Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Aufrechter Gang des Menschen
Forscherin: Menschliche Evolution fand nicht nur in Afrika statt

Ob es sich um Menschenaffen oder um frühe Menschen handelt, sei noch offen, sagte Paläontologin Madelaine Böhme im Dlf. Das Team um die Forscherin hat Knochen früher Zweibeiner im Allgäu, Bayern, entdeckt. Die Annahme, dass der aufrechte Gang zuerst in Afrika aufgetreten ist, sei nicht länger haltbar.

Madeleine Böhme im Gespräch mit Lennart Pyritz | 07.11.2019
Madelaine Böhme, Professorin für Paläoklimatologie an der Universität Tübingen, steht neben Knochen der bisher unbekannten Primatenart Danuvius guggenmosi.
Sensationsfund in Bayern: Madelaine Böhme hat mit ihrem Team als erste die neue Art beschrieben (dpa)
Lennart Pyritz: Wir Menschen gehen meist auf zwei Beinen – zumindest ab einem bestimmten Alter. Wie sich diese Eigenschaft in den vergangenen Jahrmillionen entwickelt und was für ein Vorfahre von Mensch und heutigen Menschenaffen sich erstmals so fortbewegt hat, ist unklar. Im Fachmagazin "Nature" beschreibt ein Forschungsteam jetzt knapp zwölf Millionen Jahre alte, fossile Überreste einer bislang unbekannten Menschenaffen-Spezies, die in Bayern ausgegraben wurden. Und dieser Fund wirft offenbar ein ganz neues Licht auf unsere eigene Entwicklungsgeschichte. Was dahinter steckt, darüber habe ich mit Madelaine Böhme gesprochen. Sie ist Geologin und Paläontologin an der Universität Tübingen und eine der Studienautorinnen.
Frau Böhme, wann und wo ist der aufrechte Gang der gängigen Theorie nach entstanden?
Madelaine Böhme: Die Standardtheorie ist die, dass der aufrechte Gang vor fünf bis sechs Millionen Jahren in Ostafrika entstanden ist. Allerdings haben Untersuchungen von mir und von Kollegen vor etwa zwei Jahren gezeigt, dass es da vor etwa sieben Millionen Jahre in Europa auch schon Formen gab, die wahrscheinlich auch zweibeinig waren. 2017 sind Fußspuren von der Insel Kreta publiziert worden, die etwa sechs Millionen alt sind. Das heißt also, schon damals zeigte sich, dass auch Europa ältere bipede Hinweise hat.
Pyritz: Sie haben jetzt ein Fossil aus einer Tongrube im Unterallgäu in Bayern untersucht und im Fachblatt "Nature" beschrieben, das diese ursprüngliche Sichtweise, die afrikanische Sichtweise grundlegend infrage stellt. Ihrer Untersuchung nach, wann und wo haben unsere Primatenvorfahren begonnen, auf zwei Beinen zu laufen?
Das Out-of-Africa-Modell sei "nicht länger haltbar"
Böhme: Unsere Funde aus dem Allgäu sind mit 11,6 Millionen Jahren im Prinzip fast doppelt so alt wie die ältesten Hinweise auf die Zweibeinigkeit, die akzeptiert waren. Und das zeigt, dass die menschliche Evolutionsgeschichte viel älter ist, als wir das bisher glaubten und dass sie auch in einer anderen geografischen Region sich in der Frühphase abspielte.
Pyritz: Das würde heißen, dass sozusagen der aufrechte Gang vor eher zwölf statt sechs Millionen Jahren aufgetreten ist – und auch in Europa, im heutigen Bayern, und nicht zuerst in Afrika.
Böhme: Genau, ja. Es hat mit Bayern jetzt nicht so viel zu tun, so ein evolutiver Prozess ist nicht auf eine kleine Region zu beschränken. Sie müssen sich vorstellen, diese Organismen, diese Arten, die diesen Evolutionsschritt vollzogen haben, haben eine weite Verbreitung gehabt. Dass wir jetzt aus Bayern einen Fund haben, ist gelinde gesagt dem Zufall geschuldet. Das hätte genauso gut auch in Spanien oder in Griechenland sein können.
Pyritz: Was bedeutet das denn, das haben Sie eben schon angedeutet, dieser neue Fund für die Anthropologie, den Blick auf unsere eigene Entwicklungsgeschichte. Was müsste da gegebenenfalls in den Lehrbüchern umgeschrieben werden?
Böhme: Nun, was bisher die Lehrmeinung war – und zwar seit einigen Jahrzehnten –, ist, dass die gesamte menschliche Evolution ausschließlich nur eine afrikanische Angelegenheit ist. Das heißt, von den frühen Menschenaffen bis hin zum modernen Menschen, dass die gesamte Evolution in Afrika stattfand. Das ist, denke ich, mit diesen Daten, aber nicht nur mit diesen Daten, ich erwähnte ja, es gab andere Hinweise schon, nicht länger haltbar. Zumindest diese frühe Phase, und ich rede hier von der ersten Hälfte, wenn wir so wollen, der menschlichen Evolution, ist ein Prozess, der sich höchstwahrscheinlich in eurasiatischen oder Mittelmeerökosystemen und -regionen abgespielt hat – und nicht in Ostafrika.
Pyritz: Dann lassen Sie uns einmal genauer anschauen, worauf Ihre Studie beruht. Was für versteinerte Knochen haben Sie da gefunden und wie lässt sich daraus die Körperhaltung dieser frühen Menschenaffenart ablesen?
Knochen der bisher unbekannten Primatenart Danuvius guggenmosi liegt in einem Kasten. 
