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Auf Kuba beginnen die schwersten Unruhen seit Castros Machtantritt

Unser Volk schreibt gerade eine historische Seite seiner Geschichte. Es ist konfrontiert mit der größten Macht der Welt. Sie will uns ertränken, ersticken, aushungern. Wir leben in einem schwierigen Augenblick.

Peter B. Schumann | 05.08.2004
    Der "schwierige Augenblick", von dem Fidel Castro 1994 sprach, dauerte bereits fünf Jahre, denn der Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems hatte zum Kollaps der kubanischen Versorgung geführt. Die Wirtschaft des Landes befand sich im freien Fall. Der zwar niedrige, aber solide Lebensstandard der Kubaner sank drastisch. Viele von ihnen konnten als Frühstück nicht mehr als ein Glas Wasser mit aufgelöstem Zucker zu sich nehmen. Kinder gingen oft hungrig zur Schule. Zahlreiche Menschen suchten auf lebensgefährlichen Flößen ihr Heil in der Flucht nach Florida. Jesús Díaz, der früh verstorbene Schriftsteller und Filmregisseur, hat damals die Situation beschrieben.

    Die Menschen sind einfach verzweifelt angesichts der Entbehrungen nach 35 Jahren Revolution: es fehlt an Wasser, an Strom, an Nahrungsmitteln und vor allem an Hoffnung. Es ist heute völlig egal, wie viel jemand arbeitet oder wie fähig er ist: der nächste Tag ist genauso düster. Und das ist etwas, das der Mensch auf Dauer nicht erträgt. Hinzu kommt der ideologische Irrsinn: Wieso darf ein Bauer seine Produkte nicht auch auf dem Markt verkaufen, wo sie fehlen? Das alles führt zu diesen Fluchtversuchen.

    Am Freitag, den 5. August 1994, machte ein Gerücht in Havanna die Runde und veranlasste Tausende von Kubanern in den Hafen zu eilen: eine Fähre wäre gekapert worden und würde viele in die USA mitnehmen. Kurz zuvor waren bereits zwei solcher Schiffe entwendet, aber von der Marine aufgebracht worden. Aus der versammelten Menge bildeten sich bald spontane Demonstrationen. Sie zogen durch die Altstadt und riefen "Freiheit, Freiheit!" Andere warfen Fensterscheiben von Touristenhotels ein und zerstörten zahlreiche Devisenläden. Vereinzelt plünderten sie auch. Die Polizei ging mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. Erst die gefürchteten "Brigaden der schnellen Antwort", Rollkommandos der Staatssicherheit, konnten im Laufe der Nacht die Ruhe wiederherstellen. 35 Personen wurden teilweise schwer verletzt, 275 festgenommen.

    Mit Rufen wie "Fidel, amigo, das Volk steht bei dir" zog anderntags die Kommunistische Jugend durch die Straßen. Und der Rundfunk meldete:

    Havanna hat zu seiner Alltagsroutine zurückgefunden nach dem Aufruhr am Freitag. Nur die Anwesenheit von Bauarbeitern mit Metallrohren an der Uferpromenade Malecón und verstärkte Polizeipatrouillen zeigen: die Regierung hat ihre militärischen Kräfte mobilisiert, um jeden weiteren Aufruhr zu verhindern.
    Es war das erste Mal in der Geschichte der Kubanischen Revolution, dass sich die Verzweiflung der Bevölkerung öffentlich manifestierte, dass sich Kubaner gegen die Regierung Castro erhoben. An diesem 5. August 1994 wurde der tiefe Riss sichtbar, der die Inselgesellschaft allmählich zu spalten begann. Die Staatsführung mobilisierte – wie so oft in Zeiten der Krise – die Massenorganisationen. Am Sonntag versuchte sie durch den Aufmarsch von Hunderttausenden auf dem Platz der Revolution die paar Tausend, die für viele revoltiert hatten, zu widerlegen. Nicht Fidel Castro, sondern General Del Toro, der Chef des Generalsstabs der Streitkräfte, wandte sich an die Bevölkerung, um zu demonstrieren, dass die Regierung sich wie stets auf die Armee verlassen kann.

    Mit oder ohne Blockade: wir werden Stand halten, wir werden weiter voranschreiten und die schwierige Zeit überwinden mit unserer Hände Arbeit. Durch noch wirksamere Anstrengungen werden wir unser gewohntes Produktionsniveau wieder erlangen und neue Devisenquellen erschließen.

    Seither hat sich die Lage gebessert und die Wirtschaft stabilisiert, vor allem durch den Zustrom des Dollar aus dem Tourismus und durch die Dollarüberweisungen der Exilkubaner. Aber die Kluft, die vor zehn Jahren aufbrach, hat sich dadurch zu einem Graben geweitet und das Land der Revolution erneut in eine Klassengesellschaft verwandelt: in jene, die Zugang zu den grünen Scheinen besitzen, und in solche, die ihren Lebensunterhalt mit dem völlig entwerteten Peso fristen müssen – die Mehrheit der Kubaner.