Mittwoch, 24. April 2024

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Auf in die Karpaten!

Die Hohe Tatra, die Karparten, das Slowakische Paradies - die Landschaften im Osten der Slowakei klingen wie ein Versprechen. Und so sieht die Gleichung auf den ersten Blick verlockend einfach aus: Wenn Touristen in die entlegenen Regionen der Slowakei kommen, dann bringen sie endlich den Wohlstand, der bis jetzt nur die Hauptstadt Bratislava erreicht, aber um den Rest des Landes einen weiten Bogen gemacht hat. Ausländische Investoren haben noch keine Fabrikhallen aufgestellt im Osten und im Norden des Landes, wo die Schönheit der Natur das einzige Kapital ist, auf das man wirklich setzen kann.

Mit Reportagen von Kilian Kirchgeßner. Moderation: Simonetta Dibbern | 21.02.2009
    Und so entstehen derzeit in allen slowakischen Provinzen Konzepte, wie die internationalen Touristen angelockt werden könnten: mit überdimensionalen Aquaparks, mit neuen Skiliften und mit Appartment-Blöcken, die verheißungsvolle Namen tragen: "Valley View" oder "Leisure Park Suite". Doch die Rechnung geht nicht für alle auf: nicht für die einst hoffnungsvollen Unternehmer, deren Betten sich nicht füllen wollen. Nicht für die örtlichen Planer, die erstmal viel Geld investieren müssen, um die Ostblock-Patina aus den Ferienorten zu tilgen. Und schon gar nicht für die Umweltschützer, die warnen vor enthemmten Tourismus-Investitionen auf Kosten der Natur.

    Kurz hinter der Hauptstadt Bratislava beginnt die Gebirgskette der Karpaten - ein europäisches Faltengebirge, das sich über insgesamt 1300 Kilometer Richtung Osten zieht, bis hin nach Rumänien. Dieser Karpatenbogen, an den sich die slowakische Republik geradezu anschmiegt, stand Pate für den jüngsten Spitznamen der Slowakei: Karpatentiger. Nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf hatte sich das Land seit Ende der 90er Jahre mit radikalen Reformen an die wirtschaftliche Spitze Europas katapultiert, war unter den ersten zehn Neuen der EU, ist seit dem 1. Januar 2009 Teil der Eurozone. Und das Wirtschaftswachstum war im vergangenen Jahr das höchste in der EU.

    Doch von dem Wirtschaftswunder ist in den Karpaten selbst wenig zu spüren, die Arbeitslosigkeit liegt in den ländlichen Regionen teilweise bei mehr als 20 Prozent.

    Nun setzt die Provinz auf das, was sie hat: Auf die Schönheit der Natur. Seit einigen Jahren entstehen überall im Land neue Tourismus-Konzepte, um wohlhabende Urlauber aus der ganzen Welt anzulocken - und damit Geld in die Bergregionen zu holen.

    Zum Beispiel in der Hohen Tatra. Seitdem das Städtchen Poprad über einen internationalen Flughafen verfügt, kommt Aufschwung in die Provinz. Zumindest für den Teil der Bevölkerung, der mehr anbietet, als Wanderungen ins Hochgebirge.



    Exklusive Tortenstückchen mitten in der Wildnis
    Ein erfolgreicher Makler über das lukrative Geschäft mit der Natur
    Ein Gasthaus mitten in der Natur, draußen vor dem Fenster erhebt sich das Bergmassiv der Hohen Tatra. Drinnen geht es rustikal zu: Die Bänke sind aus groben Holzbohlen gezimmert, im offenen Kamin lodert das Feuer und die Kellner sind in folkloristische Tracht gekleidet. Koliba nennen die Slowaken diese Kneipen, die nostalgische Erinnerungen an eine Berghütte wecken sollen.

    Die Stimmung ist blendend, es ist ein Geschäftsessen ganz nach dem Geschmack von Jan Slavkovsky. Er ist einer der erfolgreichsten Makler in der Tatra, spezialisiert auf luxuriöse Zweitwohnungen in den Bergen.

    "Klar, dass reiche Leute hier wohnen wollen. Das hat sich in den vergangenen Jahren so entwickelt, zuerst kamen die Luxushotels, jetzt sind aber eigene Appartements immer stärker nachgefragt. Alle kaufen hier: Die slowakischen Celebritys; unsere Spitzensportler, die Jungs aus der Hockeymannschaft zum Beispiel. Echte Millionäre sind das, und die finden hier alles, was sie zum Leben brauchen."

    Die Quadratmeter-Preise für Wohnungen in neuen Appartement-Anlagen haben sich innerhalb von vier Jahren verdoppelt. Eine Entwicklung, auf die auch der Mann setzt, mit dem sich Makler Jan Slavkovsky in der Koliba zum zünftigen Mittagessen trifft. Ein Investor, der sich vor drei Jahren ein paar Hektar Bauland gekauft hat.

    "Jetzt wollen wir das bebauen. Parzellieren, erschließen, Wege anlegen. Ein großes Projekt wird das. Ich werde die Häuser bauen, und Jan verkauft nachher die Wohnungen. Hier in der Gegend ist das für mich eine Premiere, aber in der Branche bin ich etabliert, in der gesamten Slowakei habe ich schon mehrere hundert Projekte gemacht."

    Makler Jan Slavkovsky wittert ein gutes Geschäft. In vier, fünf Monaten, meint er, könnte es mit dem Bau losgehen, dann wird er noch in diesem Jahr in der Rohbau-Phase die ersten Appartements verkaufen. Es ist ein schnelles Geschäft, hier in der Tatra. Seit fünf Jahren ist Jan Slavkovsky dabei, ein Mann in seinen Vierzigern mit gegelten Haaren und legerem Anzug. Nach der politischen Wende war er für ein paar Jahre ins Ausland gegangen, dann ist er zurückgekehrt in seine Heimat.

