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Auf Grund gelaufen

Die Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) über Probleme der Entwicklungsländer, die sogenannte Doha-Runde, sind nach sieben Jahren ergebnislos abgebrochen worden. Gestolpert sind die 153 Teilnehmerstaaten über die Landwirtschaft, wo Europa und die USA nicht zu einem Subventionsverzicht in einer Höhe bereit waren, die im Gegenzug die Entwicklungs- und Schwellenländer zu einer Liberalisierung ihrer Märkte bewegt hätte.

Von Jule Reimer | 30.07.2008
    "In dieser Runde geht es nicht um ein bisschen mehr Marktöffnung. Wir brauchen substantielle Veränderungen."

    Eindringlich für seine Sache werbend, so hatte Pascal Lamy, Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO, vor einer guten Woche Delegierte aus rund 40 Staaten in Genf begrüßt. Es stand einiges auf dem Spiel: Das von Lamy angeregte informelle Treffen galt als vorerst letzte Möglichkeit, die festgefahrenen Verhandlungen zwischen den 153 Mitgliedsstaaten der Doha-Welthandelsrunde wieder flott zu machen. Gestern Abend musste der Marathon-Läufer Lamy, dem nicht nur privat sondern auch als WTO-Direktor viel Durchhaltevermögen nachgesagt wird, aber doch den ergebnislosen Abbruch der Gespräche verkünden. Zuvor hatten die USA bereits dem indischen Handelsminister vorgeworfen, er blockiere einen Abschluss. Kamal Nath blieb eine Antwort nicht schuldig. Er handle im Auftrag vieler Entwicklungsländer:

    "Genau andersherum wird ein Schuh draus: Den USA geht es darum, ihre wirtschaftlichen Interessen zu fördern. Mir dagegen geht es darum, die Existenz und Sicherheit der Kleinbauern zu schützen."

    Dabei waren die Verhandlungen für eine weitere Liberalisierung der Weltmärkte in den ersten acht Tagen geradezu ungewohnt vielversprechend verlaufen. Wenn nicht jetzt, wann dann, war die Losung, die nicht nur die US-amerikanische Handelsbeauftragte Susan Schwab ausgab:

    "Hohe Lebensmittelkosten, hohe Energiekosten, die unsichere Lage der Weltwirtschaft: In diesem Umfeld könnten erfolgreiche Verhandlungen einen wirklich positiven Beitrag leisten - zunächst einmal psychologisch, auf mittlere und lange Sicht aber auch einen positiven Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung weltweit. Und das vor allem mit Blick auf Entwicklungsländer und auf das Ziel der Armutsbekämpfung."

    Denn in Genf ging es wieder um den immer gleichen Grundkonflikt, an dem in den letzten zehn Jahren alle vorherigen WTO-Verhandlungen gescheitert waren: Die Entwicklungsländer wollen, dass die Europäische Union und die USA endlich ihre Märkte für Agrarprodukte öffnen. Außerdem sollen die Industriestaaten ihre hohen Subventionen für die Landwirtschaft abbauen. Marita Wiggerthale von der internationalen Entwicklungsorganisation Oxfam:

    "Wir kennen aus der Vergangenheit viele Beispiele, die deutlich gemacht haben, dass die billigsubventionierten Agrarprodukte zu Dumpingpreisen auf die Märkte der Entwicklungsländer gekommen sind, dort die Kleinbauern im Preis unterboten haben und diese vom Markt verdrängt haben. Das war bei Tomaten so, das war im Milchbereich so, im Reisbereich bei den USA noch einmal stärker."

    Die Industriestaaten wiederum verlangten in Genf bessere Konditionen, um Industriegüter wie Autos oder Maschinen einfacher in die Entwicklungsländer exportieren zu können. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos:

    "70 Prozent des Welthandels werden durch Industrieprodukte bestritten. Und gerade für Europa als hochindustrialisierter Kontinent sind die Industriefragen besonders wichtig."

    Dabei haben die Industriestaaten vor allem aufstrebende Schwellenländer wie Brasilien oder China im Blick. Denn die schützen häufig ganze Wirtschaftszweige mit hohen Zöllen vor Konkurrenz aus dem Ausland. Anne Marie Idrac, die französische Handelsstaatsekretärin verlangte zum Auftakt der Gespräche:

    "Die weltweite Dynamik wird vor allem von den großen Schwellenländern getragen. Es geht einfach um Geben und Nehmen. Wir sind uns klar darüber, dass es sich nicht volle gegenseitige Marktöffnung handeln wird, aber wir wollen unseren Anteil."

