Donnerstag, 25. April 2024

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Aufbäumen einer Gesellschaft

Im Frühjahr 1968 wurde die Jugend Frankreichs scheinbar über Nacht vom revolutionären Fieber gepackt. Am 3. Mai des Jahres eskalierte der Protest, als die Polizei in Paris brutal gegen die Besetzer der Universität Sorbonne vorging.

Von Stefan Fuchs | 03.05.2008
    "Am Vormittag des 3. Mai 1968 treffen sich die Studenten aus Nanterre an der Sorbonne. Protest gegen die Schließung ihrer Hochschule ist ihr Anliegen. Da erfasst die Universitätsverwaltung Panik und ruft die Polizei. Das ist ein unglaublicher Schock für diese Jugendlichen. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, aber Polizei in der Sorbonne, das war damals undenkbar. Als dann die Sondereinsatztruppe CRS und die kasernierte Polizei mit großen Schlagstöcken und Gewehren in den Hof der Sorbonne einmarschieren, haben wir ein einziges Bild vor Augen: die Nazis! Es herrschte Totenstille in diesem Hof der Sorbonne, man konnte spüren, wie wir alle innerlich erstarrten."

    Als Augenzeuge hat der Historiker Jacques Baynec die Ouvertüre des Pariser Mai im engen Innenhof der altehrwürdigen Sorbonne erlebt. Wie wenige Wochen zuvor bei der Schließung der Hochschule in Nanterre vor den Toren der Metropole gewinnt in der aufgeheizten Atmosphäre des Jahres 1968 ein verhältnismäßig unwichtiges Ereignis ungeheure symbolische Bedeutung: In der schwarzen Silhouette der Polizisten unter dem Stahlhelm erkennen die Studenten die Fratze einer zutiefst ungerechten, einer latent immer noch faschistischen Gesellschaft, die dem Kolonialkrieg der Amerikaner in Vietnam gleichgültig zusieht, die ihre Herrschaft mit einem willkürlichen System sozialer Selektion zementiert, hinter deren altehrwürdigem Glanz nur zynischer Materialismus steckt. Schon am Nachmittag des 3. Mai beginnt sich die Spirale der Gewalt zu drehen. Im Quartier Latin spielen sich bürgerkriegsähnliche Szenen ab, es gibt erste Versuche, Barrikaden zu errichten.

    "Als die Studenten auf dem Boulevard Saint Michel sehen, dass das Unvorstellbare geschieht, dass die Polizei die Sorbonne besetzt, dass sie die Anführer dort festnimmt und auf alle einschlägt, die sich zur Wehr setzen, kommt es zur Explosion. Jemand greift sich einen Stein, wirft ihn, andere folgen, bald fliegen Pflastersteine und Eisengitter.

    Zu unserer großen Überraschung war am nächsten Tag nicht etwa Schluss. Jeden Tag versammelte sich eine größere Menge zur Demonstration. Es war der Auftakt der Woche der Barrikaden. De Gaulle war in Rumänien, Premierminister Pompidou auf Dienstreise in Afghanistan. Die Leitung der Polizei, das Innenministerium waren völlig auf sich gestellt. Sie wussten nicht, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte, die De Gaulle später als 'unfassbar' bezeichnet hat."

    Nicht nur für die Politiker ist das revolutionäre Fieber unfassbar, von dem das gaullistische Frankreich in diesen Tagen ergriffen wird. Zwei Monate lang scheint die Mutter aller Revolutionen zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt. Der Geist der 1871 blutig niedergeschlagenen Kommune weht wieder durch die französische Metropole. Im besetzten Odeon-Theater debattiert die Jugend aus allen sozialen Schichten leidenschaftlich Nacht für Nacht bis in die frühen Morgenstunden über die Gesellschaft der Zukunft.

    "Ganz anders als im Nachbarland Deutschland solidarisieren sich die Gewerkschaften mit der rebellierenden Jugend in Schulen und Universitäten. Ein Generalstreik wird ausgerufen. Zehn Millionen streikende Arbeiter legen das Land lahm. Die Fünfte Republik scheint in ihren letzten Zügen zu liegen."

    Und dann plötzlich, niemand versteht so recht wie, schüttelt das Land das revolutionäre Fieber ab. Nach einigen Zugeständnissen schließen die Gewerkschaften einen Kompromiss mit der Regierung Pompidou, als übermächtige Vaterfigur kehrt De Gaulle zurück in die politische Arena, bei den Parlamentswahlen Ende Juni erringt seine Partei einen triumphierenden Wahlsieg. Der Pariser Mai wird zum Mythos, - für beide politischen Lager, wie der damalige Studentenführer und heutige Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit selbstironisch feststellt:

    "1968 ist zum Mythos für die Linke geworden: der größte Generalstreik, ein außerordentliches Aufbäumen, eine Gesellschaft, die sich verändert, die Freiheit des Denkens, die schönsten und verrücktesten Dinge, von Millionen Menschen gesagt, getan, erlebt. Aber auch für die Rechte wurde 68 zum Mythos. Da ist dieses Blau, die Parteifarbe der Gaullisten, in dem das Land zu versinken schien, als ein triumphierender De Gaulle die Parlamentswahlen gewinnt."