    "Ich habe damals im Internet mitgekriegt, dass es in der Slowakei besser geworden ist, dass man ohne Probleme ein richtiges Business machen kann. Da habe ich mein Maklerbüro in der Tatra eröffnet. Das war genau zur richtigen Zeit, denn da ging gerade der Boom los. Die Slowaken sind langsam reich geworden und unser Regionalflughafen hat einen direkten Linienflug nach England gekriegt. Stellen Sie sich das nur mal vor: Sie steigen in London ins Flugzeug und sind in zwei Stunden hier, mitten in den Bergen, im Schnee, in der Ruhe. Die Engländer haben massenweise angefangen zu kaufen."

    Das war die Goldgräberzeit in der Hohen Tatra. Die großen Development-Firmen haben hektarweise gebaut, ganze Dörfer voller Ferienappartements sind neu entstanden. Wer es richtig angestellt hat, sagt Jan Slavkovsky, konnte beim Verkauf 100 Prozent Gewinn einstreichen. An den lukrativsten Orten mitten in den Bergen kostet ein einziger Quadratmeter locker 4.000 Euro - soviel, wie ein durchschnittlicher Slowake in einem halben Jahr verdient.

    Seine Kundschaft chauffiert Jan Slavkovsky standesgemäß mit einem schweren Geländewagen durch die Tatra, in silberner Farbe lackiert und aufgerüstet mit mächtigen Stoßdämpfern.

    "Das ist das richtige Auto für die Arbeit - anders als mit Vierradantrieb kommt man hier im Winter sowieso nicht vorwärts."

    Steil steigt die Straße an, die Schneedecke wird immer dicker und vor den Scheiben des Autos zieht das Bergpanorama der Tatra vorüber. Ab und zu führt die Straße durch ein Dorf, so klein, dass es in wenigen Momenten schon durchquert ist. Auf einmal öffnet sich der Blick, am Fuß der Berge taucht eine Siedlung auf, die größer ist als die übrigen Dörfer, schon von weitem ist an den bunten Fassaden zu erkennen, dass sämtliche Häuser höchstens ein paar Jahre alt sind. Jan Slavkovsky lässt sein Auto ausrollen.

    "Beverly Hills on the High Tatras."

    Der Stolz schwingt mit in seiner Stimme. Beverly Hills, so haben sie die Siedlung hier genannt, mitten in der slowakischen Tatra.

    "Hier haben die slowakischen Prominenten ihre Häuser und auch einige Exilanten. Der durchschnittliche Preis dieser Häuser liegt bei einer Millionen Euro."

    Langsam steuert er durch die Straßen, vorbei an riesigen Häusern mit Säulenportalen am Eingang, unzähligen Gauben auf dem Dach und ausladenden Pools im Garten.

    "Und dann heißt es, in der Slowakei herrsche Armut! Welche Armut denn? Ah, das da vorne zum Beispiel, schauen Sie nur: Das gehört einem Amerikaner, ein amerikanischer Arzt, der hier aus der Slowakei stammt. Jetzt hat er eine Klinik in Kalifornien und einmal im Jahr kommt er her. Da hat er sich halt das Haus hier hingebaut."

    Ein typisches Beispiel, sagt Jan Slavkovsky: Viele seiner Kunden seien nur selten hier, manche haben auch noch ein Haus in den Alpen. Alles eine Frage der Philosophie, erklärt er.

    "Wer sein Appartement in der Tatra hat, der genießt eben ein gewisses Renommee. Da ist es egal, ob es sich wirtschaftlich lohnt oder nicht, es geht nur um eins: Ich als Slowake muss eben ein Anwesen hier in den Bergen haben, je weiter oben, desto besser. Uns als Maklern macht das natürlich viel Freude."

    Jetzt werde sich der Luxusmarkt langsam sättigen. Grund zur Sorge sei das aber nicht: Als nächstes komme eben die Mittelschicht an die Reihe, mit weniger extravaganten Häusern, aber auch mit Blick auf die Berge. Da vorne, sagt Slavkovsky und deutet durch die Windschutzscheibe, dort werden schon die Grundstücke vorbereitet. Die nächste Welle, da ist er sich sicher, rolle gerade erst an.


    Von der Hauptstadt Bratislava bis in den Nordosten der Slowakei, Richtung Polen und Ukraine, ist es zwar gar nicht so weit: etwa 400 Kilometer. Der Weg dahin jedoch ist beschwerlich: schlechte Straßen, ein marodes Schienennetz, im Schritttempo zuckeln die Züge Richtung Osten. Die fehlende Infrastruktur reizt kaum einen Investor, hier Fabrikhallen zu bauen. Und so ist das slowakische Wirtschaftswunder bisher nicht angekommen im Osten der Republik. Die slowakische Schriftstellerin Irena Brezná lebt schon seit 40 Jahren in der Schweiz - als Reise- und Kriegsreporterin in aller Welt hat sie sich einen Namen gemacht. Anfang des 21. Jahrhunderts hat sie eine Spurensuche im Land ihrer Kindheit unternommen: "In der Bahn, aus der Bahn" ist der Titel ihres Essays über den wilden Osten der Slowakei. Mit humorvollen und kritischen Blicken hinter die Kulissen.



