Auf der Suche nach dem Wir: Schwimmendes Wandertheater

"Genossin Rosi" entert die Provinz

43:40 Minuten
Das Traumschüff ankert am Flussufer, am Ufer sitzt Publikum und sieht die Vorstellung, die auf dem Oberdeck stattfindet.
Das "Traumschüff" bringt Theater direkt zu den Menschen auf dem Land © Judith Geffert
Von Judith Geffert · 23.07.2021
Audio herunterladen
Die Crew der Theatergenossenschaft "Traumschüff" tourte 2019 den ganzen Sommer auf Elbe, Havel und Müritz von Kleinstadt zu Kleinstadt. Wir haben sie begleitet - an Land und auf dem Wasser. Ihr Stück zum Treuhandskandal basiert auf Gesprächen mit den Menschen, denen sie unterwegs begegnen: Kunst als Dialog.
Zwölf Menschen sitzen auf einem Hausboot "Genossin Rosi" in der Mittagssonne und besprechen den anstehenden Tag: So sieht die Morgenroutine der Traumschüff-Crew aus. Um sich gegenseitig im Arbeitstrubel nicht aus den Augen zu verlieren, erzählt jedes Crewmitglied kurz, wie es ihm oder ihr grade geht. Das Kanufahren am Morgen und Yoga auf dem Schiffsdach waren entspannend, da sind sich alle einig - aber jetzt geht es wieder an die Arbeit.

Eine Premiere steht an
Traumschüff-Crew beim morgendlichen Yoga auf dem Schiffsdach
Der Morgen beginnt mit Yoga auf dem Schiffsdach© Deutschlandradio / Judith Geffert
Die Gruppe hat an diesem heißen Juniwochenende im Sommer 2019 in Himmelpfort angelegt, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Fürstenberg/Havel in Brandenburg. Hier soll heute Abend der zweite Teil der Theaterserie "Treue Hände" zur Uraufführung kommen. Autorin Nikola Schmidt hat sich für dieses Stück intensiv mit den Nachwendezeit-Erfahrungen der Menschen in der Region beschäftigt und deren Erzählungen verarbeitet.

Perspektiven auf die Nachwende-Zeit

Bis 1994 war die Treuhandanstalt dafür zuständig, die teilweise maroden DDR-Unternehmen für die freie Marktwirtschaft fit zu machen. Allerdings kam von den versprochenen Investitionen nur selten etwas bei den Unternehmen an. Viele wurden stattdessen massiv abgebaut oder sogar geschlossen. In dieser bewegten Umbruchszeit gab es auch viele Proteste der Bevölkerung - eine Erfahrung, die kaum Platz findet in der gesamtdeutschen Geschichtserzählung. Das wollen die Traumschüff-Mitglieder mit ihrem Theaterstück ändern.

Der Dialog ist wichtig

Jana Grubert arbeitet seit zweieinhalb Jahren sowohl künstlerisch als auch organisatorisch beim "Traumschüff" mit. Damals gab es noch gar kein Schiff, sondern nur die Idee, Gespräche anzustoßen im ländlichen Raum und den Austausch zu suchen mit Menschen, die nicht in der Stadt wohnen und nicht ständig Zugang zu Kunst und Kultur haben.
Inzwischen hat Jana ihre Festanstellung aufgegeben, um sich komplett dem Aufbau des professionellen Theaterbetriebs zu widmen. Und der schreitet schnellen Schrittes voran: Zwei Jahre nach der Gründung der Theatergenossenschaft ist der Katamaran "Genossin Rosi" von Mai bis September ununterbrochen unterwegs und fährt in einem großen Bogen um Berlin herum, vorbei an 24 Städten und durch drei Bundesländer hindurch. Das dafür nötige Know-How haben sich die Crewmitglieder selbst beigebracht, einige machten extra den Sportbootsführerschein, um das 13 Meter mal 4,80 Meter große Schiff zu lenken.

