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Auf der Suche nach der Seele Amerikas

Der "schon fast wahnhafte Antiamerikanismus der Europäer" war es nach eigener Aussage, was den französischen Philosophen Bernhard-Henri Lévy zu seinem Reisebericht "American Vertigo" inspiriert hat. Sein Ziel: zeigen, was dieses Land wirklich ist.

Moderation: Oliver Seppelfricke | 16.05.2007
    Oliver Seppelfricke: Bernard-Henri Lévy, was hat Sie persönlich zu dieser Reise, zu diesem Abenteuer angetrieben?

    Bernard-Henri Lévy: "Der schon fast wahnhafte Antiamerikanismus der Europäer. Das wurde mir einfach zu viel. Ich wollte den Europäern zeigen, was Amerika wirklich ist. Seine Vorzüge, seine Nachteile. Die guten und die schlechten Seiten. Hier in Europa haben wir ja nur Klischees, Bilder über Amerika: Die Weltpolizei. Die Angriffsmacht. Die übervollen Gefängnisse. Hollywood. Der Sport. Showbiz. Die große Kluft zwischen arm und reich. Ich wollte einmal ganz konkret anhand einzelner Ereignisse und Begebenheiten zeigen, was dieses Land wirklich ist. Wenn man es mit einem verzerrten Bild zu tun hat, dann hilft nur ein Blick auf die Realität. Ohne jede Verallgemeinerung. Die ja häufig in Vergleichen endet mit dem Verhalten der Nazis oder mit dem von Terroristen."

    Seppelfricke: Wie ist das praktisch abgelaufen? Hatten Sie eine Route im Kopf oder sind Sie einfach drauflos gefahren?

    Lévy: "Ich bin eher drauflos gefahren. Es war eine Abenteuerreise. Ich musste viel improvisieren. Immer war irgendwo etwas los. An jeder Straßenecke lauerte ein Ereignis. Ich hatte mich wie die ersten Siedler gefühlt. Die in den wilden und unbekannten Westen aufbrachen. Natürlich hatte ich auch Termine. Die die Zeitschrift ausgemacht hatte. Oder ich selbst habe sie abgemacht. Zu Norman Mailer bin ich nicht einfach so gegangen. Ich habe mich vorher mit ihm verabredet. Aber der Hauptteil des Buchs, das sind die Begegnungen mit Unbekannten. Mit Leuten, die ich auf der Straße getroffen habe. In Bars. In Restaurants. Unterwegs. Aus purem Zufall."

    Seppelfricke: Der Buchtitel "American Vertigo" lässt an Hitchcocks Film denken. Ist Ihnen schwindlig geworden, als Sie nach Amerika kamen?

    Lévy: "Nicht mir wurde schwindlig. Sondern den Amerikanern ist schwindlig. Sie taumeln. Sie sind in ihrer Identität verunsichert. Sie wissen nicht, wohin sie steuern. Sie wissen nicht, was sie machen wollen. Was sie machen sollen. Sie merken, dass der Boden unter ihnen schwankt. Sie fühlen sich wie vor dem Nichts. Wie vor einem Abgrund. Das wollte ich untersuchen."

    Seppelfricke: Sie sind häufig in den USA. Was hat sich gegenüber ihren früheren Reisen verändert? Was hat sie am meisten beeindruckt? Oder schockiert?

    Lévy: "Der Rechtsruck in den USA hat mich am meisten geschockt. Die Ära Bush und ihre Auswirkungen auf das Land und auf die ganze Welt. Wenn ich aber das Jahr 2005 mit den Sechzigern vergleiche, als ich zum ersten Mal in den USA war, dann fällt mir am meisten die unglaubliche Demokratisierung auf. Die Entwicklung der Bürgerrechte. Das gleicht einer Revolution. Wenn Sie heute im Süden unterwegs sind, in Tennessee, in Alabama, in Arkansas, dann fällt Ihnen auf, dass der Rassismus in seiner alten Form nicht mehr existiert. Der typische alkoholisierte, weiße Ku-Klux-Klan-Anhänger - den gibt es nicht mehr. Zumindest nicht öffentlich. Vielleicht gibt es ihn noch in seinem Herzen. Denn jeder weiß, wenn er das auslebt, landet er im Gefängnis. Diese Demokratisierung, diese Entwicklung der Bürgerrechte, dieser Schritt in Richtung Gleichheit, der sich während vierzig Jahren vollzogen hat, das ist einfach unglaublich. Das ist einzigartig. Die Ära Bush und der Neokonservatismus, das sind für mich lediglich Nachgefechte. Die Republikaner wissen ganz genau, dass sie den Kampf verloren haben. Sie wollen nicht untergehen und so führen sie im Moment ihre letzte Schlacht."