    Gerade einmal 16 Jahre ist es her, dass Tschechen und Slowaken auseinandergingen und die Slowakei zum ersten Mal ein unabhängiger Staat wurde. Bis dahin hatten Fremde das Land regiert: ungarische, österreichische, deutsche, polnische, türkische Herren waren hier, später auch tschechische Chefs und russische Drahtzieher. Nur mit Mühe hat das 5 Millionen-Volk während dieser Jahrhunderte seine Sprache und seine Kultur am Leben erhalten - die Verbundenheit mit dem Land, mit den Bergen und mit der Natur haben dabei geholfen. So ist der Berg Krivan eine Art Nationalheiligtum der Slowaken. Und die Schönheit und die Kraft der wilden Berge wird in zahlreichen Liedern und Gedichten besungen, sogar in der Nationalhymne: "Über der Hohen Tatra blitzt es, die Donner rollen wild", heißt es darin. "Halten wir sie, Brüder, sie werden schon verschwinden, die Slowaken werden neu zum Leben erwachen."

    Und so werden viele Slowaken den 19. November 2004 nicht so schnell vergessen: an diesem Tag fegte ein realer Orkan über den Nationalpark Hohe Tatra und schlug innerhalb weniger Stunden eine tiefe Schneise der Vernichtung: auf 120 Quadratkilometern

    wurden die Fichten umgelegt, der Bergwald einfach weggefegt. Bis heute ähnelt die Gegend einer Mondlandschaft. Für die Naturschützer in der Hohen Tatra war diese Katastrophe eine doppelte: der älteste Nationalpark der Slowakei, in dem seit 1948 strenge Naturschutz Kriterien gelten, um die wilde Flora und Fauna vor der Zivilisation zu schützen, steht seitdem zur Disposition: Politiker und Hoteliers wittern Chancen, das abgeholzte Gebiet für ihre Interessen zu nutzen. Ökologie versus Ökonomie.

    Und so ist das Gebiet des ehedem streng geschützten Nationalparks zum Spekulationsobjekt geworden - und so mancher engagierter Naturschützer zum einsamen Kämpfer.




    Wo Geld lockt, hat der Wald keine Chance mehr
    Der ehemalige Direktor des Nationalparks Hohe Tatra über den Ausverkauf der Berge
    Eine kleine Siedlung auf den ersten Hügeln des Hochgebirges, vier Häuser stehen hier, eine Postfiliale und die Zufahrtsstraße zum Skilift. Auf seiner Einfahrt hackt ein alter Mann auf die Eisschicht ein. Weit und breit ist er der einzige, den Tomas Vancura auf seinem Rundgang sieht.

    "Wo sind die Skifahrer? Sind die alle ausgestorben oder was?"

    Tomas Vancura war bis vor zwei Jahren Direktor des Nationalparks, heute kümmert er sich in Eigenregie um den Schutz der Tatra. Und er spricht mit den Leuten - viele kennt er noch von früher.

    "Heute sei nichts los, antwortet der Alte, aber zumindest über Weihnachten sei etwas Betrieb gewesen. Und letzte Woche, fragt Tomas Vancura - auch eine Katastrophe? Na ja, viele Besucher seien auch da nicht gekommen."

    Die beiden plaudern ein bisschen, es geht um die Leute aus dem Dorf und was in den letzten Wochen passiert ist. Dann verabschiedet sich Vancura und stapft über die eisige Straße weiter bergauf zum kleinen Skilift, der mangels Besuchern gänzlich stillsteht.

    Tomas Vancura federt schwungvoll beim Gehen, 42 Jahre ist er alt, seinem drahtigen Körper sieht man die Ausdauer an. Er ist oft hier draußen, kaum jemand kennt die Tatra so gut wie er.

    "Jetzt sind wir in der Podbansky-Gegend, hier bin ich aufgewachsen. Diese kleine Ecke hier liegt meinem Herzen am nächsten. Schauen Sie, was Sie von hier aus alles sehen: Da vorne die Kette der Berggipfel und hinter uns die flache Ebene. Es reicht, wenn Sie ein paar Meter in den Wald gehen, dann herrscht absolute Stille. Ich kann hier nachdenken und wieder neue Energie tanken."

    Sein Leben lang war Tomas Vancura hier in der Tatra. Er ist gelernter Forstwirt, genauso wie schon sein Vater und auch dessen Vater. Bis zum Direktor des Nationalparks Hohe Tatra hat er es gebracht, seine Welt war in Ordnung - bis vor zwei Jahren. Da wurde er abberufen. Er sei, so hieß es, nicht aufgeschlossen genug für Infrastrukturprojekte. Die Infrastruktur, das ist in der Tatra eher ein Codename. Hinter dem Wort verstecken sich die Development-Gesellschaften, die immer neue Hotels, Appartements und Skilifte bauen wollen und denen Tomas Vancura mit seinen strikten Schutzvorschriften irgendwann zu lästig wurde. Statt den vermeintlichen Fortschritt zu rühmen, predigt er von den

    "Eigentlich waren schon in meiner Kindheit alle Erlebnisse mit der Natur verbunden. Ich sitze auf einem Fels und schaue in den Sonnenuntergang, dann stolpere ich im Dunkeln nach Hause. Ein Gewitter, das uns oben in den Bergen überrascht. Oder auch, als ich zum ersten Mal einen Bären gesehen habe. Da war ich sieben Jahre alt. Ich war mit meinem Vater unterwegs, und die Bären kamen bis auf wenige Meter an uns heran. Mein Vater war unglaublich nervös, aber zum Glück ging alles gut - und ich war als Kind natürlich begeistert, einen Bären aus solcher Nähe gesehen zu haben."

    Das ist die Welt von Tomas Vancura, die Natur in ihrer ungebändigten Form. Sie zu erhalten, darin sieht er seine Berufung - zuerst als Nationalpark-Chef, jetzt seit seinem erzwungenen Abtritt eben als Einzelkämpfer in seiner Freizeit. Alle paar Wochen setzt er sich ins Auto und fährt die Serpentinen hinauf, die sich von seinem Heimatort Liptovsky Hradok am Fuße der Berge hinaufwinden in die Tatra.

