Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 26. November 2011 - 11.05 - 12.00 Uhr Auf der Walz zum Meister - Moderne Wandergesellen in Frankreich Mit Reportagen von Suzanne Krause Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Ein Compagnon über seine Zeit als Wandergeselle Ich habe insgesamt fünf Jahre als Schreiner in Schwarzafrika gearbeitet. Diese Zeit hat mich menschlich unglaublich bereichert. Und ich war nicht nur in Afrika - mein Beruf hat es mir ermöglicht auch Vietnam kennenzulernen. Ich will damit eines zum Ausdruck bringen: Die Bewegung der Compagnons ermöglicht es heutzutage jedem, der sich ihr anschließt, sich beruflich überall in der Welt zu verwirklichen. Und ein Schreinermeister über die Arbeit der Wandergesellen: Wir beschäftigen sehr gerne Compagnons, denn sie sind hervorragende Handwerker. Die Ausbildung der Compagnons ist weit umfassender und intensiver als das, was andere Institutionen Lehrlingen vermitteln. Gesichter Europas: Auf der Walz zum Meister - Moderne Wandergesellen in Frankreich. Mit Reportagen von Suzanne Krause. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Das Wandergesellentum hat eine lange Tradition: Schon im Mittelalter zogen Bauhandwerker von einem Kirchenbauprojekt zum anderen. Später wurde die Walz zur Pflicht. Sie war eine der Voraussetzungen, die Handwerksburschen erfüllen mussten, um den Meistertitel zu bekommen. Auch wenn es längst anders ist, lebt sie als Tradition bis heute fort. Besonders in Frankreich haben die Compagnons du Devoir, wie sie dort genannt werden, ihre Spuren hinterlassen: Kirchen, Schlösser, hochherrschaftliche Bauten tragen ihre Handschrift, ebenso wie neuere Gebilde, zum Beispiel der Pariser Eiffelturm. Und längst gehen nicht nur Bauhandwerker auf die Walz: Karosseriebauer, Landschaftsarchitekten und Raumausstatter - um nur einige zu nennen - tun es ihnen gleich. Seit Mitte der 90er Jahre bildet der Verband der Compagnons du Devoir et du Tour de France auch Lehrlinge aus - mittlerweile auch weibliche. Atmo Backstube Für Leonie Mohnert ist das ein Glück. Sie lernt in Paris das Bäcker- und Konditorei-Handwerk. Sechs Wochen lang arbeitet sie im Betrieb, dann paukt sie zwei Wochen lang an der Berufsfachschule der Compagnons. Die 19-Jährige stammt aus der Nähe von Hamburg und ist nach dem Abitur an die Seine umgesiedelt, ins Haus der Compagnons du Devoir. Reportage 1 Leonie Atmo Backstube Leonie steht an einem riesigen Arbeitstisch aus blinkendem Edelstahl. Konzentriert und schon ziemlich routiniert ist sie gerade dabei, eine Spritztüte für Feingebäck zu Recht zu schneiden. Unter ihrer grauen Arbeitskappe lugt eine kurze Strähne keck hervor, was die 19-Jährige etwas Lausbubenhaft aussehen lässt. Selbstsicher hantiert sie mitten in der Labyrinth-artigen Backstube, die zum Ladengeschäft von Rodolphe Landemain gehört - dem Shooting Star unter den Pariser Bäckern und Konditoren, wie Leonie ihren Chef stolz präsentiert. Von Dienstag bis Sonntag lernt die junge Deutsche bei ihm ihren Traumberuf. O-Ton Leonie (Deutsch) Weil ich einfach Backen total gerne mag, das macht mir Spaß. Wenn ich irgendwie glücklich sein wollte, dann habe ich gebacken. Oder Pralinen gemacht. Ich habe ich mich stundenlang mit Pralinen beschäftigt. Dann habe ich im Internet einfach mal nach den Möglichkeiten geschaut, ob es für eine Deutsche möglich ist, ihre Ausbildung in Frankreich zu machen. Und bin dann auf die Seite der Compagnons gestoßen. Zu der Zeit war meine Freundin gerade in Paris als Au-pair-Mädchen. Die hat dann da angerufen im Haus und sie haben ihr dann die Nummer vom deutschen Prévôt, also dem deutschen Direktor, gegeben. Den habe ich dann angerufen. Der war ganz locker: Ja, klar, kein Problem. Wir treffen uns. Komm nach Berlin, wie sehen uns. Und dann, ja... Atmo Backstube Damals war Leonie noch in der 12. Klasse. Mittlerweile hat sie das Abitur in der Tasche und lebt seit zwei Monaten in Paris, der Ausbildung wegen. Mit ihrem Chef, Rodolphe Landemain, der das Feingepäck dekoriert, das Leonie nun sorgfältig in Backformen spritzt, versteht sie sich blendend. Trotz der vielen Arbeit bleibt Zeit für einen Plausch. Landemain: Wie ist denn die Stimmung in deutschen Konditoreien? Leonie: Ach, in den Betrieben, in denen ich gejobbt habe, waren die Chefs alle ziemlich hart drauf. Landemain: Ja, auch in Frankreich sind viele Küchenchefs richtige Machos.] Atmo Backstube Aufräumen Das Gebäck ist im Ofen. Es ist halb vier am Nachmittag. Leonie räumt noch schnell auf und eilt zur Metro. Seit sieben Uhr in der Früh hat sie in der Backstube gewerkelt, nun steht sie eingekeilt zwischen anderen Fahrgästen im Abteil der Untergrundbahn. Doch ihr Arbeitstag ist noch lange nicht zu Ende. O-Ton Leonie (Deutsch) Jetzt fahre ich zu mir nach Hause, wenn man das so sagen kann, ins Maison de Paris von den Compagnons, wo ich wohne. Wo jetzt so alle langsam langsam eintrudeln von der Arbeit, weil wir ja alle arbeiten. Das ist eine kurze Zeit, bis wir dann um 19 Uhr alle gemeinsam essen. Das ist ein wichtiger Tagespunkt eigentlich, weil das immer so ein Treffpunkt ist, wo man dann halt alle sieht und man dann vom Tag berichtet. Wo man auch nicht zum Essen kommen kann mit Schlafanzug oder