Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Auf der Suche nach Wahrheit und Authentizität

Mehrere Musik, Tanz- und Theaterfestivals machen den einst geruhsamen Januar in New York derzeit zu einem "heißen" Kulturmonat. Um das Jahrestreffen der "Association of Performing Art Presenters" herum, das eine Art Expo der darstellenden Künste ist, gibt es etwa das Coil-Festival im PS122, das neue "Culturmart Festival" in Lower Manhattan und vor allem das Festival "Under the Radar".

Von Andreas Robertz | 13.01.2010
    Während sich das Coil-Festival im PS122 vor allem als ein Festival der New Yorker Underground Performance Szene versteht und sich in den hybriden Formen zwischen Kunstinstallation, Objekt-Theater und Life Konzert bewegt, will das Under The Radar Festival nach neuen aufstrebenden Künstlern und Richtungen der internationalen Off-Theater-Szene fahnden. In seinem mittlerweile sechsten Jahr hat es noch an Vielfalt und Internationalität dazugewonnen. In 21 Produktionen kann man Arbeiten aus sieben Ländern sehen, unter anderem aus Polen, Belgien und Irland. Es gibt große Ensembleprojekte, wie zum Beispiel in der multimedialen Maschinerie der rumänischen Regisseurin Doris Mirescu in "John Cassavetes' Husbands", in der fünf Livekameras, ein ganzes Filmset und zehn Spieler in einer Art Verfolgungs-Echtzeit-Theater sich drei Stunden lang an der Geschichte der berühmten Filmvorlage entlanghangeln. Ein anderes Ensembleprojekt handelt von der Wiederentdeckung der amerikanischen Chautauquas, einer in der amerikanischen Provinz des 19. Jahrhunderts sehr beliebten Form der Erwachsenenbildung, die sich zwischen pseudowissenschaftlichen Vorträgen, Volkstheater und ernsthafter Erziehung bewegte, und in dem gleichnamigen Abend des National Theater of the United States of America zu einem absurden Jahrmarkt der Künste mutiert ist. Und es gibt kleine, minimalistische Produktionen, die häufig auf einen Schauspieler und wenig Technik konzentriert sind.

    Wie zum Beispiel die Soloarbeit "Invisible Atom" der kanadischen 2b Theatre Company, in der ein Mann mithilfe seiner Finger, verschiedener Posen und weniger Lichteinstellungen die absurde Geschichte eines abgestürzten Wall Street Maklers auf der Suche nach seinem unbekannten Vater erzählt. Vermischt mit verschiedenen Theorien über Raum, Zeit und den Gesetzen des Marktes, erzählt er diese Geschichte seiner verloren gegangenen Identität in dem Augenblick, in dem er sich von einer Brücke herabstürzt - eine Sekunde, die 60 spannende Minuten dauert. Oder der Abend der amerikanischen Performerin Peggy Shaw in Kooperation mit dem britischen Clod Ensemble. Sie, eine ältere Frau in einem Herrenanzug, erzählt in "MUST the invisible Story" die medizinische Geschichte ihres Körpers, ihrer Wunden und Operationen, zusammen mit ihrer emotionalen Lebensgeschichte. Dabei geht die erzählte Transformation mit einer Bildsprache einher, die sich wie ein Skalpell in die Erinnerung des Zuschauers schneidet. Am Ende wird ihr nackter Körper mit Projektionen mikro-biologischer Bilder von Zellstrukturen überblendet - ein sehr beeindruckender Abend über die Poesie des menschlichen Körpers und seiner emotionalen Natur. Die Idee des Theaters als Gemeinschaft stiftendes Ereignis wird nicht nur in der bereits erwähnten Produktion "Chautauqua!", sondern auch in der Produktion "Silver Star" der irischen Gruppe Brokentalkers verfolgt, die einen Chor älterer homosexueller Männer auf die Bühne stellt und sie ihre "ganz normalen" Geschichten erzählen lässt, von Unterdrückung und Verfolgung im katholischen Irland bis hin zur erzwungenen Auswanderung nach New York. Der Abend untersucht nicht nur die verschwiegene Geschichte eines Landes, das immer noch dabei ist, aus einem katholischen Albtraum aufzuwachen, sondern entdeckt in dieser Überwindung des Schweigens etwas über die Kraft des Individuums und des Theaters selbst.

    Die Vermischung medialer, struktureller und narrativer Elemente - das "Hybride" - scheint eines der wichtigsten Motive der Arbeiten dieses Festivals zu sein, das wesentliche Ziel: die Suche nach dem authentischen Augenblick, der persönlichen Wahrheit. Gelingt dies, so wird die Inszenierung von dieser Authentizität zusammengehalten, gelingt es nicht, bleibt lediglich ein zusammenhangloses Spektakel. "Under The Radar" ist ein besonderes Festival, das durch seine undogmatische Zusammenstellung, der Vielfalt der eingeladenen Produktionen und seiner erfrischenden Offenheit gegenüber neuen Ansätzen besticht. Es dokumentiert eine lebendige Szene voller Kreativität, die trotz der Finanzkrise nichts von ihrer innovativen Kraft verloren hat.