    Es sind Kontrollfahrten: er will sehen, was sich inzwischen verändert hat und hören, was die Leute da oben erzählen, die ihn noch aus seiner Zeit als Nationalparkdirektor kennen. Er alleine, sagt Tomas Vancura, könne nur wenig ausrichten, aber eine müsse ja zumindest den Überblick behalten, wo die allmächtigen Bauunternehmer wieder einmal ihre Grenze überschritten.

    Es ist wenig Verkehr auf den Bergpässen, von denen aus der Blick weit hinunterschweift ins Tal. Der Hang da vorne, sagt Tomas Vancura und zeigt hinaus, da wollten die allen Ernstes eine Skipiste aufbauen.

    "Ein Nationalpark ist wie eine Galerie, wie eine Kirche. Man soll nicht reden, sondern nur zuhören. Man soll nichts machen, sondern sich umschauen, die Natur auf sich wirken lassen. Und was machen wir? Wir nennen die Tatra einen Nationalpark, und dann kommt man her und stellt fest, dass überall Skilifte sind. Dann schafft doch einfach gleich den Nationalpark ab und schreibt drauf: Skigebiet Tatra"

    Ein paar Kilometer weiter, die Stadt Strbske Pleso ist eine einzige Baustelle. Vor fast jeder Fassade steht ein Gerüst, das Hämmern dröhnt bis zum Bergsee, der dem Ort seinen Namen gegeben hat. Die Wasserfläche ist zugefroren, Tomas Vancura bleibt stehen und schaut über den See hinweg auf das andere Ufer. Majestätisch türmen sich dort die Berge auf. Davor ist ein massiger Betonklotz zu erkennen, mitten in der herrlichen Landschaft. Wohnungen sollen da entstehen, in ein paar Wochen wird alles fertig sein.

    "So etwas spricht doch für sich selbst, sagt Tomas Vancura. Was soll man da noch dazu sagen? Die bauen hier diese Betonburg hin ohne Rücksicht darauf, dass sie überhaupt nicht in die Landschaft passt."

    Immer weiter zieht sich die Bebauung in das Hochgebirge hinein, Stück für Stück werden Schutzkategorien aufgeweicht und Ausnahmegenehmigungen erteilt. Der Kommunismus, sagt Tomas Vancura, habe der Tatra eine 40 Jahre währende Verschnaufpause gegeben, weil niemand Geld hatte für Ferienhäuser, Skipisten und Standseilbahnen. Jetzt aber hole man alle die Sünden innerhalb weniger Jahre nach.

    "Wir haben einfach kein Konzept, was wir mit unserer Tatra wollen. Es gibt so viele Leute, die hier Geld verdienen wollen. Da bewerben die einen ihre neuen Ferienappartements mit einem tollen Blick auf die Berge und wissen gar nicht, dass der nächste Investor seinen Appartementblock genau in die Sichtachse bauen will. Und vielleicht kommt danach schon gleich der Dritte."

    Er kenne noch einen wunderbaren Ort, sagt Tomas Vancura, den er sich unbedingt noch anschauen müsse. Ein schmaler Weg führt bergauf, ein ganzes Stück lang, dann gibt der Wald unvermittelt den Blick frei: hinunter in ein Tal und über das gegenüberliegende Bergmassiv.

    Das hier ist ein herrliches Gelände, sagt er und fügt hinzu: Ein richtig lukratives Stück von der Tatra.

    Dann hält er inne und lacht laut auf. Vielleicht, sagt er dann, beschäftige ich mich schon zu lange mit dem Thema. Ein lukratives Stück Land - jetzt rede ich schon genauso wie die Investoren!


    Der Tourismus hat in der Slowakei eine lange Tradition - nicht nur die klare Luft der Karpaten hat Skisportler wie Lungenkranke seit jeher angezogen: auch die zahlreichen Mineral- und Heilwasserquellen im Land dienten Erholungsbedürftigen schon seit Ende des 19. Jahrhunderts als Orte der Regeneration. Die zahlreichen üppig-luxuriösen Kurbäder waren zwar während des Sozialismus in eine Art Dornröschenschlaf gefallen - doch nun werden die alten Traditionen wiederbelebt. Und in manchen Orten müssten gar keine überdimensionalen Aquaparks errichtet werden, um das Bedürfnis der Betuchten nach Entspannung und Gesundheit zu erfüllen.
    Zum Beispiel in dem Städtchen Piestany am Ufer der Waag. Im Mittelalter lag der Ort an der bedeutenden Handelsroute zwischen Böhmen und Ungarn - die Heilkräfte der hiesigen Schwefelschlammpackungen wurden einige Jahrhunderte später entdeckt, unter anderem von Ludwig van Beethoven. Der Krückenbrecher, das bronzene Wahrzeichen der Stadt, hat die sozialistische Ära überdauert, heute wirbt Piestany mit einem neuen Konzept: es kommen zwar jetzt schon 50.000 Kurgäste im Jahr, mehr als die Hälfte aus dem Ausland. Es sind vor allem ältere Menschen - das, so befindet der Bürgermeister von Piestany: ließe sich optimieren. Er plant: das traditionelle Kurbad umzuwandeln in eine Wellness-Oase.