so, sondern man muss sich richtig anziehen. Man muss auch einen Kragen tragen. Das ist so ein bisschen das Traditionelle, was so täglich immer einen erwartet. Ja, dann isst man um 19 Uhr immer gemeinsam. Und drei Tage in der Woche habe ich dann abends immer noch Unterricht. Atmo Metro Montags, beim Französisch-Kurs, erzählt Leonie, schauen sich die Lehrlinge Internet-Blogs zum Thema Konditorkünste an. Dienstags üben sie kritisches Denken und analysieren Werbeslogans. Mittwochs läuft der Kurs "multikulturelles Paris": vergangene Woche haben sie die alte Moschee im 5. Arrondissement besichtigt. Der Abendunterricht endet in der Regel um halb zehn. Dann ist endlich Feierabend. Atmo Aussteigen An der Station Hotel de Ville steigt Leonie aus; das Haus der Compagnons du Devoir liegt im Windschatten des Pariser Rathauses. Zentraler geht es kaum. Zielstrebig nimmt das junge Mädchen die Abkürzung durch die Tiefgarage und begegnet zwei Wandergesellen in typischer Kluft: breitkrempiger Hut, schwarze Weste, schwarze Hose mit breitem Schlag, ein kunstvoll geschlungenes Tuch als Sack am Wanderstab befestigt. Das müssen Deutsche sein, sagt Leonie und grinst. Als Auszubildende ist sie zwar bei den Compagnons nur Gast und keineswegs Mitglied. Dennoch weiß sie: französische Wandergesellen sehen anders aus: O-Ton Leonie (Deutsch) Es gibt zwei besondere Merkmale. Das ist einmal so eine Schärpe. Jeder Beruf hat seine eigene Farbe. Für die Bäcker und die Konditoren ist das Gelb-Gold - die Farbe des Hafers. Das heißt, man hat eine Schärpe und man hat einen Wanderstock. Wir haben häufig so Zeremonien und da trägt man eben dann einen Anzug oder ein Kleid und dann eben die Schärpe und den Wanderstock. Atmo Schritte Ein paar Schritte weiter ragt das Haus der Compagnons auf: ein mächtiger historischer Bau, der fast einen ganzen Straßenblock einnimmt. Atmo Tür auf Leonie öffnet die Tür zur Eingangshalle, die einer Universitäts-Aula ähnelt: ein riesiger Raum mit hohen Decken; an den Wänden hängen Unterrichtspläne und Veranstaltungshinweise. O-Ton Leonie (Deutsch) So, ich habe jetzt erst mal Durst. Da ist mein erster Weg zum salle à manger und erst mal was trinken. Atmo Schritte weiter Leonie stemmt die schwere, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Holztür zum Speisesaal auf. Der hat die Ausmaße eines Ballsaals. Dicke Säulen tragen die Decke, die beiden Längsseiten sind Fensterfront. O-Ton Leonie (Deutsch) Ich finde den ziemlich schön. Der ist relativ groß. Hier sind ganz viele Tische. Also man sitzt immer zu acht oder zu zehnt an einem Tisch und isst zusammen. Was ich sehr schön finde und was besonders ist, ist, das eben überall auf den Tischen oder auch an den Wänden Symbole sind von den einzelnen Berufen. Das heißt, jeder Beruf ist hier mit irgendeinem Symbol vertreten. Und das sind auch häufig Arbeiten von compagnons, um aufgenommen zu werden. Das heißt, überall sind die Berufe, das, was einen verbindet, vertreten. Und da sieht man zum Beispiel auch die Wanderstöcke, die so überkreuzt sind und die jeder bekommt, der hier aufgenommen wird bei den Compagnons. Atmo Plausch Neben dem Speisesaal trifft Leonie auf eine Bekannte. Sie ist Auszubildende in einer Bäckerei wie sie. Die Mädchen erzählen von ihrem Tag in der Backstube. Es scheint sie beide zu amüsieren. Generell ist der Umgang der Hausbewohner sehr freundlich und kollegial. Über 130 Betten verfügt das Pariser Haus der Compagnons. Einzelzimmer jedoch gibt es kaum eines. Leonie hat Glück, sie teilt ihr Zimmer mit nur einer Kollegin. Dafür ist der Raum eine Art dunkler Schlauch, in den gerade mal ein Etagenbett und zwei Kleiderschränke passen. 500 Euro muss sie dafür monatlich bezahlen, Kost und Logis eingeschlossen. Atmo Schritte Treppe Leonie hat sich von ihrer Bekannten verabschiedet und eilt nun leichtfüßig ins Untergeschoss. Hier befinden sich die Unterrichtsräume. Im Gang stehen Vitrinen, in denen Werke ausgestellt sind, die angehende Wandergesellen für ihre Aufnahmeprüfung anfertigten. O-Ton Leonie (Deutsch) Hier sehen wir zum Beispiel, was ich sehr sehr schön finde, das ist in Holz nachgestellt ein Kirchturm. Wie hoch mag der sein? - vielleicht zweieinhalb Meter. Ganz viel Kleinarbeit, sehr sehr fein. Atmo Baulärm Leonie nimmt Platz auf einer kleinen Bank im Gang. Bis zum Abendessen hat sie noch ein bisschen Zeit. Gedankenverloren dreht sie ihren Ring hin und her. Anfangs, sagt sie, sei es nicht einfach gewesen, sich an den engen Zeitplan zu halten. An die Verpflichtung, ständig am Gemeinschaftsleben im Haus teilzunehmen. Doch mittlerweile habe sie die Gesellschaft der Wandergesellen zu schätzen gelernt und fühle sich nun hier wie in einer neuen Familie - auf die sie stolz sei. Insgeheim träumt Leonie schon davon, sich bei den Compagnons um die Aufnahme zu bewerben - und auf Tour de France zu gehen. O-Ton Leonie (Deutsch) Man ist Teil einer Gemeinschaft, die sehr sehr alt ist, die eben diese Bräuche hat, diese Traditionen, die immer noch leben. Die immer noch aufzufinden sind. Und da ist es eben schon Stolz, das weiterleben zu können. Dass das weiterleben kann durch meine Person, dass das weitergeben wird und dass das weiterbesteht. Musik Jahrhunderte lang herrschte große Rivalität