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Aufarbeitung osmanischer Massaker
Die Türkei, die Armenier und ein Tabubruch

Zehn Jahre ist es her, dass der armenisch-stämmige Journalist Hrant Dink in der Türkei ermordet wurde. Den Täter feierten manche als Nationalheld, denn Dink hatte sich für eine Aufarbeitung der osmanischen Massaker an den Armeniern eingesetzt. Wie sich in einer Diskussion im Parlament zeigte, ist das bis heute ein Tabuthema in der Türkei.

Von Susanne Güsten | 19.01.2017
    Bei Demonstrationen in Istanbul zum 101. Jahrestag des Massakers an den Armeniern halten Menschen Plakate von armenischen Intellelktuellen, die 1915 deportiert wurden.
    Menschen in der Türkei erinnern an armenische Intellektuelle, die 1915 deportiert wurden. (AFP / Ozan Kose)
    Es ist Tag fünf der Marathondebatte um die Verfassungsänderungen, mit denen das türkische Parlament sich selbst entmachten und ein Präsidialsystem einführen soll. Da tritt der armenisch-stämmige Abgeordnete Garo Paylan von der Oppositionspartei HDP ans Rednerpult. Mit einem Rückgriff auf die Geschichte will Paylan die Volksvertreter davor warnen, das parlamentarische System leichtfertig abzuschaffen. Doch weit kommt der Abgeordnete mit seinen Ausführungen nicht:

    "Kollegen, in dem zehnjährigen Chaos zwischen 1913 und 1923 haben wir vier Völker verloren - die Armenier, die Griechen, die Assyrer und die Juden. Sie sind aus diesem Land vertrieben worden, mit Massakern und mit einem Völkermord. Liebe Kollegen..."

    Unmutsbekundungen branden beim Stichwort "Völkermord" in den Abgeordnetenreihen auf und empörte Zwischenrufe: "In diesem Land hat es nie einen Völkermord gegeben." – "Damals sind nur Aufständische hingerichtet worden."- "Hören Sie auf, die Geschichte dieser Nation zu beleidigen!" Schließlich schaltet sich der Sitzungspräsident ein:
    "Ich nenne es Völkermord"
    "Kollege Paylan, bitte berichtigen Sie ihre Worte: Es hat keinen Völkermord gegeben. Es mag damals auf beiden Seiten großes Leid gegeben haben, aber das dürfen Sie nicht als Völkermord bewerten."

    Paylan versucht zu beschwichtigen:
    "Wir Armenier haben früher 40 Prozent der Bevölkerung ausgemacht, heute sind es 0,1 Prozent - irgendetwas muss uns doch passiert sein! Ich nenne es Völkermord, Sie können es nennen, wie Sie wollen, aber Tatsache ist, dass wir heute nur noch ein Tausendstel der Bevölkerung stellen. Lassen Sie uns gemeinsam eine konsensfähige Bezeichnung für das finden, was damals geschehen ist. Liebe Kollegen, im Jahr neunzehnhundert..."

    Doch wieder wird Paylan niedergeschrien. Die Sitzung wird unterbrochen, die Fraktionen ziehen sich zur Beratung zurück. Im Plenum ergreift anschließend ein Fraktionssprecher nach dem anderen das Wort, um Paylans Äußerungen scharf zurückzuweisen – nicht nur die regierende AKP und die nationalistische MHP, sondern auch die kemalistische CHP, die sich als sozialdemokratisch versteht. Nur Paylans eigene Partei, die kurdische HDP, verteidigt sein Recht auf freie Meinungsäußerung. Dann wird abgestimmt: Mit überwältigender Mehrheit votiert die Volksvertretung dafür, Garo Paylan für drei Sitzungen aus dem Parlament auszuschließen – es ist das erste Mal, das eine solche Strafe verhängt wird. Paylans Ansprache, so beschließt es die Volksvertretung, wird aus dem Parlamentsprotokoll gelöscht.
    "In der Türkei ist der Faschismus nie besiegt worden"
    Die Parlamentsentscheidung markiert einen Rückschritt in der türkischen Vergangenheitsbewältigung, die nach der Ermordung von Hrant Dink einige Fortschritte gemacht hatte. In der Öffentlichkeit und in der Forschung wurden die Ereignisse von 1915 seither offener diskutiert – einige der besten und kritischsten aktuellen Forschungsarbeiten zu dem Thema stammen heute von jungen türkischen Wissenschaftlern, die sich auch nicht scheuen, vom Völkermord zu sprechen. Und erstmals seit einem halben Jahrhundert wurden im Juni 2015 drei armenische Abgeordnete in das türkische Parlament gewählt, darunter Garo Paylan. Doch als Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dieses Parlament nach wenigen Monaten auflöste, um neu wählen zu lassen, drehte sich der Wind in der Türkei wieder hin zum extremen Nationalismus. Das Armenier-Thema sei in der Türkei noch nicht einmal ansatzweise bewältigt, sagt Garo Paylan:

    "Deutschland ist ein anderes Land geworden, indem es sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Verbrechen auseinandergesetzt hat. Aber in der Türkei ist der Faschismus nie besiegt worden, weil die Türkei keinen Krieg verloren hat und sich nicht damit auseinandersetzen musste; hier lebt der Faschismus weiter."

    Paylan hat nun das Verfassungsgericht angerufen, um seinen Ausschluss aus dem Parlament anzufechten. Doch damit ist die Angelegenheit noch nicht ausgestanden. In den Tagen nach der Parlamentsdebatte prangert der Chefberater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den armenischen Abgeordneten öffentlich als Vaterlandsverräter an, nationalistische Politiker brandmarken ihn als niederträchtigen Verräter. Von einer "Lynch-Atmosphäre" spricht Garo Paylan, und auch andere fühlen sich an die Hetzkampagne gegen Hrant Dink vor zehn Jahren erinnert. "Hrant habt ihr damit umgebracht", schreibt der frühere Dink-Vertraute Aydin Engin in der Oppositionszeitung "Cumhuriyet": "Merkt ihr nicht, dass ihr mit Garo Paylan genau dasselbe macht?"