    Vom Traditionskurbad zur Wellness-Oase
    Der Bürgermeister des Städtchens Piestany über neue Perspektiven
    Das Rathaus der Stadt Piestany, ein schmuckloser Bau mitten in der Stadt. Zwölf Stufen führen hinauf in die Eingangshalle, und wer sich dort noch einmal umdreht, sieht das ganze Dilemma von Piestany; einer Stadt, die zwischen großer Vergangenheit und kommunistischer Bürde schwankt: Zur Rechten das historische Gymnasium, ein paar Schritte weiter eine hübsche kleine Kirche. Gerade aus, in der Mitte eines kleinen Platzes, steht ein Denkmal zum slowakischen Nationalaufstand, auf der linken Seite dann sozialistischer Funktionalismus. Grau sind die Fassaden, auf den Straßen ist wenig Betrieb. Der Mann, der das ändern

    "Ich sage immer, dass ich nur irrtümlich zum Bürgermeister geworden bin. Eigentlich bin ich nämlich kein professioneller Kommunalpolitiker, ich habe nicht einmal irgendein Parteibuch. Ich saß einfach mit den Jungs zusammen, wir haben über die Wahlen gesprochen und wollten etwas für die Stadt tun. Da habe ich gesagt, gut, ich kandidiere - und bei den Wahlen vor sechs Jahren bin ich Bürgermeister geworden. Da war ich selbst überrascht."

    Remo Cicutto wirkt kumpelhaft, er trägt einen legeren Pullover und eine schwarze Designerbrille. 47 Jahre ist er alt, ein studierter Geologe, früher war er mehrfach tschechoslowakischer Meister im Segelsport. Sein Büro hat er mit modernen Möbeln eingerichtet, alles um ihn herum soll nach Aufbruch aussehen und nach Zukunft.

    "Der Tourismus ist das wichtigste Phänomen für die Entwicklung unserer Stadt. Deshalb gehen wir auf internationale Messen, um Werbung für uns zu machen. Wir sind schließlich bekannt als größtes Heilbad in der Slowakei."

    50.000 Besucher pro Jahr kommen nach Piestany, die meisten bleiben gleich für ein paar Wochen. Hier am Fluss Waag entstand schon zur Zeit der Habsburger-Monarchie ein mondäner Kurort, gerade einmal 150 Das Zentrum des Heilbades liegt ein Stückchen abseits der Altstadt von Piestany; dort, wo die Waag träge an der Stadt vorbeifließt. Eine überdachte Fußgängerbrücke mit einem Kollonadenweg ist weit über den Fluss gespannt und endet auf einer Insel. Hier sind sie wie Perlen aufgereiht, die prachtvollen Badetempel, die luxuriösen Hotels und die Cafés. An den Fassaden prangen üppige Jugendstil-Ornamente, an den Straßenecken entspringt kunstvoll verzierten Brunnen das 60 Grad heiße Heilwasser. In den vergangenen Jahren ist die noble Kurinsel wieder auf Hochglanz gebracht worden - ein Verdienst auch von Remo Cicutto, dem slowakischen Bürgermeister mit dem italienischen Namen. Es ist eine Familientradition, an die Cicutto anknüpfen will.

    "Ich gehöre zur vierten Generation mit diesem Namen hier in Piestany. Mein Urgroßvater war ein italienischer Baumeister, er hatte gerade in Ungarn den Auftrag für ein Denkmal aus Marmor bekommen, er war also ganz in der Nähe von Piestany. Und weil sie hier geschickte Steinmetze brauchten, haben sie ihn geholt. Er hat damals das Hotel Thermia geschaffen, diesen großen Palast drüben auf der Insel."

    Remo Cicutti, der Urenkel, erzählt heute gerne von seiner Familiengeschichte. Er hat sie zu seinem politischen Programm erhoben und macht sich jetzt daran, die sozialistische Patina aus dem Stadtbild von Piestany zu tilgen. Wenn er für seine Pläne wirbt, gerät er ins Schwelgen.

    "Es muss eine Stadt sein, die an das anknüpft, was am meisten zur Prosperität beigetragen hat: an die Tradition als Heilbad und Touristenziel. In der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg haben uns Monarchen, Maharadschas und eigentlich die ganze Welt besucht. Das hat das gesellschaftliche und das kulturelle Leben beflügelt, und da müssen wir jetzt wieder hin. Piestany soll eine Stadt der Behaglichkeit sein, des Geistes, der Bewegung und der kulturellen Aktivitäten."

    Während auf der Kurinsel mit ihren eleganten Hotels schon längst wieder die Gäste aus dem Ausland promenieren, sitzt Bürgermeister Remo Cicutto in seinem Rathaus und wartet darauf, dass der Aufwärtstrend die ganze Stadt erfasst. Auch 20 Jahre nach der Wende sind die Spuren des Sozialismus allgegenwärtig, von den Plattenbauten am Stadtrand angefangen bis hin zu den Schlaglöchern, die hier und da in den Straßen klaffen. Obwohl überall in der Stadt renoviert und gebaut wird, geht es dem Bürgermeister mit dem Wandel nicht schnell genug.

    "In einem Jahr machen wir hier etwas, im nächsten dann da. Erst die Kanalisation, dann die Gasversorgung, dann das nächste. Eins nach dem anderen. Ich könnte mir das viel schneller vorstellen, aber das scheitert am Geld. Wir sind ja nicht die einzigen in der Slowakei, die darauf warten. Und deshalb sieht es halt hier so aus: Die Straßen und Plätze können wir ja erst erneuern, wenn die Leitungen verlegt sind, sonst müssen wir das alles gleich wieder aufreißen."