unter den einzelnen Wandergesellen-Vereinigungen. Es gehörte fast schon zur Tradition, dass es bei einem Aufeinandertreffen zweier Gesellen unterschiedlicher Zunft zu Streitereien und Handgreiflichkeiten kam. Mitte des 19. Jahrhunderts unternahm der Wandergesellen-Schreiner, Agricol Perdiguier, den Versuch, die verschiedenen Compagnons-Gesellschaften miteinander auszusöhnen und zu vereinen. Eine erste Annäherung gelang, doch die Umsetzung seines Lebensziels erlebte Perdiguier nicht mehr. Erst Jahrzehnte später war es soweit. Dennoch war Perdiguier der erste, der der breiten Öffentlichkeit Einblicke in die damals geheime Welt der Wandergesellen gab. 1834 veröffentlichte er sein erstes Werk: "Le Livre du Compagnonnage", das Buch der Wandergesellenbewegung. Darin beschreibt Perdiguier den Alltag, die Riten und Sitten der Compagnons zu der damaligen Zeit. Musik LIT 1 Eines Tages, nach einem langen und anstrengenden Marsch, ruhte ich mich unter einem Baum nahe der großen Straße aus. Als ich meinen Blick über den Weg, den ich kam, schweifen ließ, sah ich einen Compagnon näher kommen. Und als ich in die Richtung schaute, wo ich hinwollte, sah ich einen zweiten kommen. Sie bewegten sich aufeinander zu. Beide hoben den Kopf und schauten sich tief in die Augen. In ihrer Gestik konnte man erahnen, was ihnen durch den Kopf ging. Als beide nur noch wenige Meter trennten, hielt der eine plötzlich an, ließ seinen Sack vom Ende des Wanderstocks auf den Boden gleiten, nahm eine kämpferische Pose ein und schrie den Weggefährten an: "Zu wem gehörst du? Wo willst du hin?" Der andere brüllte zurück: "Schuster-Compagnon, und Du? Dein Stand?"- "Wandergeselle der Hufschmiede, im Geist und dank der Kraft meiner Arme. Und bereit, letzteres gleich vorzuführen." Dann gingen sie weiter aufeinander zu, schupsten und beschimpften sich. "Verzieh Dich, dreckiger Stinker", schrie der Hufschmied. "Such das Weite, finsterer Gesell", gab der Schuster zurück. Nachdem sie alles ausgesprochen hatten, was ihnen an Bösem über die Lippen kommen konnte, wurden sie handgreiflich. Sie fuchtelten mit ihren langen Wanderstöcken durch die Luft, um den jeweils anderen damit zu beeindrucken. Als das nichts half, schlugen sie wie wild aufeinander ein. Das Blut floss in Strömen. Keiner der beiden wollte den Kampf beenden. Doch dann geriet der Hufschmied ins Taumeln. Getroffen von einem schweren Hieb des anderen sank er zu Boden. Musik Im Laufe der Jahre haben die französischen Wandergesellen-Organisationen ein weltweit einmaliges Netzwerk aufgebaut. Dazu gehören hunderte von Partnerbetrieben sowie zahlreiche Compagnons-Häuser - Herbergen, die den rund 3.000 französischen Wandergesellen im In- und auch im Ausland zu Verfügung stehen. Anders als in Deutschland, nehmen in Frankreich die Gesellenvereinigungen ihre Mitglieder in Ausbildungszentren unter die Fittiche. Die berühmte, mindestens dreijährige "Tour de France", ist längst zu einer "Tour du Monde" geworden ist. Sie besteht heutzutage darin, mindestens sechs Monate in einem Betrieb zu arbeiten und dann weiterzuziehen. Alles wird vom Ausbildungszentrum organisiert. Dazu gehören Fortbildungskurse in den Wohnheimen der Compagnons, zu deren Teilnahme die Wandergesellen verpflichtet sind. Atmo Speisesaal Cédric Foucaud hat seine Wanderschaft bereits erfolgreich absolviert. Vor einiger Zeit wurde er fest in die Gemeinschaft der Compagnons du Devoir aufgenommen. Regelmäßig pendelt der 24-Jährige nun zwischen der bretonischen Stadt Vannes, wo er in einer Schreinerei arbeitet, und Troyes in der Champagne hin und her. Denn dort kümmert er sich alle zwei Monate im Haus der Compagnons um den Nachwuchs und kommt somit einer weiteren Verpflichtung der Compagnons nach: Er gibt seine Erfahrungen an die jüngeren Wandergesellen weiter. Reportage 2 Foucaud Atmo Mittagessen Wie fast jeden Mittag hat Cédric Foucaud im großen Speisesaal der maison des compagnons gegessen: heute gab es Chicoree-Salat, Hachis Parmentier, eine Art Auflauf aus Kartoffelbrei und püriertem Fleisch, Käse sowie eine süße Quarkspeise. Bei den Wandergesellen heißt Cédric Foucaud nur: le Breton - denn Cédric stammt aus der Bretagne: ein junger, mittelgroßer Mann mit kurzgeschnittenen Haaren und gepflegtem Äußeren. Allein an einem Tisch sitzend, rührt er gedankenverloren in seiner Tasse Kaffee. O-Ton Foucaud Ich komme nun schon seit eineinhalb Jahren hierher. Vorher war ich ein Jahr lang in Périgueux, im Südosten. Dort habe ich mich, neben meinem Job, vor allem auch um die Fortbildung der Schreiner im Haus der Compagnons gekümmert. Hier in Troyes bin ich als Ausbilder tätig, im Halbtagsjob. Ich bin für zwei Lehrlingsgruppen verantwortlich: je sechs Wochen arbeiten sie in ihrem Betrieb, danach gehen sie zwei Wochen in unsere Berufsschule. Ich unterrichte sie in Technik und in fachbezogenem Zeichnen. Den Rest der Zeit verbringe ich im Betrieb in der Bretagne. In einigen Jahren möchte ich meine eigene Firma aufbauen, als Regalbauer, deshalb schaue ich mich jetzt schon auf den Baustellen und im Büro um, um mir das nötige Wissen anzueignen. Atmo Kaffee Wenn Cédric von seinen Lehrlingsgruppen spricht, zieht er unwillkürlich die Schultern straff nach hinten. Einige seiner Auszubildenden