    Solch energische Forderungen waren vor sieben Jahren - zu Beginn der Doha-Handelsrunde - nicht selbstverständlich. Diese wurde im Dezember 2001 in der gleichnamigen Hauptstadt des Emirats Katar eingeläutet. Damals verlangten alle Teilnehmerstaaten ein Abkommen, das vor allem die Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigt. "Doha", so die Vorgabe, sollte ausdrücklich eine "Entwicklungsrunde" werden. Denn obwohl der Welthandel seit Jahren boomt, sitzen die Gewinner der Marktöffnung vor allem in den Industrieländern. Zur Armutsbekämpfung habe die Liberalisierung der Märkte in der Vergangenheit nicht viel beigetragen, kritisiert Marita Wiggerthale von der internationalen Entwicklungsorganisation Oxfam.

    "In Afrika hat das Wachstum sehr stark mit dem Boom an den Rohstoffmärkten zu tun. In Sachen Armutsbekämpfung und Hungerbekämpfung ist in dem Sinne nicht so viel passiert. Insgesamt ist die Zahl der Hungernden gestiegen und mit Blick auf die Armutsbekämpfung wurden nur in einzelnen Ländern Fortschritte erzielt, wohingegen in anderen Ländern die Armut wieder zugenommen hat."

    Das liegt auch daran, dass EU, USA und Japan über Jahrzehnte hinweg gewohnt waren, die Freihandelsmodalitäten praktisch allein auszuhandeln - die 1947 gegründete WTO-Vorgängerorganisation GATT - eine Abkürzung für "General Agreement on Tariffs and Trade" - war weitgehend ein Club der Industrieländer. Zudem ging es damals nur um Zölle und Marktzugang für Konsumgüter. Als 1994 die WTO mit ihrem völkerrechtlich verbindlichen Charakter beschlossen wurde, entschieden die großen Handelsnationen, die Liberalisierung ganz erheblich auszuweiten: ab jetzt standen auch Agrar-, Fischerei- und Industriegüter auf der Liste des Welthandels. Hinzu kamen außerdem Dienstleistungen und die Einführung einer Art Weltpatentrecht - das sogenannte TRIPS-Abkommen. Vielen WTO-Neumitgliedern blieb damals nichts anderes übrig, als die Vorhaben abzunicken. Kleinen und armen Staaten fehlten zudem die Fachleute und das Geld, um die Auswirkungen der Beschlüsse wirklich zu prüfen. So hatten zum Beispiel die neuen Patentregeln zur Folge, dass die Entwicklungsländer mehr Aidsmedikamente bei Pharmakonzernen aus dem Norden teuer kaufen mussten anstatt sie in Nachahmung billig selbst herzustellen.

    Tobias Reichert beobachtet für die Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch seit langem die WTO-Verhandlungen.

    "Die Entwicklungsländer hatten sich von der Vertragsunterzeichnung erwartet, dass gerade von Seiten der Industrieländer der Agrarmarkt viel mehr liberalisiert wird, dass sie viel mehr Zugang zu den Märkten der EU haben würden. Dafür waren sie bereit, Zugeständnisse zu machen. Die Seite mit den Agrarliberalisierungen hat sich nicht erfüllt, den Preis für die Marktöffnung bei Dienstleistungen, Patentschutz mussten sie natürlich trotzdem zahlen."

    Doch ab 2001 schien sich das Blatt zu wenden. Schockiert durch den Anschlag auf das World Trade Center und die hasserfüllten, antiwestlichen Botschaften von Osama Bin Laden sprachen sich alle Teilnehmer der Ministerkonferenz in Doha für eine Welthandelsrunde aus, die die Entwicklungsländer begünstigen sollte. Zwei Jahre zuvor war zudem eine WTO-Freihandelskonferenz im US-amerikanischen Seattle in Protestdemonstrationen untergegangen, für die Gewerkschafter und Globalisierungskritiker aus der ganzen Welt angereist waren. Der Tenor: Die Welthandelsorganisation verschärfe die Ausbeutung der Schwachen und Armen weltweit und handle nur im Interesse der multinationalen Konzerne. Was William Daley, damals US-amerikanischer Handelsminister, feststellte, galt nicht nur für die USA, sondern fast überall auf der Welt:

    "Es steht außer Frage, dass sich den USA bei Handelsfragen der Ton in den öffentlichen Debatten verändert hat. Er geht nicht in Richtung Liberalisierung, sondern in Richtung Infragestellung. Wenn es früher um Handelsfragen ging, setzte sich eine Art Verein zusammen und traf Entscheidungen. Die breite Öffentlichkeit war nicht nur nicht beteiligt, sondern die Leute wussten auch kaum, worum es überhaupt ging. Das hat sich heute völlig geändert. Und obwohl die US-Wirtschaft großartig läuft, haben viele Menschen große Ängste, was diese Handelsabkommen für ihre Firma, für ihre Jobs und für ihre Zukunft bedeuten könnten. Damit müssen wir klar kommen."