    Mit seinen großen Plänen von der Renaissance der goldenen Zeit fängt Remo Cicutto deshalb jetzt von der anderen Seite an: Wenn sich schon das Stadtbild nicht von einem Tag auf den nächsten verändern lässt, dann will er zumindest die Kulisse der Altstadt wieder mit Leben füllen: In seinen sechs Jahren als Bürgermeister hat er eine Fußgängerzone eingerichtet, er hat ein Jazzfestival und eine Konzertreihe begründet und für die jungen Leute im Sommer ein Streetbasketball-Turnier organisiert. Es scheint so, als saugten die Leute sämtliche Änderungen begierig auf. Ein paar Jahre noch, sagt Remo Cicutto und seine Augen leuchten dabei, dann weht hier wieder der Geist aus der glanzvollen, aus der großen Zeit von Piestany.


    Der Berg ruft. Und der Gipfel lockt - auch im Winter. In die Berge gehen die Menschen in den Karpaten immer schon - der heilige Berg Krivan ist gar eine Art Pilgerweg zur slowakischen Seele. Und wer keine Herde nach oben treibt, sondern auf dem Gipfel rasten will, der freut sich, neben dem Naturschauspiel auch etwas fürs körperliche Wohlbefinden zu bekommen auf der Berghütte.

    Wie in allen Gebirgsregionen der Welt gibt es auch in den slowakischen Karpaten Lastenträger, die die Proviantstationen bestücken - nach dem Absturz eines Hubschraubers ist man hier zurückgekehrt zur Tradition. Wer das Gepäck für andere hoch trägt, bekommt etwa 25 Cent pro Kilogramm - der größte Lohn aber ist ein ideeller.



    Mit 100 Kilo auf dem Rücken bis auf den Gipfel
    Ein Sherpa über die Tradition und die Lust, die Lasten zu Fuß in die Berge zu tragen
    Es geht bergauf, der schmale Pfad in Richtung Gipfel liegt unter einer dichten Schneedecke. Über Nacht hat es gefroren, der Schnee ist verkrustet und spiegelglatt. Peter Petras ist der einzige Wanderer weit und breit, so früh am Morgen hat er hat die Tatra noch für sich. Er trägt

    "Wir Lastenträger werden häufig einfach nur Sherpas genannt, so wie das Bergvolk im Himalaya. Aber meinetwegen sollen die Leute uns so nennen, es ist eben inzwischen auch hier gebräuchlich".

    Peter Petras ist 63 Jahre alt und der Veteran unter den Trägern aus der Tatra. Er ist kein Muskelmann, seine Figur ist drahtig, das Gesicht unter der breiten Hutkrempe ist vom Wetter gegerbt. Er ist jeden Tag hier oben.

    "Ich hatte in all den Jahren nie den Eindruck, ich müsste da jetzt hoch. Immer wollte ich. Auch dann, wenn es lebensgefährlich war. Wie oft ich hier oben schon Gewitter erlebt habe und Stürme, bei denen ich mit flach auf den Boden legen musste, damit sie mich nicht mitreißen. Aber auch jetzt noch, nach tausenden Touren, halte ich oft an, um den Blick zu genießen. Wenn Schnee fällt zum Beispiel, das gibt der Natur jedes Mal ein neues Gesicht."

    Heute ist das Ziel von Peter Petras seine eigene Hütte. Seit zehn Jahren bewirtschaftet er die Rainerova Chata, die älteste Hochgebirgshütte in der Tatra. Jeden Tag geht er morgens hinauf, abends steigt er wieder hinunter ins Tal. Die Vorräte für die Hütte bringt er selbst mit, diesmal hat er zwölf Flaschen Rotwein in seinem Rucksack, einige Liter Petroleum und natürlich ein paar Flaschen Slivovice - was man eben so braucht oben in den Bergen.

    Und da kommt sie plötzlich nach einer Biegung des Weges in Sicht, die Rainerova Chata. Sie ist aus massiven Natursteinquadern gemauert, ein winziges Häuschen, gerade einmal sechs Meter lang. Verschlossen ist es mit einer schweren Holztüre.

    Jetzt geht es los mit dem alltäglichen Programm, sagt Peter Petras. Eine halbe Stunde bleibt ihm, schätzt er, bis die ersten morgendlichen Gäste eintreffen.

    Das Licht kommt aus Öllampen, der trockene Zunder zum Anfeuern des Ofens liegt griffbereit. Auf der schmiedeeisernen Herdplatte schiebt er die großen Töpfe zurecht, in einem kocht er Wasser für Kaffee, im nächsten Glühwein. Dann holt Peter Petras einen großen Sack aus Papier.

    "Wir bieten hier einen echten Kräutertee an, und hier sind die Zutaten dazu. Riechen Sie mal! Alles selbst gesammelt, alles direkt aus der Natur. Das hat mir mein Schwiegervater beigebracht. Die Leute sagen, hier bei uns gebe es den besten Tee in der ganzen Tatra."

    Die Berghütte von Peter Petras mutet wie ein Museum an. Durch die zwei kleinen Fensteröffnungen fällt kaum Tageslicht, einzig die drei Petroleumlampen erleuchten den Raum. Drei lange Tische stehen darin, eine Theke und eine Bank vor dem Kachelofen, die mit einem Schafsfell ausgelegt ist. An der Decke hängt eine Kuhglocken-Sammlung, die Petras im Laufe der Jahre zusammengetragen hat, die Wände sind dekoriert mit einem wilden Sammelsurium aus hundert Jahre alten Ski-Ausrüstungen und historischen Wanderstöcken.

    Die ersten Gäste, die heute kommen, sind Schüler. Eine Klasse aus dem 30 Kilometer entfernten Ort Poprad. Sie haben die Seilbahn genommen, deren Bergstation zwanzig Minuten von der Hütte entfernt liegt. Nach einer Schneeballschlacht draußen vor der Türe kommen sie rein - und staunen über die riesigen Tragegestelle der Sherpas, die hier ausgestellt sind. Sie sehen aus wie hölzerne Leitern, drei Meter hoch. Als Schultergurt dienen alte Feuerwehrschläuche.