in seinem Kurs sind nicht viel jünger als er: Cédric ist gerade mal 24 Jahre alt. Trotz seines noch jungen Alters wirkt er sehr souverän; ein Mensch, der in sich zu ruhen scheint. Doch sobald es um seinen Ausbilderjob geht, wird Cédrics Stimme leidenschaftlich: O-Ton Foucaud Normalerweise muss jeder nach seiner Aufnahme in die Gemeinschaft der Compagnons zwei Jahre lang sein Wissen an Jüngere weitergeben. Ich hätte große Lust, ein drittes Jahr anzuhängen. Diese Arbeit gefällt mir ungemein, denn ich bin gern mit den Jugendlichen zusammen, die Stimmung ist sehr gut. Wir arbeiten hart, aber wir machen auch gemeinsame Ausflüge, mal ins Museum, mal in einen Betrieb, wo ich ihnen beispielsweise zeige, wie das Holz gelagert wird, mit dem sie später arbeiten. Wir verbringen eine schöne Zeit zusammen. Und heute ist es auch Brauch, dass jeder Lehrling drei Wochen ins Ausland geht, wo er zunächst eine Woche Sprachunterricht erhält und dann zwei Wochen in einem Betrieb arbeitet. Das erweitert den Geist ungemein. Früher gab es das nicht. Atmo Auto Cédric hat brav seine Kaffeetasse abgeräumt und macht sich nun flotten Schrittes auf den Weg zum Parkplatz. Er hat einen Termin in einer benachbarten Schreinerei, zu dem er nicht zu spät kommen möchte. O-Ton Foucaud In regelmäßigen Abständen klappere ich die Betriebe unserer Lehrlinge ab, um dort in Erfahrung zu bringen, ob es vielleicht Probleme mit dem einem oder anderen gibt. Denn sollte etwas im Argen liegen, dann ist es besser, das gleich zu bereinigen, bevor es böse Überraschungen gibt. Atmo Fahrt Ruhig steuert Cédric seinen Kleinwagen durch die Straßen. Auch auf der Walz, sag er, während seiner Wanderjahre, sei er motorisiert unterwegs gewesen. Er sei eben ein Wandergeselle der Moderne. O-Ton Foucaud Ich bin nicht zufällig bei den Compagnons gelandet. Ich habe mich für diese Organisation entschieden, weil ich einen handwerklichen Beruf erlernen wollte und die Ausbildung hier einen sehr guten Ruf hat. Anfangs wollte ich nur die Lehre bei den Compagnons machen, aber dann hat es mich gepackt und ich bin auf Wanderschaft gegangen. Das hat mir sehr gut gefallen, denn bei der Tour de France lernt man bei jeder Etappe etwas dazu: handwerklich, vor allem aber menschlich. Bei all den Bekanntschaften, die man unterwegs macht . Das erweitert den Horizont, öffnet den Geist. Eigentlich lernt man sein Leben lang nie aus. Atmo Aussteigen Cédric parkt das Auto vor der Schreinerei und eilt in die Halle, wo mehrere Arbeiter an lärmenden Maschinen Bretter zu Recht schneiden. Der Werkstattleiter kommt ihm mit einem breitem Lächeln entgegen: die beiden kennen sich aus dem Haus der Compagnons. Nach einem kurzen Rundgang durch die Arbeitsräume erreichen die beiden schließlich das Büro des Werkstattleiters im ersten Stock. Von hier aus haben sie einen freien Blick auf die Fertigungshalle. Sichtlich stolz präsentiert der Chef seinem Gast Fotos von Inneneinrichtungen, die die Lehrlinge gefertigt und eingebaut haben. O-Ton Foucaud Wenn ich wie heute auf Betriebsbesichtigung bin, ist die Zusammenarbeit mit dem dortigen Werkstattleiter natürlich viel entspannter, wenn auch er Compagnon ist. Denn man hat dieselbe Wellenlänge. O-Ton compagnon Dass wir beide bei den Compagnons sind, schafft ja automatisch eine Gemeinsamkeit. Da braucht man nicht umeinander herumzuschleichen, um sich kennenzulernen: wir beide haben im Prinzip denselben Parcours hinter uns. Dank der Tour de France, den Wanderjahren, dem Leben in der Gemeinschaft. Das verbindet uns. O-Ton Foucaud Und das macht schon einen Großteil unseres Lebens aus, denn wir verbringen viel Zeit mit den anderen Wandergesellen und auch mit den Jugendlichen. Atmo Autotür Die Unterredung hat nicht lange gedauert. Cedric macht sich wieder auf den Weg zurück zum Haus der Compagnons. Er muss noch die nächste Unterrichtsstunde vorbereiten. Außerdem arbeitet er noch an Plänen zum Umbau der Lehrwerkstatt im Haus. Denn bei seinem Fortgang möchte er den kommenden Lehrlingsgenerationen einen optimalen Arbeitsplatz hinterlassen. Musik Musik Lit 2 Lit 2 Der unbarmherzige Schuster hatte immer noch nicht genug. Er riss seinem hilflos am Boden liegenden Kontrahenten das Hemd vom Leib und drohte mit seinen Fäusten. Doch plötzlich hielt er inne. Welche Überraschung? Welches Entsetzen? Welch plötzlicher Wandel, als er auf den nackten Armen der freigelegten Brust seines besiegten Feindes deutliche Zeichen erblickte, die ihn erkennen ließen, dass es sich bei dem, der hier im Staub lag, um Laurent handelte. Laurent, sein heiß geliebter Bruder! "Oh, mein Bruder!", rief er aus, "ich bin es, François, dein Bruder und dein Freund! Oh, verzeih mir!" Dann beugte er sich über ihn, hob ihn auf und riss ihn in seine Arme. Sie küssten sich und weinten. Tränen des Glücks und der Freude rannen über ihre Wangen. Ich näherte mich den beiden. Ich, der Zeuge dieses anfangs abscheulichen, von Hass und Gewalt geprägten Aufeinandertreffens war, verspürte einen inneren Drang etwas zu sagen. Leise und mit zitternder Stimme sprach ich sie an: "Meine Freunde, gestattet es einem Schreiner, einem Compagnon de Liberté, in eure Tränen einzustimmen." Überrascht schauten sie mich an, dann fuhr ich fort: "Lasst alle Vorurteile