Schatten und Traumata der Vergangenheit befreien, die im schlimmsten Fall Spätfolgen wie Schuldgefühle, schlechten Träume, ein geringes Selbstbewusstsein und mangelnde Selbstfürsorge verursachen können.

Die Menschen hinter den Geschichten

Doch die Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit und der der anderen erfordert viel Mut und Willenskraft. Denn Menschen wie Erda Siebert treffen in der Gruppe auch auf Nachfahren der Opfer, wie den Juden Peter Pogany-Wnendt. Seine Großeltern wurden im Konzentrationslager ermordet, was seinen Vater zeitlebens mit einer tiefen Trauer belegte. Der Psychotherapeut Pogany-Wnendt erzählt, wie er als Kind unter dieser unerklärlichen Trauer gelitten hat: "Ich habe versucht, ein gutes Kind zu sein, ich habe versucht, gute Noten zu haben, ich habe versucht mit ihm Spaß zu haben – ich musste erspüren, was macht ihn glücklich." Um den Vater zu entlasten, habe er unbewusst die Trauer des Vaters übernommen. Das wurde ihm klar, als seine Tochter Rahel ihn in jungen Jahren auf seine "traurigen Augen" ansprach. Jetzt ist auch sie bei den Treffen des PAKH mit dabei.
Zusammen haben die Mitglieder des Arbeitskreises schwierige Momente gemeistert. Peter Pogany-Wnendt erinnert sich, wie Erda Siebert erstmals über ihren Nazi-Vater sprach: "Sie sprach davon, dass sie als Kind ihren Vater natürlich geliebt hat. Als sie das sagte, habe ich gemerkt, dass in mir etwas hochkochte. Dass ich nicht verstehen konnte, wie man einen Täter-Vater lieben kann. Und da bin ich wirklich explodiert." Auch für Erda Siebert war das eine harte Zeit: "Ich bin da aus meiner Naivität herausgeplatzt und habe gemerkt, was ich eigentlich verkörpere. Das war sehr schmerzhaft." Mit Hilfe der anderen schafften es die beiden aber, sich mit den Gefühlen der Schuld und der Wut auseinander zu setzen und Verständnis für das jeweilige Gegenüber zu entwickeln.

Auseinandersetzung für eine bessere Zukunft

Weil die Zeitzeugen verschwinden, ist es wichtig, dass Kriegskinder und -enkel die Aufarbeitung weiterführen. Das Interesse am Austausch ist in den letzten Jahren sichtbar gestiegen: Die Gründung von Selbsthilfegruppen, Internet-Foren und Social-Media-Gruppen helfen dabei, die transgenerationellen Traumata zu verarbeiten und sie möglichst nicht an kommende Generationen weiterzugeben. Dass die Nazivergangenheit vieler Deutscher aber immer noch ein wunder und sensibler Punkt ist, zeigte zuletzt die Diskussion um zwei Kunstschaffende, die auf Instagram über die Verantwortung von "Menschen mit Nazihintergrund" sprachen.
Der Tochter von Peter Pogany-Wnendt ist es wichtig, weiterhin achtsam zu bleiben, um die Traurigkeit ihres Vaters nicht an nachfolgende Generationen weiterzugeben, aber auch um Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft etwas entgegen zu setzen.
Erstsendedatum 03.03.2017 (Dossier)