    "Die Schläuche sind breit, erklärt Peter Petras den Kindern, deshalb drücken die nicht so wie die Gurte eines normalen Rucksacks. Mit dem Gestell zum Beispiel kann man 120 Kilo tragen!"

    "Haben Sie auch schon mal 120 Kilo getragen, will ein Junge wissen und Petras brummt: Auch mehr. Mein persönlicher Rekord sind 132 Kilogramm."

    Es sind unglaubliche Lasten, die die Sherpas aus der hohen Tatra die Berge nach oben bringen. Ein Freund von Peter Petras hat schon einmal 207 Kilogramm geschafft, auf einem Bild ist er zu sehen: Anderthalb Meter überragt ihn das Tragegestell, auf dem zwei Bierfässer, Propangasflaschen und eine Reihe von Kleinigkeiten festgezurrt sind. Die Träger verdienen damit häufig ihr Geld. Die Hüttenwirte geben ihre Bestellung bei ihnen auf, sie müssen dann Getränke, Lebensmittel und Baumaterial nach oben tragen - und zwar bei jedem Wetter, denn der Hüttenbetrieb muss ja weitergehen. Für Peter Petras war die Arbeit als Träger immer nur ein Nebenjob, erzählt er einem neugierigen Schüler.

    "Ich war ja früher Lehrer, weißt du. Wir hatten damals kein hohes Gehalt, da bin ich eben in die Berge gegangen. Um zwei Uhr bin ich von der Schule losgefahren, um halb vier habe ich die Last aufgenommen und bin losgelaufen. Um zehn Uhr abends war ich wieder unten, um viertel vor elf im Bett. Und am nächsten Tag war morgens wieder Schule."

    Jetzt im Ruhestand kann er sich ganz seiner eigenen Hütte widmen, hoch oben in der Hohen Tatra. Im Winter ist er jeden Tag hier, abends bricht er zum Heimweg auf.

    Wer hier oben arbeitet, sagt Peter Petras, der spüre abends wenigstens

    "Jeder von uns Trägern hat einen Sinn für Abenteuer, sonst kann man die Arbeit gar nicht machen. Das Befriedigende daran ist aber nicht nur die körperliche Anstrengung, sondern auch die Berge. Wir alle spüren einfach die Natur, wir haben eine enge Beziehung zur Tatra."

    Und dann wird er für einen Moment nachdenklich. Viele glauben, sagt er, dass ein guter Sherpa auch hier oben in den Bergen sterben muss. Allein in den vergangenen Jahren sind zwei seiner Kollegen in Lawinen umgekommen, einen konnte die Bergwacht im letzten Moment noch retten.

    "Die Tatra hat mir viele Freunde gegeben, viele hat sie mir auch wieder genommen. Aber so ist es halt, das Leben."

    Dann beschleunigt Peter Petras seinen Schritt. Allmählich zieht die Dämmerung herauf, und bevor es Nacht geworden ist, will er wieder unten sein im sicheren Tal.


    Im Osten der Slowakei muss man mit den Pfunden wuchern, die es bereits gibt, seit Jahrhunderten gewachsen: wilde Natur. Unberührte Berglandschaften. Und: alte Kulturschätze. Der tigerartige Wirtschaftsaufschwung der Hauptstadt Bratislava hat manche ländliche Regionen der Slowakei gelähmt - andere wurden angespornt, zwischen Tradition und Zukunftstraum einen eigenen Weg zu finden. Es gilt die Balance zu finden, zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Einsatz und Erfolgsaussichten - und es sind vor allem die Kommunen selbst, die die Ideen liefern und umsetzen müssen.

    In der Gegend um das Dörfchen Hervartov, nur wenige Kilometer vor der polnischen Grenze, liegt die Arbeitslosigkeit bei 28 Prozent. Die Straßen sind kurvig und voller Schlaglöcher, hier kommt kein Tourist mal eben so vorbei. Doch nachdem die Unesco das kulturelle Erbe der Vorfahren in Hervatov entdeckt hat, träumt der Bürgermeister des Dörfchens von Touristen- und Geldströmen, die kommen werden.



    Wald, Berge - und eine alte Holzkirche
    Das Tatra-Dorf Hervartov will mit Hilfe der Unesco zum Touristenmagnet werden


    Er muss sich jedes Mal quälen, der alte Autobus, der die Strecke nach Hervatov fährt. Eine Bergstraße, die steil nach oben anzieht, übersät von Schlaglöchern. Ein paar Mal am Tag fährt der Bus, das alte Blech ächzt und stöhnt.

    Hervartov liegt in den Ausläufern der Karpaten, ganz im Osten der Slowakei. Wer noch eine gute Stunde weiterfährt, kommt schon an die Grenze zur Ukraine. Die Gegend hier ist dicht bewaldet, die Bäume bilden einen kilometerbreiten Ring rund um Hervartov. Die meisten Einheimischen, die noch dageblieben sind, arbeiten traditionell in der Forstwirtschaft. Zur Mittagszeit treffen sich die Männer im Dorfkrug, ihre Hände sind noch schmutzig von der Arbeit, die Blaumänner spannen sich über den Bäuchen.

    Laut geht es zu, der Kellner trägt dampfendes Gulasch und halblitergroße Biergläser durch die Kneipe. Für die Arbeiter ist Halbzeit - ein paar Stunden noch, dann ist das Tagwerk getan. Hier sind sie unter In einem Nebenraum sitzt Miroslav Mackanic. Er ist der Bürgermeister hier in Hervatov, mit seiner Sekretärin verwaltet er alles, was bei 500 Einwohnern so anfällt. Mackanic ist ein Mann Ende Vierzig, er ist schon hier geboren. Erst als er schon Bürgermeister war, hat er sein Abitur an der Abendschule nachgemacht, jetzt will er vielleicht sogar noch studieren. Seine Amtsstube hat Mackanic praktischerweise gleich über dem Dorfkrug, mit seiner Familie wohnt er ein paar Häuser weiter. Auf den ersten Blick also sieht alles nach Kleinstadtidylle aus - wenn da nicht die großen Pläne wären, die den Bürgermeister seit einigen Monaten umtreiben.