beiseite, wir sind alle Menschen. Statt uns zu hassen und uns Unbill zuzufügen, lasst uns einander verstehen und uns gegenseitig unterstützen." In diesem Augenblick nahm François, seinen Bruder den er die ganze Zeit in den Armen gehalten hatte, hoch und trug ihn an den Straßenrand, wo er ihn im Gras sanft absetzte. Nachdem seine Wunden verbunden waren und er sich ein bisschen ausruhen konnte, fühlte Laurent seine Kräfte wiederkehren. Er stand auf. Wir legten je einen seiner Arme um unsere Schultern und gingen langsam des Wegs in Richtung der nächstgelegenen Stadt. Musik Jahrhunderte lang waren die Wandergesellen der unterschiedlichen Zünfte nicht nur zerstritten, sie waren auch von der Aura eines Geheimbundes umgeben. Ob das tatsächlich so war, ist fraglich. Unumstritten ist jedoch, dass mit dem Zusammenschluss der Compagnons-Gesellschaften die Rechte der Wandergesellen gestärkt wurden. Gemeinsam kämpften sie für bessere Arbeitsbedingungen, für soziale und wirtschaftliche Reformen, und waren somit Vorreiter des später eingeführten allgemeinen Sozialversicherungssystems. Heute gibt es in Frankreich drei Wandergesellen- Organisationen, die mehrere Berufsgruppen in sich vereinen. Atmo Straße Einer der Hohetempel der Compagnons du Devoir steht in Troyes: Das "Maison de l'outil et de la pensée ouvrière", das "Haus des Werkzeugs und des Arbeitergeistes". Mitte der 60iger Jahre wurde das spätmittelalterliche Anwesen von Wandergesellen aufwendig renoviert. Seit 1974 wird hier die Sammlung alter Werkzeuge ausgestellt, deren Grundstein ein Jesuitenpater legte. Die Leitung des Hauses untersteht den Wandergesellen. Der derzeitige Direktor ist Yannick Patient, ein gelernter Schreiner. Reportage 3 Patient ATMO Bienvenue Mit Schwung öffnet Yannick Patient das schwere alte Eichentor. Mit einer Geste bittet er, in den weiträumigen, sorgfältig gepflasterten Innenhof einzutreten. Der spätmittelalterliche Bau drum herum wirkt einfach prächtig mit seinem Eichenfachwerk, der mit Kastanienholzziegeln verschalten Fassade und dem steinernen Bogengang aus dem 16. Jahrhundert strahlt Würde und Reichtum aus. Mitten auf dem Hof bleibt Patient stehen und weist mit ausgebreiteten Armen auf das fein renovierte Anwesen. O-Ton Patient Der erste Besitzer war Jean Mauroy, ein sehr wohlhabender Bürger dieser Stadt. Er nutzte dieses Haus als Hospiz, nahm Waisenkinder auf. Jungen und Mädchen erhielten hier eine religiöse Erziehung und eine Berufsausbildung. In diesem Gebäude wurden also bereits schon im 16. Jahrhundert junge Menschen beruflich gefördert. Und das ist auch heute noch der Fall. Atmo Hof Mit der rechten Hand klimpert Yannick Patient mechanisch mit dem schweren Schlüsselbund. Der 39-Jährige, mittelgroß, stämmig, im dezent-schicken Anzug und tief roter Krawatte wirkt auf den ersten Blick sehr adrett. Wären da nicht die zwei hauchdünnen goldenen Reifen, Fuge genannt, die beide Ohrläppchen eng umspannen. Er trägt sie mit Stolz, denn sie sind das Erkennungszeichen gestandener Compagnons. Noch immer blickt er mit spürbarer Bewunderung auf das geschichtsträchtige Gebäude. O-Ton Patient Dieses Haus des Werkzeugs und des Arbeitergeistes steht all jenen jungen Menschen zur Verfügung, die dank ihres individuellen Geschicks unserer Gesellschaft dienen möchten. Ich gestehe: das hört sich etwas seltsam an. Aber wir mögen es hier nicht, von handwerklichen Berufen zu sprechen. Denn in Frankreich entstand in den vergangenen Jahrzehnten eine Art Kastensystem: da gibt es zum einen die Handarbeiter, zum anderen die Geistesarbeiter, die Intellektuellen. In solchen Kategorien denken wir hier nicht. Schließlich ist jeder Mensch von Geburt an ein Handarbeiter, denn er nutzt seine beiden Hände tagtäglich, zum lenken, zum essen, um etwas zu greifen. Atmo Baustelle Yannick Patient steuert den Seiteneingang an -eilt vorbei an unzähligen Vitrinen, in denen Werkzeuge aller Art ausgestellt sind. Am Ende des Flurs bleibt er kurz stehen und schaut einigen jungen Arbeitern zu, die gerade dabei sind, einen neuen Toilettenraum einzurichten. Sichtlich zufrieden nickt der Direktor mit dem Kopf. Dann öffnet er eine schwere Tür, die zur großen hohen Eingangshalle führt. An der Längswand, an Stellwänden, hängen Plakate, die zu einer Ausstellung rund um die Wandergesellen-Bewegung in Frankreich gehören. Troyes ist eine ihrer historischen Hochburgen, denn 1419 erließ König Charles der 6. eine Verordnung für das Schustergewerbe. Darin wurde die Existenz von Wandergesellen-Organisationen erstmals überhaupt schriftlich festgehalten. In der Ausstellung nun geht es um all die Legenden, laut derer die Compagnons-Bewegung schon beim Tempelbau in Jerusalem entstanden sei, erklärt Patient und postiert sich breitbeinig vor der Stellwand: er selbst glaubt nur, was historisch belegt ist, sagt der Direktor des Maison de l'Outil. Zum Beispiel durch Gravuren aus dem frühen Mittelalter, die Wandergesellen bei der Arbeit zeigen. O-Ton Patient Ich bin von einem überzeugt: Um über die lange Bauzeit hinweg das nötige Wissen nicht zu verlieren, hat man sich bei dem bedient, was unerschütterlich schien: bei der Religion, die damals überall verbreitet war. Die Handwerksmeister entwickelten Riten, die sie der