    Doch seit Seattle 1999 und Doha 2001 haben sich die Rahmenbedingungen erneut entscheidend geändert. Die Rohstoffpreise sind so hoch wie seit langem nicht mehr. Europäische und US-amerikanische Landwirte können derzeit auch ohne hohe Subventionen gute Preise auf den Weltmärkten erzielen. Das gilt auch für wichtige Schwellenländer wie Brasilien, Argentinien oder Südafrika. Sie finden sich zudem in der komfortablen Situation wieder, zwischen den westlichen Industriestaaten und China als Abnehmer für Waren und Rohstoffe wählen zu können. Denn China ist seit 2001 WTO-Mitglied und bei den Ausfuhren mittlerweile die Nummer zwei nach Exportweltmeister Deutschland. Gleichzeitig tritt es als Investor mit prall gefüllter Brieftasche auf - vor allem in rohstoffreichen Staaten. Längst verhandeln Indien, China und Brasilien nicht mehr als Teil der Entwicklungsländer. In Genf bat WTO-Chef Pascal Lamy sie zu den exklusiven sogenannten Green-Room-Treffen mit den großen Handelsmächten. Dort machte sich vor allem Indien zum Sprecher der nicht eingeladenen ärmsten Entwicklungsländer. Der indische Handelsminister Kamal Nath beschrieb seine Erwartungen an die Handelsgespräche so:

    "Es gibt zwei Fenster, durch die jedes Ergebnis dieser Verhandlungen angeschaut werden muss: Wird mit dem Abkommen Wohlstand geschützt oder dient es Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern und schafft es dort die notwendigen Arbeitsplätze."

    Dabei sind die Interessen der Schwellenländer weder unter einander noch mit denen der Entwicklungsländer völlig identisch. Brasilien und Argentinien produzieren selbst Maschinen und Autos und schützen diese Produkte mit hohen Zöllen - und damit als Nebeneffekt auch die lateinamerikanischen Niederlassungen von Peugeot und Volkswagen. Das englischsprachige Indien hat gut ausgebildete Informatiker und einen starken Dienstleistungssektor - schon jetzt lassen britische Firmen ihre Callcenter kostengünstig auf dem Subkontinent betreiben.

    Wenn die Industriestaaten bislang die Öffnung der Dienstleistungsmärkte einforderten, meinten sie allerdings nur die Dienste von Banken und Versicherungen und Wasser- und Energiekonzernen. Keinesfalls wollten sie die Bedingungen für den Bereich liberalisieren, in dem die Entwicklungsländer etwas in Hülle und Fülle zu bieten haben: billige und häufig gut ausgebildete Arbeitskräfte. Entwicklungsexpertin Wiggerthale kann die Forderung Indiens verstehen, Migration in die WTO-Verhandlungen mit einzubeziehen, schränkt aber ein:

    "Auf der einen Seite: Aus gewerkschaftlicher Sicht ist es schwieriger Menschen zu organisieren, die nur für sechs Monate in die EU kommen. Auf der anderen Seite bietet Migration Einnahmen für die Menschen, die dann wieder zurück in die Länder gehen. Problematisch könnte auch der Braindrain sein: Dass die klugen Köpfe eben aus den Entwicklungsländern abwandern und dann vor Ort fehlen."

    Migration sei kein Thema für die WTO, hieß es lange. Doch als die USA am vergangenen Wochenende neben dem Abbau ihrer Agrarsubventionen auch noch anboten, ihren Arbeitsmarkt stärker als bisher für qualifizierte Ausländer zu öffnen, verstärkte dies die allgemeine Zuversicht, die Verhandlungen könnten diesmal erfolgreich enden.

    Doch obwohl in vielen Bereichen eine Einigung zum Greifen nahe lag: Letztlich gescheitert sind die Handelsgespräche einmal mehr an der Landwirtschaft - und zwar an einer bisher weitgehend unbeachteten Schutzklausel, die sich viele Entwicklungsländer für ihre heimische Landwirtschaft wünschten. Es ging ihnen darum, in bestimmten Ausnahmefällen ihre Importzölle erhöhen zu dürfen. Denn während Brasilien, Argentinien oder auch Thailand tatsächlich als potente Rivalen für EU und USA auf die Weltagrarmärkte drängen, fürchten Indien, China und viele afrikanischen Staaten bei einer allgemeinen Marktöffnung um die Existenz von Millionen von Kleinbauern.

