Donnerstag, 18. April 2024

Prolog - 3. Oktober 2014
Aufbruch: Zu Fuß von West nach Ost

Wie leben die Deutschen, 25 Jahre nach dem Mauerfall? Der Deutschlandfunk-Redakteur Jörg-Christian Schillmöller und der Fotograf Dirk Gebhardt wandern durch die Republik. Vom westlichsten bis zum östlichsten Punkt, in 12 Etappen, verteilt auf ein Jahr. Heute brechen die beiden auf, in der Gemeinde Selfkant. Die sieht von oben aus wie ein Katzenkopf plus Pfote – und gehört zu einem Zusammenschluss mit einem lustigen Namen: dem „Zipfelbund“.

Von Jörg-Christian Schillmöller und Dirk Gebhardt | 03.10.2014
    Redakteur Jörg-Christian Schillmöller (li) und Fotograf Dirk Gebhardt (re) in Wandermontur auf einer Wiese
    Redakteur Jörg-Christian Schillmöller (li) und Fotograf Dirk Gebhardt (re) (Foto: Tamara Soliz)
    Unsere Wanderung wird real. Heute fahren wir nach Isenbruch. Das Örtchen gehört zur Gemeinde Selfkant und ist der westlichste Punkt Deutschlands. Unsere Rucksäcke sind gepackt und wiegen beide um die elf Kilo - mit Schlafsack, Laptop, Kamera und Aufnahmegerät. Elf Kilo sind ganz gut zu ertragen. Die Wanderschuhe sind nicht besonders schön, dafür gemütlich und wasserdicht. Wir haben sogar eine Stirnlampe gekauft, mit der man jedoch gelinde gesagt fragwürdig aussieht.
    Vor uns liegen mehr als 700 Kilometer. Die Gegend, in der wir unsere Wanderung durch Deutschland beginnen, heißt "Selfkant". Man sagt "der Selfkant", mit stimmhaftem s wie in Salz und Suppe. Der Selfkant sieht aus der Luft wie der Kopf einer Katze aus. Mit Ohren und einer Pfote, unverkennbar.
    Einer, der uns all das wunderbar erklären könnte, ist André Mobers aus dem Rathaus der Gemeinde, zuständig für Ordnungswidrigkeiten, Standesamt und Partnerschaften mit anderen Städten. Aber André Mobers ist gar nicht da.
    Er ist heute in Hannover, gemeinsam mit vielen anderen Bürgern aus der westlichsten Gemeinde Deutschlands. Denn in Hannover ist die zentrale Feier zum Tag der Deutschen Einheit. Und es gibt einen Grund, warum so viele Leute aus dem Selfkant dort sind. Der Grund heißt "Zipfelbund".
    Vor ein paar Tagen haben wir mit Herrn Mobers telefoniert. Er hat sich eine Stunde Zeit genommen und uns geduldig und sehr freundlich erklärt, was man über seine Heimat alles wissen muss. Der "Zipfelbund" ist der Zusammenschluss der vier "extremsten" Orte Deutschlands. Auf der Website stellen sie sich als "die schönsten Ecken Deutschlands" vor. Das sind: der Selfkant mit dem Ortsteil Isenbruch im Westen, List auf Sylt im Norden, Görlitz ganz im Osten (genau genommen heißt der Ort Neißeaue) - und Oberstdorf im Süden.
    Das Problem: Sylt, Oberstdorf und Görlitz kennt jeder. Den Selfkant und Isenbruch aber kennt niemand. André Mobers hört jedes Jahr am Tag der deutschen Einheit "ungefähr 500 Mal die gleiche Frage: Wo liegt ihr Ort eigentlich?" Die Antwort müssen alle auswendig lernen, die den Ort auf der Feier vertreten. Sie lautet in etwa: Die westlichste Gemeinde Deutschlands liegt auf der Achse Maastricht - Mönchengladbach, nicht weit von Heinsberg, nicht weit von Aachen.
    Zu Fuß von West nach Ost: Vom Selfkant an der niederländischen Grenze führt unsere Wanderung uns quer durch die Republik, auf einer relativ horizontalen Linie. Wir kommen vorbei am Tagebau in Erkelenz, überqueren den Rhein mit der Fähre, laufen durch's Bergische Land bis ins Sauerland, über Kassel hinein nach Thüringen zum Kyffhäuser, dann ein Stückchen durch Sachsen-Anhalt und später südlich von Leipzig durch Sachsen bis in die Oberlausitz und schließlich nach Neißeaue an die polnische Grenze.
    Neugierig sind wir, aber uns fehlen Erfahrungswerte: Weder Dirk Gebhardt noch ich sind bislang als passionierte Wanderer in Erscheinung getreten. Wir haben zusammen Reportagen aus dem Iran (2012) und Brasilien (2013) mitgebracht und schreiben seit vier Jahren für das Kölner Portal "Meine Südstadt" über unser Viertel. Aber jetzt ist Deutschland dran. Wir freuen uns auf zwölf Monate Abenteuer, jeden Monat ein paar Tage, verteilt auf zwölf Etappen, in denen wir immer um die 60 Kilometer schaffen wollen. Mal mehr, mal weniger.
    Wir wollen vieles dem Zufall überlassen, denn das Wichtigste für uns sind die spontanen Begegnungen. Darum werden auch immer wieder Menschen bei uns mitlaufen und uns "ihr" Deutschland 2014/15 erzählen, ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall, ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung. Wie leben die Deutschen? Was bewegt sie? Welche Rolle spielen Migration, Nachhaltigkeit, Demographie, soziale Gerechtigkeit?
    Vielleicht werden wir heute Abend schon mehr wissen: Wenn alles klappt, begleitet uns Gerd Passen vom Heimatverein Selfkant durch den Tag. Er kennt die Gegend seit vielen Jahren. Und abends wollen wir auf dem Mehrgenerationenspielplatz "Spielträume" in Gangelt, Ortsteil Birgden, ein Lagerfeuer machen und schauen, was uns die Erfinder dieses Ortes berichten.
    Hier auf dieser Seite werden unsere Geschichten veröffentlicht, zwölf an der Zahl, verteilt über das Jahr, ergänzt durch akustische Zitate von all jenen, die wir unterwegs treffen und die etwas zu sagen haben. Im "Sonntagsspaziergang" werden wir von jeder Etappe live berichten, und bei "Deutschland heute" wird im kommenden Jahr eine Reihe von Zitaten laufen, die wir von unterwegs mitbringen. Von Menschen, die uns etwas zu sagen haben.
    Zwölf Mal Deutschland: Heute geht es los.