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Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Eine Chronik

Sein Leben war permanente Rastlosigkeit - eine Rastlosigkeit, die ihn von einem Ort zum nächsten, von einem Gedanken zum anderen trieb. In der Unrast, so formuliert der Autor der Chronik Willem van Reijen, hat Walter Benjamin seine Identität gefunden:

Nicole Ruchlak | 02.08.2001
    Ich glaube, dass für alle theoretischen Optionen und ästhetischen Optionen, die Benjamin hatte, ganz signifikant ist, dass er sich immer zwischen zwei Extremen bewegt hat. D.h., dass er sich nie hat auf eine Position festlegen wollen. Weder auf eine moderne Position und nicht auf eine antimoderne Position, obwohl man sein Denken insgesamt als antimodern bezeichnen könnte. Er war kein Chamäleon. Er hat nicht beliebig die Farbe gewechselt. Er hat aber immer im luftleeren Raum zwischen diesen extremen Polen die Wahrheit gesucht, weil er gemeint hat, dass die Extreme die Wahrheit verfehlen und man nur im ständigen Wechsel der Perspektive etwas aufdecken kann von dem, was die Welt heute bestimmt. Was sich in seinem Leben darin widerspiegelt, dass er sich nie an einem Ort richtig zu Hause gefühlt hat, sondern sich immer, wenn er irgendwo war, sich nach dem Ort gesehnt hat, den er gerade verlassen hatte oder Sehnsucht hat nach einem Ort, wo er vorhatte hinzufahren./ So schreibt Benjamin in einem Brief nach seiner Rückkehr von einer Italienreise:

    Wie wir nahe bei Freiburg sind überkommt mich schon ein bißchen Ekel und Sehnsucht nach Italien.

    Dass der Denker sich immer im Aufbruch befand, wird in der kürzlich erschienenen Chronik deutlich - in kaum einer Wohnung hielt er sich länger auf als ein halbes Jahr: So ergreift Benjamin sofort nach seinem Abitur 1912 die erste Möglichkeit, um Berlin zu verlassen. Er zieht zum Studium nach Freiburg im Breisgau. Aber kaum angekommen begibt er sich auf eine dreiwöchige Italienreise und drei Monate später zieht er zurück nach Berlin, das er nach sechs Monaten wieder verlässt um doch wieder in Freiburg zu studieren, ein Plan, den er sechs Monate später wieder zugunsten Berlin ändert. Die Gründe des ständigen Umzuges werden nicht näher erläutert - abgesehen von dem allgemeinen Verweis auf wirtschaftliche Zwangslagen, die allerdings erst später in seinem Leben virulent zu werden scheinen. Ebenso lässt die Chronik andere Ereignisse in Walter Benjamins Leben ungeklärt, deren Erklärungen man sich beizeiten wünscht: Warum etwa gab es 1923 eine schwere Krise zwischen Benjamin und seinem engen Freund Gershom Scholem? Und welche Konsequenzen hatte sie? Dieser bisweilen etwas sparsame Umgang mit biographischen Erläuterungen ist allerdings dem Chronikcharakter geschuldet - da liegt das Augenmerk nun einmal auf einer möglichst genauen chronologischen Abfolge der geschichtlichen Ereignisse. Und dieser Aufgabe wird das Buch mehr als gerecht: So gibt es nicht nur einen Überblick über Treffen von Freunden und berühmten Persönlichkeiten, es nennt auch die verschiedenen Aufenthaltsorte und erwähnt die dabei geplanten Projekte und verfassten Texte. Darüber hinaus dokumentieren um die 140 fotografische Abbildungen von Plätzen, an denen sich Walter Benjamin aufgehalten hat, seinen Lebensraum und illustrieren die dort entwickelten Gedanken.

    Wie etwa eine Aufnahme der Bibliothèque Nationale in Paris, möglicherweise der einzige Ort, an dem sich der ständig Fremde heimisch gefühlt hat. Willem van Reijen:

    Die Bibliothèque nationale, ein Ort von dem er gesagt hat, dass es wie in einem Wald sei, dort zu sein.

    Das gemalte Laub in den Deckenfeldern der Bibliothèque Nationale. Wenn unten geblättert wird, rauscht es droben:

    Also da hat er den Tempel der Kultur verwandelt in einen Wald, in Natur. Natur und Kultur waren auch für Benjamin solche Extreme und er hat immer versucht in dem einen Extrem das andere zu suchen. Diese Pendelbewegung bedeutete nicht nur ein Ausschwingen des einen unter völligem Vergessen des Andere, sondern er hat gerade in diesem Anderen das eine gefunden und in dem einen das andere gefunden.

    Schon als Kind findet Walter Bendix Schönflies Benjamin in der kleinen Welt des elterlichen Hauses keine Heimat, keinen Ort der Geborgenheit. Vielmehr fühlt er sich in einem bedrohlichen Nirgendwo, wie in der Chronik angeführte Zitate aus Benjamins "Berliner Kindheit um 1900" veranschaulichen:

    Wer mich entdeckte, konnte mich als Götzen unterm Tisch erstarren machen, für immer als Gespenst in die Gardine mich verweben, auf Lebenszeit mich in die schwere Tür bannen.

    Der Autor Willem van Reijen beschreibt Walter Benjamins Wahrnehmungen:

    In diesen Jugenderinnerungen findet man das Bild eines Kindes, das die elterliche Wohnung als unheimlich empfindet, die Möbel sind bedrohlich, sogar die Wandtapete ist bedrohlich, er fürchtet in diese Tapete eingewebt zu werden von einem bösen Geist, das Telefon ist eine Bedrohung - also alles in dieser Wohnung ist unheimlich. Oder aber es zwingt ihn zu einer maßlosen Bewunderung: das reiche Tafelsilber, das aufgelegt wird, wenn Besuch erwartet wird.

    Dieser extremen Wahrnehmung entspricht ein Denken, das Willem van Reijen als "Logik der Extreme" bezeichnet. Dies verdeutlichen Kurzdarstellungen von Walter Benjamins wichtigsten Schriften, die dem Leser einen ebenso spannenden wie auch verständlichen Einblick in seine philosophischen Gedanken erlauben. Damit bietet die Chronik eine Gesamtschau von Walter Benjamins unruhigem Leben und Denken, einem Leben und Denken, das stets auf der Suche war.