    "Es geht bei dieser Schutzklausel darum, dass Entwicklungsländer eine Möglichkeit bekommen sollen, ihre Agrarmärkte gegen einen plötzlichen Importanstieg bzw. einen Importpreisverfall zu schützen. Dass ist deshalb wichtig, weil in den meisten Entwicklungsländern die Mehrzahl der Bevölkerung auf dem Land lebt und die Agrarsektoren kleinbäuerlich geprägt sind. Das heißt, wenn da eine starke Marktstörung eintritt, wenn die Einkommen aus der Landwirtschaft stark sinken, dann hat das direkt starke Armutseffekte. Da wollen die Entwicklungsländer ein Instrument haben, dass sie diesem Trend frühzeitig und effektiv entgegen arbeiten können. Die USA waren aber nicht bereit, dieses Zugeständnis zu machen."

    Die Angst vor den Agrargiganten EU und USA ist begründet. Zwar haben beide in Genf einen beeindruckend klingenden Subventionsabbau vorgeschlagen - im Fall der EU um 80 Prozent. In absoluten Zahlen stellt sich das jedoch weitaus weniger großartig dar. Der Grund liegt in den WTO-Verträgen. Neumitglieder mussten bei der Gründung unterschreiben, dass sie auf Agrarsubventionen, die die Preise auf den Weltmärkten verzerren könnten, verzichten würden. Bei Vertragsverletzung drohen Strafen - verhängt durch das Schiedsgericht der WTO. GATT-Altmitglieder wie EU und USA hatten sich zuvor jedoch noch gegenseitig hohe Obergrenzen für Subventionen genehmigt, die in die WTO-Verträge übernommen wurden. Tatsächlich gibt die EU aber gar nicht soviel Geld für die Landwirtschaft aus - sondern hat sich nur ein Hintertürchen offengehalten. Marita Wiggerthale von Oxfam:
    "Die zulässige Höchstgrenze für handelsverzerrende Subventionen liegt derzeit noch bei 110 Milliarden Euro, sie wäre dann runter auf 22 Milliarden gesenkt worden. Wenn die EU das jetzt direkt hätte umsetzen müssen, hätte sie vielleicht etwas kürzen müssen. Allerdings werden solche Vereinbarungen ja über die Zeit von fünf Jahren geschlossen und da ist die Einschätzung, die Bauern hätten das vermutlich praktisch nicht gespürt."

    Also besser kein Abkommen als ein schlechtes ? Während aus den Reihen der WTO-Mitarbeiter Verständnis für die indische und afrikanische Ablehnung der Verhandlungsvorschläge zu hören war, ist EU-Handelskommissar Peter Mandelson überzeugt, dass die Entwicklungsländer die großen Verlierer sind.

    "Am Ende sind wir über ein kleines Detail einer einzigen Handelsklausel gestolpert. Das ist ein kollektives Versagen. Aber die Folgen sind nicht für alle in diesem Kollektiv gleich verteilt. Die ärmsten Entwicklungsländer hatten am meisten von einer neuen Runde profitiert, sie werden die größten Verlierer sein, und ich glaube, dass ist eine große Tragödie."

    Für Indien, China und die afrikanischen Staaten handelte es sich bei der Schutzklausel für Agrarimporte jedoch offenbar nicht nur um ein Detail. Was nun? Die US-Handelsbeauftragte Susan Schwab betonte gestern in Genf ihre Bereitschaft weiterzuverhandeln. Im Herbst könne man sich ja wieder treffen:

    "Jetzt ist nicht die Zeit, über ein Scheitern der gesamten Handelsrunde zu sprechen. Die Zusagen der USA bleiben auf dem Tisch. Wir warten weiter auf Angebote auf Gegenseitigkeit der anderen. Es ist wichtig, dass wir vorankommen. Deshalb ist es umso bedauerlicher, dass unsere Verhandlungsangebot von Freitagabend den heutigen Tag wohl nicht überstehen wird."

    Allerdings steht in den USA der Wahlkampf vor der Tür - keine gute Zeit für internationale Zugeständnisse. Auch in der Europäischen Union werden 2009 mit der Neuwahl des EU-Parlaments und der EU-Kommission die Karten neugemischt. Bis Ende dieses Jahres lenkt zudem der Franzose Nicolas Sarkozy als europäischer Ratspräsident die Geschäfte der EU. Sarkozy versuchte schon vor Beginn des Genfer WTO-Treffens EU-Kommissar Peter Mandelson zurück zu pfeifen und das bereits erteilte Verhandlungsmandat einzuschränken - zum Schutz der französischen Landwirtschaft. Bevor die Doha-Runde also tatsächlich abgeschlossen wird, muss der WTO-Generaldirektor und Marathonläufer Pascal Lamy sicher noch viele Hürden nehmen.