katholischen Kirche abschauten, um ihr Wissen an ihre Nachfolger weiterzugeben. Und damit wurde die Wandergesellen-Bewegung aus der Taufe gehoben. Um den Wissenstransfer zu garantieren, machten sie es sich zur Pflicht, talentierten Nachwuchs auszubilden. Atmo Büro Yannick Patient ist die Eichentreppe zum ersten Stock hoch gesaust, vorbei an der Bibliothek mit ihrem reichen historischen Bestand, die sich direkt neben seinem Büro befindet. Nun sitzt er an seinem Designer-Schreibtisch, der nahezu den gesamten Raum ausfüllt und klickt sich durch seine Emails. Dem Schreibtisch gegenüber hängt ein eingerahmtes Foto an der Wand, das einen Elefanten in der afrikanischen Savanne abbildet. O-TON Patient Dieses Foto habe ich selbst geschossen, in Botswana. Ich habe insgesamt fünf Jahre als Schreiner in Schwarzafrika gearbeitet. Diese Zeit hat mich menschlich unglaublich bereichert. Und ich war nicht nur in Afrika - mein Beruf hat es mir ermöglicht, auch Vietnam kennenzulernen. Ich will damit eines zum Ausdruck bringen: Die Bewegung der Compagnons ermöglicht es heutzutage jedem, der sich ihr anschließt, sich beruflich überall in der Welt zu verwirklichen. Atmo Büroarbeit Während Yannick Patient redet, erledigt er nebenbei seine Post. Einige Briefe sortiert er zur Seite, andere zerknüllt er und entsorgt sie im Papierkorb. Dass er hier auf dem Direktorsessel im "Haus des Werkzeugs" sitzt, sagt er, sei ein Geschenk des Himmels und eher dem Zufall zu verdanken. Denn er sei lediglich ein mittelmäßig guter Schüler gewesen und nur mangels Alternativen in eine Schreinerlehre gedrängt worden. Dort allerdings habe er das Glück gehabt, dass er sich den Compagnons anschließen konnte. O-Ton Patient Ich bin mit 15 da reingefallen wie Obelix in den Zaubertrank. Die Compagnons brachten mich zum Träumen, denn ich habe gesehen, welche gesellschaftliche Anerkennung sie genossen. Deshalb hatte ich nur einen Wunsch: ich wollte so werden wie sie. Als ich nach dem ersten halben Jahr in der Lehre wieder nach Hause kam, hatte ich schon so viel erlebt, über das ich berichten konnte. Und ich verfügte über ein neues Vokabular, das meiner Familie fremd war: das Vokabular der Schreiner. Diese ersten Begegnungen mit den Compagnons haben mein Leben und meine Einstellung zum Leben verändert. Es ist sehr schön, Wissen, das man vermittelt bekommt, irgendwann an andere weitergeben zu dürfen. Es ist so, als ob man jemandem etwas schenkt, ihm eine Freude macht, ein Stück persönlicher Erfahrung an jemanden anderen weiter gibt. Also quasi auch ein Stück von einem selbst, von der eigenen Geschichte, der eigenen Persönlichkeit und all den Begegnungen, die uns Compagnons zu dem machen, was wir sind: aufrechte Männer und Frauen. Musik Auch im heutigen Alltag der Compagnons du Devoir spielen die jahrhundertealten Traditionen immer noch eine Rolle. Riten und Zeremonien werden gepflegt und wer auf sich hält, der pilgert in seinem Arbeitsleben wenigstens einmal in die Provence, zum Wallfahrtsort Sainte-Baume. Zur Tradition gehört auch die "Maitresse de maison". Sie ist die gute Seele im Wandergesellen-Heim, die sich nahezu um alles dort kümmert: um Verwaltung, um Kost und Logis, und natürlich sorgt Sie sich auch um das Wohlergehen der jungen Wandergesellen. Erwirbt Sie sich bei den Compagnons über einen längeren Zeitraum Meriten, wird Ihr der Ehrentitel "Mère", "Mutter" verliehen. Atmo Telefon "Mère" ist Dominique Bardière zwar noch nicht, denn die Mittvierzigerin trat erst vor fünfeinhalb Jahren im Pariser Haus der Compagnons du Devoir Ihren Dienst an. Aber Sie ist auf dem besten Weg dahin, denn Ihre Arbeit macht Ihr Freude. Reportage 4 Bardière Atmo Kaffeemaschine Es ist vier Uhr nachmittags, Dominique Bardière hat eine kurze Pause eingelegt. In ihrem kleinen verwinkelten Büro im ersten Stock bereitet sie sich gerade einen Kaffee zu. Den ganzen Vormittag war sie auf Achse, hat die Zimmer im Haus der Compagnons inspiziert, die Essensvorräte kontrolliert, den alltäglichen Verwaltungskram erledigt. Nun macht Bardière es sich, den Kaffeebecher in der Hand, in ihrem Ledersessel hinter dem breiten Schreibtisch bequem und schaut sich zufrieden um. O-Ton Bardière Alle die Möbel hier wurden extra für mein Büro gezimmert. Und zwar von Compagnons, die die Stücke für ihre Aufnahmeprüfung bei den Wandergesellen anfertigten und sie mir anschließend schenkten. Schauen Sie, dieser Schreibtisch, das ist ein Designer-Stück mit kunstvollen Holzarbeiten und einer Glasplatte. Und der Sessel, auf dem ich sitze, der ist handgemacht von einem Sattle. Ist er nicht schön? Viele beneiden mich um ihn. Genauso wie um die hohe Stehlampe hinter mir, die ein Metallbauer für meinen Schreibtisch maßgefertigt hat. Das war ziemlich aufwändig.] Und über all diese Geschenke wache ich mit Argusaugen, damit mir bloß keiner etwas beschädigt. Und hier an der Wand pinne ich alle Postkarten fest, die mir die Jugendlichen schicken. Bevor sie zu uns ins Heim kommen, kündigen sie sich schriftlich an. Und auch die, die weggegangen sind, melden sich von unterwegs mit einem bunten Gruß. Da hängen Karten aus den Vereinigten Staaten, von Mauritius, aus Thailand. Das ist ein schöner großer Farbfleck auf der weißen Wand. Atmo Telefon Das Telefon unterbricht Madame Bardière, die im Haus der Compagnons eine Art Mutter für alles ist. Der Anrufer möchte den großen Speisesaal im Erdgeschoss für ein Reggae-Samba-Fest buchen. 