    Seppelfricke: Sie haben berühmte Leute getroffen wie Sharon Stone oder Warren Beatty, aber auch unbekannte Leute. Nach welchen Kriterien haben sie Ihre Gesprächspartner ausgewählt?

    Lévy: "Es gab eigentlich keine Kriterien. Das ganze hat eher spontan stattgefunden. Warren Beatty traf ich zum Beispiel auf einer Gewerkschaftsveranstaltung. Völlig zufällig. Wir lernten uns kennen und wir wurden Freunde. Man sagt immer: "Lévy auf den Spuren Tocquevilles". Ja, das stimmt. So lautete der Auftrag. Aber ich habe mich eher auf den Spuren von Jack Kerouac gefühlt: völlig "On the road"

    Seppelfricke: Der kürzlich verstorbene Jean Baudrillard sagte einmal: "Frankreich ist ein Land. Die USA sind ein Modell." Stimmt das?

    Lévy: "Wenn das stimmt, dann in dem Sinn, dass die USA ein Modell dafür sind, dass ein vereintes Europa möglich ist. Ich kam in den USA an und Frankreich hatte gerade gegen die EU-Verfassung gestimmt. Das hat mich sehr traurig gemacht. Ich habe an Europa gezweifelt. Als ich dann in den USA ankam, begriff ich, dass genau hier das stattgefunden hat, was für Europa möglich ist."

    Seppelfricke: Was war die lustigste Anekdote auf Ihrer Reise?

    Lévy: "Als ich einmal am Straßenrand anhielt, um zu pinkeln, da kam ein Polizist. Er sagte, das gehe nicht, da gibt es kein Pardon. Ich sagte ihm, ich sei Franzose. Das hat erst einmal alles verschlimmert. Dann habe ich ihm gesagt, dass ich ein Schriftsteller sei. dass ich über Daniel Pearl schreibe. Da wurde alles noch schlimmer. Dann sagte ich ihm, dass ich auf den Spuren Tocquevilles sei. Da hellte sich sein Gesicht auf. "Alexis de Tocqueville"? "Ja", sagte ich, "genau. Kennen Sie ihn?". "Aber ja. Na, wenn das so ist, dann sind Sie ein Bruder." Und er ließ mich gehen. Dieser Cop beim Hinausfahren aus Chicago - das war die amüsanteste Anekdote."

    Seppelfricke: Und das Schlimmste, was Ihnen passiert ist?

    Lévy: "Das ist Tracey. Eine Bedienung in einer Bar. Sie kam aus einer reinen Bergarbeiterfamilie. Großvater, Vater, Mann, sie alle waren in den Minen. Tracey arbeitet hart, aber sie verdient nicht genug. Ihr Mann ist Alkoholiker, drogenabhängig, der Großvater ist depressiv - da habe ich die Schattenseite Amerikas gesehen. Dieses Versprechen auf persönliches Glück. Das in der Verfassung verankert ist. Und dann die Wirklichkeit. Fürchterliche Armut."

    Seppelfricke: Was sind also die USA - in einem Satz?

    Lévy: "Ein großes demokratisches Land. Mit einer wirklich lebendigen Demokratie. Auch wenn es Schattenseiten gibt. Guantanamo zum Beispiel. Ich war dort. Aber die Lebendigkeit der Demokratie, das ist unglaublich."

    Seppelfricke: Jeremy Rifkin, der Soziologe und Philosoph, meint in einem seiner letzten Bücher: Die Zukunft gehört eindeutig Europa. Die USA werden in ihrem Rang untergehen. Was halten Sie davon?

    Lévy: "Zunächst hoffe ich, dass die USA uns Europäern immer noch als Vorbild dienen. Und zwar was die Möglichkeit angeht, ein Land, eine Nation zu bilden. Mit Menschen, die nichts miteinander gemeinsam haben. Noch nicht einmal die Sprache. Die aber alle die Liebe zur Verfassung teilen. Das halte ich für vorbildlich. Versuchen wir Europäer also erst einmal, eine gemeinsame Verfassung zu erarbeiten. Solange wir das nicht haben, sind die USA immer noch für uns das Modell für die "Vereinigten Staaten von Europa.""