    "Wir sind eine End-Gemeinde, wie wir auf Slowakisch sagen - hinter uns kommt nichts mehr außer Wald. Damit können wir tausende internationale Touristen locken. Wir haben sogar einen Aussichtsturm aufgestellt, von dem aus Sie die ganze Gegend im Blick haben. Und wir haben einen kleinen Fischteich, so dass sich auch Angler bei uns wohlfühlen."

    Die Träume des kleinen Bürgermeisters vom großen Tourismus - seit dem vergangenen Jahr sieht es so aus, als könnten sie sogar zur Wirklichkeit werden. Da ist sein Ort Hervartov in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden - wegen einer Attraktion, die die Einheimischen schon fast vergessen hatten. Etwas abgelegen steht sie im Dorf, hundert Meter entfernt von der Kneipe. Ein altes Gotteshaus ist es, so schön, dass Kirchendienerin Maria Ontekova auch nach vielen Jahren noch ganz begeistert ist.

    "Das ist die älteste Holzkirche der Slowakei und sogar von ganz Europa. Sie stammt aus der Zeit um 1500 und musste seither noch nie renoviert werden. Alles, was Sie hier sehen, ist Original. Kein einziger Nagel ist für den Bau verwendet worden, sondern nur das Baumaterial, das hier in der Gegend vorhanden war - also Fichten- und Eibenholz."

    Ein wahres Wunderwerk ist die Franziskus-Kirche, die sich gleich am Bach unter dichten Baumwipfeln duckt. Über und über sind die hölzernen Wände bemalt, alle Heiligenbilder und Bibelszenen stammen aus dem frühen 16. Jahrhundert und sind prächtig erhalten geblieben. Es waren die Handwerker aus dem Karpatenort, die damals die Kirche gebaut haben. Gottesfürchtig sind sie hier auch heute noch, und für ihr handwerkliches Geschick sind die Männer im ganzen Land bekannt. Deshalb zeigen sie das Werk ihrer Vorväter mit Stolz herum: Wenn Touristen kommen, können sie bei der Kirchendienerin Maria Ontekova klingeln, dann läuft sie rüber zur Kirche und schließt die Türe auf. Normalerweise nämlich ist hier alles fest verrammelt.

    "Wir verwenden die alte Kirche schon fast gar nicht mehr, höchstens noch mal für Hochzeiten und ähnliche Anlässe. Ansonsten gehen wir in unseren Kirchenneubau ein paar Straßen weiter - der ist im Winter sowieso angenehmer, die Holzkirche hat nämlich keine Heizung."

    Jetzt aber, wo sich sogar die Unesco für ihre Dorfkirche interessiert, entdecken die Leute aus Hervartov ihre größte Attraktion auch selbst. Die St.-Franziskus-Kirche könnte für sie der Ausweg aus der Armut sein, hoffen sie: Wenn denn erstmal die Touristen in Scharen in ihren Karpatenort strömen, dann hielte endlich auch der Wohlstand hier Einzug, der so lange einen Bogen um Hervatov gemacht hat. Bürgermeister Miroslav Mackanic hat den Tourismus zur Chefsache erklärt - und schon einmal eine Bestandsaufnahme gemacht.

    "Wir haben unsere Dorfkneipe, wo der Wirt auch für unsere Touristen kochen könnte. Ein paar Familien vermieten Ferienzimmer, so dass wir ohne Probleme auch einen ganzen Autobus hier einquartieren könnten. Wir sind also gut vorbereitet auf das Interesse von Touristen -gerade erst haben wir gleich neben der Kirche sogar eine öffentliche Toilette gebaut."

    Ein Problem allerdings wird nicht einmal durch diese Infrastruktur gelöst: Wenn Besucher kommen, dann schauen sie sich meistens die Kirche an und fahren gleich wieder weiter - ohne auch nur einen einzigen Cent in Hervartov ausgegeben zu haben. Das zu ändern wird die nächste Herausforderung für Miroslav Mackanic sein. Immerhin, sagt er, helfe der Unesco-Titel, bei den staatlichen Fördermitteln reich bedacht zu werden. Die Chancen für seinen Ort sind also in jedem Fall gestiegen, von der Die Männer im Dorfkrug jedenfalls haben wieder ein neues Gesprächsthema. Und jeden Tag um die Mittagszeit kommt Bürger Miroslav Mackanic aus seiner Amtsstube herunter in die Kneipe und bringt die Neuigkeiten mit. So wie neulich, nachdem er hohen Besuch hatte: Eine Delegation von Amerikanern ist eigens zu ihm nach

    "Die hatten Interesse daran, unsere hölzerne Kirche zu kaufen. Die wollten sie komplett nach Amerika abtransportieren und haben uns versprochen, eine doppelt so große Kirche an den gleichen Platz zu stellen. Das haben wir natürlich abgelehnt - da hätten sich ja unsere Vorfahren im Grabe umgedreht!"

    Und schließlich wäre dann nichts geworden aus dem großen Traum vom internationalen Tourismus, den sie seit einigen Monaten träumen; hier, mitten in den Karpaten.


    Literatur:

    Irena Brezna: In der Bahn, aus der Bahn. Aus: "Die Sammlerin der Seelen". Aufbau Verlag 2004