300 Gäste werden erwartet. Dominique Bardière muss erst mal überlegen, ob sie für eine solch große Schar genügend Raum und Personal hat. Dann sagt sie zu, mit der Bedingung, dass die Hausbewohner mitfeiern können. O-TON Bardière Als ich hier anfing, wurde ich oft gefragt, ob mir die Arbeit auch gefallen würde und ob ich sicher sei, bleiben zu wollen. Ich gab zurück: diesen Job kann man nicht machen, wenn er einem nicht Spaß macht. gefällt. Selbst wenn ich mal private Sorgen habe: sobald ich im Heim ankomme, geht es aufwärts mit der Stimmung. Denn es findet sich immer wieder Jugendliche im Haus, die es mitkriegen, wenn ich mal ein bisschen geknickt bin. Und die mich dann aufmuntern, mit einem freundlichen Gruß, mit einer kleinen Geschichte aus ihrem Alltag - und gleich sind die Sorgen wieder verflogen. Wir vom Personal hier geben den Jugendlichen sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit. Aber ihnen ist gar nicht bewusst, wie viel sie uns tagtäglich zurückgeben. Atmo Aufstehen Dominique Bardière schaut kurz die Uhr. In zwei Stunden gibt es Abendessen, sagt sie entschuldigend, sie möchte noch in der Küche schnell nach dem Rechten sehen. Sie macht sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Die ersten Bewohner trudeln schon von der Arbeit ein, im Heim herrscht Hochbetrieb. Und obwohl es Madame Bardière eilig hat, nimmt sich die Mittvierzigerin Zeit, unterwegs einige Jugendliche mit Küsschen auf die Wange zu begrüßen und sich nach ihrem Arbeitstag zu erkundigen. Dann steuert sie auf die Küche zu, wo sie von, Blandine, der Küchenchefin, schon erwartet wird. Atmo Küche Fisch mit Zuccini-Gemüse steht heute auf dem Speiseplan, erklärt ihr Blandine. Ein kurzes Schwätzchen und Madame Bardière ist schon wieder auf dem Weg zurück in ihr Büro. Atmo Büro Klopfen Kaum ist sie dort angekommen, klopft es an der Tür. Ein Compagnon möchte seine Essenskosten abrechnen. Diesen Monat habe er mehr ausgegeben als geplant. Freundlich kümmert sich Dominique Bardière um das Anliegen des jungen Mannes und spart dabei nicht mit Tipps, wie er sein Budget besser verwalten kann. Dankend verabschiedet sich der Compagnon, denn draußen im Gang warten schon die nächsten. O-Ton Bardière Seit kurzem nehmen wir auch Gymnasiasten als Lehrlinge in unserem Haus auf und nicht mehr nur 15-Jährige, die gerade die Mittlere Reife geschafft haben. Manche haben das Abitur in der Tasche, andere haben das Klassenziel nicht erreicht und wollen es nun mit einer handwerklichen Ausbildung versuchen. Es gibt auch welche, die bereits einige Semester an der Universität studiert haben und plötzlich Lust auf eine Ausbildung als Zimmermann oder Polsterer haben. Wir wollen nun auch diesen Jugendlichen, die 18, 20 Jahre und älter sind, die Chance einer handwerkliche Ausbildung geben. Das ist eine Herausforderung, auch für uns. Wir müssen die Ausbildungspläne ändern. Auch die Abendkurse zur Allgemeinbildung müssen auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten werden. Atmo Buchhalterin Die Buchhalterin kommt aufgeregt in Dominique Bardières Büro. Eine Auszubildende habe seit längerer Zeit ihre Miete nicht mehr gezahlt, klagt sie und bittet die Kollegin um Rat, wie sie nun vorgehen soll. Dominique Bardière legt kurz die Stirn in Falten, dann wandelt sich ihre Gesichtszüge zu einem Lächeln. Sie werde sich etwas einfallen lassen, sagt sie mit ruhiger Stimme und schlägt die Akte der Auszubildenden auf. Musik Kürzlich haben die Compagnons du Devoir et du Tour de France den letzten Band einer Enzyklopädie der handwerklichen Berufe herausgegeben, die Regale füllt. Eine Sysiphus-Arbeit, denn manche Arbeitstechnik, die in dem monumentalen Werk beschrieben wird, war bei der Drucklegung schon wieder überholt. Diese Veränderungen vorherzusehen, das ist die Aufgabe mehrerer Arbeitsgruppen der französischen Wandergesellen. Sie sollen die Ausbildung kommenden Bedürfnissen anpassen, wovon auch die Partner-Unternehmen profitieren. Atmo Werkstatt Ein Betrieb, der seit vielen Jahren schon mit den Compagnons du Devoir zusammen arbeitet, ist die Schreinerei "Atelier Chollet Frères" in Thiais, einem Vorort im Südosten von Paris. Seit 17 Jahren leitet Fabrice Priou das Traditions-Unternehmen, das sich auf hochwertige Holzrestaurierungen und Denkmalpflege spezialisiert hat. Handwerkliche Maßarbeit wird in seinem Betrieb groß geschrieben. Reportage 5 Priou Atmo Werkstatt Mit sichtbarem Vergnügen führt Fabrice Priou durch seine Werkstatt, einen ebenerdiger Raum von circa hundert Quadratmetern, voll gestellt mit Maschinen, an denen eine knappe Handvoll Arbeiter hantieren. Der Schreinermeister, der nicht nur von Statur und Gesicht etwas an Daniel Cohn-Bendit erinnert, sondern auch das Temperament des Politikers zu haben scheint, schiebt sich zwischen zwei Werkbänken hindurch: an der einen hobeln zwei Männer gerade an einer stattlichen alten Tür. O-TON Priou Das ist eine Tür aus dem Louvre-Museum, die wir hier restaurieren. Ein größerer Auftrag, den wir kürzlich bekommen haben. Das ist nun die letzte Tür; sie sah am schlimmsten aus. Was die Restaurierung hier so schwierig macht, ist, dass diese Tür Natur belassen bleiben muss. Das heißt, es ist wichtig, akkurat zu arbeiten, um die alte Maserung nicht zu zerstören. Mogeln kann man da nicht. Das geht nur bei Türen, die farbig lackiert werden. Atmo Gespräch Fabrice Priou fachsimpelt kurz mit einem der Gesellen - sie brauchen nicht viele Worte, um sich zu verstehen. 