Der Tag der Premiere

David Schellenberg steht am Tonpult. Die Technik steht an einem Wiesenhang, gegenüber der Bühne, die sich auf dem Schiff befindet. Wie bei einem Amphitheater sind in absteigenden Reihen Bierbänke angeordnet, ganz unten ankert das Schiff vor der Kulisse des Sees und der vorbeifahrenden Boote. David ist eigentlich ausgebildeter Schauspieler, für das Traumschüff ist er allerdings in die Rolle des Regisseurs geschlüpft.

"Es ist ein sehr minimalistisches Stück, die Bilder entstehen nicht direkt auf der Bühne, sondern in den Köpfen. Viele von unseren Zuschauern haben die Wende miterlebt und haben eigene Bilder und Gerüche im Kopf. Das wollen wir wieder lebendig machen", erklärt er das Konzept hinter dem Stück.
Dabei helfen ihnen auch die Kostüme und Requisiten, die teilweise Originale sind. "Diese zwei Helme, das sind Helme fürs Kaltwalzwerk, das privatisiert werden soll in der Serie. Und die haben wir tatsächlich aus Oranienburg aus dem Kaltwalzwerk um das sich das alles dreht. Die hat uns der wirklich echte Betriebsrat organisieren können. Der tatsächlich diese Geschichte, die wir erzählen, auch selber erlebt hat", erzählt einer der Schauspieler stolz.


Gespräche mit dem Publikum nach dem Stück zeigen, dass viele hier genau wissen, worum es geht. Eine Frau erzählt, sie habe selbst erlebt, wie ihr Betrieb abgewickelt worden sei und dabei ihren Job verloren. Lange Zeit habe sie nicht mehr daran gedacht. Deshalb freut sie sich umso mehr, dass das junge Ensemble des Traumschüffs nun diesen Teil ihrer Vergangenheit wieder lebendig macht. Eine andere Frau berichtet davon, wie sie selbst Demonstrationen und Streiks mitorganisiert hat und dass sie sogar weinen musste, weil ihr das Stück so naheging.
Noch lange wird an diesem Abend diskutiert, denn auch das ist Teil des Konzepts des Traumschüffs: nach dem Stück nicht weggehen, sondern dableiben und mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Dennoch kehrt früh Ruhe ein, denn am nächsten Tag soll es schon weitergehen - um elf wird ein Kindertheaterstück gespielt, danach legt "Genossin Rosi" ab und fährt zu ihrem nächsten Spielort.

Aufbruchsstimmung

Am nächsten Morgen sind von den zwölf Crewmitgliedern nur noch sechs übrig. Viele Teammitglieder fahren gar nicht auf dem Schiff mit, sondern kommen zu den Spielorten aus der Stadt angefahren. Myriam Oosterkamp dagegen ist bei den meisten Überfahrten dabei und kümmert sich vor allem um die Öffentlichkeitsarbeit.

Bei der Abfahrt übernimmt sie die Rolle der Matrosin - sie kommuniziert mit dem Skipper und den anderen Crewmitgliedern, gibt Befehle und Abstandsangaben durch. Die gute Kommunikation der einzelnen Crewmitglieder untereinander ist vor allem beim Queren von Schleusen wichtig. Jede Schleuse ist ein Abenteuer - meistens sind nur wenige Zentimeter Platz zwischen Schleusenwand und Schiff, die Crew muss alle Kräfte anstrengen, damit das Schiff nicht an der Wand aufprallt.
Beim gemeinsamen Abendessen werden die Erlebnisse besprochen. Haben die Traumschüff-Mitglieder das Gefühl, etwas zu bewirken? "Im Kleinen", antwortet Jana. "Wenn da Leute zu Gast sind im Ort, dann werden andere Gespräche geführt als sonst." Allerdings würde grade das Thema Treuhand auch Leute daran hindern, zu den Vorstellungen zu kommen, meint Myriam. "Das zeugt nur davon, dass das auch ein riesen Schmerz ist und ein Thema, das nie verarbeitet wurde. Was wir hier machen, ist einen ersten Schritt gehen und aus unserer jungen Position heraus versuchen zu verstehen: Was ist denn da passiert?"
(Erstsendedatum 09.08.2019)