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Auf wackeligen Füßen

Die Abschieds-Festspielpremieren für Sebastian Hartmann im Centraltheater Leipzig vergehen trotz des schwierigen Rufs des Hauses nicht ohne Träne im Knopfloch. Das Projekt "Angst", in dem Texte von Anton Tschechow und Fjodor Dostojewski verarbeitet werden, zeigt jedoch wieder, wie anti-theatralisch Theater wirken kann.

Von Michael Laages | 09.06.2013
    Reden wir nicht drum herum – für Theaterabende wie diesen hat sich das Leipziger Schauspiel im "Centraltheater" in Kreisen der eher konventionell orientierten Theaterkundschaft der Stadt sehr zu Recht den Ruf eingehandelt, konsequent "schwierig" zu sein, gern auch mal unzugänglich, schlimmstenfalls sogar unverständlich zu bleiben für all jene, die sich nicht rückhaltlos einlassen mögen auf die Codes der avancierteren Moderne. Projekte wie der Abend voller "Angst" (so der Titel, unter dem der Regisseur Robert Borgmann Texte von Anton Tschechow und Fjodor Dostojewski zusammen gebastelt hat), können ziemlich gründlich und grundsätzlich verschrecken – so hermetisch köcheln sie im selbst angerührten intellektuellen Wurzelsud vor sich hin, ohne dass der Regie-Koch den Eindruck vermitteln würde, dass dieses Gericht irgendwann mal irgendwem wirklich schmecken soll.

    Klar – der Vergleich steht auf extrem wackeligen Füßen; denn Theater verfolgt nicht notwendigerweise und nur kulinarische Ziele. Aber Künstler machen es sich, den Ensembles und erst recht dem Publikum zuweilen womöglich schwerer als nötig, wenn sie so gar nicht darauf aus sind …

    Zur Sache: Kern der "Angst", so die Titelgeschichte eines Bandes mit Tschechow-Erzählungen, ist eine Dreier-, eigentlich Vierer-Geschichte: der Mann, die Frau, der Gast (und natürlich Geliebte) auf Zeit; und die Großmutter. Und Robert Borgmanns Leipziger Fantasie beginnt zudem mit einer spontanen Begegnung auf der Straße, in der zugleich die ganz große Passion wie die fundamentale Verweigerung echter Liebe lauert. Im Prolog allerdings tappt auch noch ein maskiertes Wesen über die spiegelnde Bodenfolie in der Leipziger Theater-"Arena", und dieses Wesen trägt auf den Rücken geschnallt aus Pappmaschee die fünf Buchstaben, die das Wort "Angst" ausmachen; es will ein Stück Eis vom Boden aufsammeln, kickt es aber immer wieder mit dem Fuß von sich weg, wenn die Hände nah dran sind: Sisyphos beim Eisstockschießen.

    Und auch noch Texte über den Selbstmord (mutmaßlich aus Dostojewskis Finsternissen) sind zwischengeschaltet; im Eis ist gar ein Revolver eingebacken, und ein Herr im Frack erschießt schlussendlich alle, Frau und Mann, die Kinder und den Hausfreund; und sich selber – Tabula rasa; und die Kunstblutlache füllt fast die ganze Silberfläche. Auch schon zu Beginn erschoss ein Albtraumgeist ganz in Schwarz und mit schwarzem Luftballon in der Hand den Eis-Sucher mit der Angst auf dem Rücken … vollgestopft ist Tschechows ebenso einfache wie ausweglose Geschichte um die unmögliche oder gar tödliche Liebe mit unendlich viel Assoziations-Gesumm; mit wild überzeichnender Spielastik treibt die Inszenierung darüber hinaus immer weiter weg vom Kern der Fabel. Irgendwann ist sie nur noch der Rand, die Kruste von etwas, das "das Theater" sein könnte.

    Und wie hoch die Wellen der Emotion auch schlagen mögen (immerhin geht es dank Dostojewski-Zugabe um Leben und Tod!), wie wild zeternd zuweilen auch agiert wird, so kalt bleibt doch diese Exekution des Materials. Distanziert bis zur völligen Zurückweisung – so anti-theatralisch kann Theater wirken, wie leidenschaftlich auch immer Menschen im Theater, Schauspielerinnen und Schauspieler, auch solch Distanz schaffenden Maßnahmen Leben geben können.

    Das ist besonders an diesen Abenden des Abschiednehmens in Leipzig: wie sich das scheidende Ensemble unterschiedslos in dieses Ende hinein wirft. Kaum eine dieser Festspiel-Premieren bleibt ohne Träne im Knopfloch, selbst eine (ganz anders als bei "Angst") eng am Material siedelnde Arbeit wie Alexander Eisenachs Beschwörung der selbstquälerischen Gott- und Sinnsucherei in Andrej Tarkowskis "Nostalghia". Vor 30 Jahren, 1983, suchte und fand der russische Filmemacher in Italien Bilder für die eigenen Ängste im Exil – ein ebenfalls russischer Schriftsteller, trotz liebevoller Übersetzerin unverstanden in italienischer Fremde, trifft auf einen Fundamentalisten des Gut-Seins, den alle vor Ort für wahnsinnig halten; in letzter Hingabe will der beweisen, dass die Welt nur zu retten ist und zum Guten hin zu wenden, wenn die Menschen selber das eigene Potenzial zur Güte entdecken. Letzter Schritt ist Selbst-Aufgabe, für den Sonderling die Selbstverbrennung – und der entwurzelte Dichter folgt diesen Gedanken.

    Beide Inszenierungen, "Angst" und "Nostalghia", markieren im Doppelpack sehr beispielhaft die Risiken und Nebenwirkungen, die fünf Jahre mit neuem Schauspiel in Leipzig eben immer auch mit sich brachten – aber auch die könnten bald schon fehlen.