30 Schreiner arbeiten in Prious Betrieb, allesamt hochqualifizierte Arbeitskräfte. Die meisten sind gerade - im Schloss von Versailles, um dort ein neues Parkett zu verlegen. Zum Team gehören auch zwei angehende Wandergesellen. Auf ihrer Tour de France haben sie bei Priou angeheuert. O-TON Priou Wir beschäftigen sehr gerne Compagnons, denn sie sind hervorragende Handwerker. Die Ausbildung der Compagnons ist weit umfassender und intensiver als das, was andere Institutionen Lehrlingen vermitteln. Von der staatlichen Berufsschule ganz zu schweigen, da haben die Lehrer einfach zu wenig Ahnung von dem Job. Die Compagnons haben die meisten Mittel zur Verfügung und sie sind am strengsten. Ein Jugendlicher, der dort eine Lehre anfängt, darf kein Stück Holz anfassen, bevor er nicht gelernt hat, sein Werkzeug zu pflegen. Bevor er an eine Maschine darf, muss er erst einmal in der Lage sein, beispielweise ein Zapfenloch von Hand zu fertigen. Die Ausbildung der Compagnons ist einfach viel gründlicher und dauert auch länger als irgendwo sonst. Und deswegen sitzt bei ihnen auch im späteren Berufsleben jeder Handgriff perfekt. Atmo Rausgehen Fabrice Priou wirft noch einen schnellen Blick in die Runde und verlässt die Werkstatt. Nach einigen Schritten ist er in seinem Büro. Die Wandtäfelung, der schwere Schreibtisch, pikobello aufgeräumt: alles wirkt gediegen. Kaum hat der Schreinermeister Platz genommen, klopft Vincent Schmitt an, im Betrieb zuständig für die Verwaltung und die Finanzen. Schmitt legt seinem Chef eine dicke Kladde vor: die Akte des Compagnons, der am Vortag hier seine Arbeit aufnahm. O-TON Schmitt Der neue Compagnon heißt Robin und er ersetzt einen anderen Wandergesellen, der Ende letzten Monats bei uns aufgehört hat und nun in Bordeaux arbeitet. Robin war bislang in Grasse tätig. Die einen arbeiten sechs Monate bei uns, andere bleiben ein Jahr. Die Dauer ihres Vertrags hängt davon ab, wie lange sie Lust haben, im Großraum Paris zu bleiben. Denn die meisten kommen aus der Provinz. Und die Umstellung auf das stressige Leben hier, die fällt manchem nicht leicht. Die Hektik im Alltag hier, die verwirrt viele ziemlich. O-Ton Priou Einmal hatte ich einen Compagnon, der aus Südfrankreich zu uns kam. An seinem ersten Arbeitstag hat man ihm den Schlüssel vom Lieferwagen und einen Stadtplan in die Hand gedrückt und ihn auf eine Baustelle nach Paris geschickt. Er kam erst spät abends zurück, weil er sich verirrt hatte. Aber er hat dann relativ schnell die Kurve gekriegt. Seitdem aber schicken wir einen neuen Compagnon in den ersten Tagen nicht mehr alleine los. Atmo blättern Fabrice Priou blättert in der Kladde. Mit den Compagnons, die bislang bei ihm gearbeitet haben, hat er nur gute Erfahrungen gemacht. Er schätzt ihre Arbeit, kann ihnen aber auch einiges vermitteln. O-Ton Priou Die Beziehung zu den Compagnons, das ist ein Geben und Nehmen. Zwar gehen sie durch eine Schule, die ihnen wirklich eine hochwertige Ausbildung zukommen lässt. Aber über all der Handwerkskunst vergessen sie ein bisschen, dass wir unsere Dienstleistung ja auch gewinnbringend verkaufen müssen, dass wir unsere Arbeitszeit genau kalkulieren müssen. Das bringt sie ziemlich durcheinander. Natürlich kann man in der Werkstatt achtzehn Stunden an einer Tür arbeiten. Aber im Preis für den Kunden sind nur zwölf Stunden vorgesehen. Das ist also etwas, was sie bei uns lernen: qualitativ hochwertige Arbeit in rentabler Zeit abzuliefern. Sonst geht der Betrieb nämlich baden. O-Ton Kollege Auf jeden Fall stehen den Compagnons jederzeit überall die Türen offen. Wenn wir eine Bewerbung von einem Compagnon erhalten, der seine Tour de France abgeschlossen hat, dann zögern wir nicht eine Sekunde, ihn zum persönlichen Vorstellungsgespräch zu bitten. Wir geben ihm sofort einen Termin. O-Ton Priou Das ist etwas, was die hohe Motivation der angehenden Compagnons auf der Tour de France erklärt. Sie wissen ganz genau: sobald sie wieder in ihre Heimatstadt oder in ihr Dorf kommen, um sich selbstständig zu machen, werden sie unmittelbar mit Aufträgen überrannt. Innerhalb weniger Wochen sind ihre Auftragsbücher für die nächsten zwei Jahre prall gefüllt. Das ist bei anderen Jungunternehmern in der Regel nicht der Fall. Musik Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag: Auf der Walz zum Meister - Moderne Wandergesellen in Frankreich. Suzanne Krause war die Autorin der Reportagen, Babette Michel suchte die Musik aus und führte Regie. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch "Le Livre du compagnonnage" von Agricol Perdiguier aus dem Jahr 1834, einzusehen in der Bibliothèque National de France. Sprecher war Hendrik Stickan. Für Ihr Interesse dankt, auch im Namen von Ton und Technik, Norbert Weber. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag! Musik 4 4