Die Knochen wurden im Unterallgäu in Bayern gefunden (dpa)
Böhme: Wir haben insgesamt 15.000 Fossilien gefunden, also Wirbeltierfossilien, darunter 37 Menschenaffenreste. Diese 37 Menschenaffenreste beziehen sich auf vier Individuen. Wir haben ein männliches Individuum relativ vollständig, also nicht wirklich komplett, aber mit sehr vielen, wichtigen anatomischen Regionen, wir haben ein Jungtier und zwei Weibchen. Das männliche Individuum zeigt uns nun anatomische Details aus nahezu allen Körperregionen. Wir können Aussagen machen über wichtige, funktionell wichtige Gelenke des Körpers wie zum Beispiel das Handgelenk, das Ellbogengelenk, das Hüftgelenk, Kniegelenk und die Fußgelenke. Das ist sehr wichtig, wenn Sie die Zweibeinigkeit oder eben Vierbeinigkeit belegen wollen, weil in diesen Bereichen sind die wesentlichen Kraftmomente in einem Körper eines Lebewesens.
Und wir haben auch Wirbel gefunden, sodass wir Aussagen zur Wirbelsäule treffen können. So ist beispielsweise die Wirbelsäule von Danuvius guggenmosi, das ist der wissenschaftliche Name der neuen Art, S-förmig gekrümmt. Diese S-förmige Krümmung ist ganz typisch für aufgerichtete, zweibeinige Menschen. Wir können gleichzeitig auch etwas über die Mobilität der Wirbelsäule sagen, weil gerade bei uns Menschen ist die Lendenwirbelsäule verlängert und recht mobil. Das ist ganz wichtig für uns, um unseren schweren Körper über unseren Hüften zu balancieren, wohingegen Menschenaffen, die Bäume erklettern, eine kurze, steife Hüftregion brauchen, ansonsten könnten sie nämlich gar nicht so effektiv in den Bäumen klettern. Und in diesen Bezügen ist Danuvius ganz klar menschlich.
Gab es einen frühen Vormenschen vor fast zwölf Millionen Jahren?
Pyritz: Das ist jetzt ja eine neu beschriebene Art. Wie reiht sich denn Danuvius in den Primatenstammbaum ein, wer sind die näheren Verwandten?
Böhme: Das ist natürlich eine Frage, die sehr interessant ist, aber die gar nicht so einfach zu beantworten ist. Wir sind in unserer Publikation jetzt gar nicht mal so sehr dieser Frage nachgegangen, weil es wirklich sehr komplex ist. Der aufrechte Gang galt bisher als das fast einzige charakterisierende Merkmal der menschlichen Evolutionslinie. Wenn wir nun sagen, wir haben einen Menschenaffen gefunden, der aufrecht gehen konnte, würde das ja bedeuten, dass dieses Merkmal, der aufrechte Gang, offensichtlich schon viel früher da war. Und das ist eine der möglichen Implikationen aus unserer Studie, nämlich, dass der aufrechte Gang, ich sage mal, primitiv ist. Das ist aber ein Terminus, den wir gern benutzen, das heißt, er ist ursprünglich. Das ist eine mögliche Sichtweise.
Die andere mögliche Sichtweise ist, Danuvius ist gar kein Menschenaffe in dem Sinne, also Menschenaffen sind auch wir, im Sinne von Danuvius ist schon ein Mensch. Das heißt also, der aufrechte Gang bleibt weiterhin ein charakterisierendes Merkmal, aber Danuvius wäre bereits ein früher Mensch. Beide Möglichkeiten halte ich für realistisch. Das zu belegen oder die eine oder die andere zu favorisieren, ist allerdings nicht ganz einfach und ist natürlich immer wieder auch von dem Paradigma, von der Theorie, die man im Kopf hat, gesteuert. Viele Kollegen könnten sich das wahrscheinlich überhaupt nicht vorstellen, dass es einen frühen Vormenschen vor fast zwölf Millionen Jahren gibt, aber das hat nichts mit den Daten zu tun, sondern mit der Theorie, die wiederum die Interpretation der Daten dann steuert.
"Viel Zustimmung bei Fachkollegen"
Pyritz: Da würde ich jetzt noch mal einhaken. Sie sprechen selbst davon, dass die Erkenntnisse dieser Studie die Grundfeste der Paläoanthropologie erschüttern, das haben Sie auch gerade dargelegt, was das bedeuten würde. Und Sie haben auch gerade schon die Fachkolleginnen und Fachkollegen erwähnt, haben Sie schon Reaktionen auf Ihre Studie bekommen, gibt es da auch skeptische Stimmen, die erst mal weitere Untersuchungen anmahnen, bevor man eben so lange bestehende Theorien verwirft?
Böhme: Ich verstehe natürlich, dass Journalisten erst mal nach den skeptischen Stimmen fragen. Ich möchte Ihnen aber erst mal erzählen, wie viel Applaus beziehungsweise wie viel Zustimmung unsere Ergebnisse bei den Fachkollegen hatten. Normalerweise sind solche Publikationen, vor allen Dingen, wenn es sich um solche Themen handelt, sehr, sehr strittig, teilweise gibt es langwierige, über ein Jahr währende Prozesse der Begutachtung. In unserem Fall hat das Ganze sieben Wochen gedauert, was wirklich bei "Nature" eine sehr, sehr sportlich schnelle Angelegenheit ist. Das heißt, es gab zu meinem Erstaunen, muss ich auch sagen, Zustimmung. Und ich habe Kollegen erlebt, die mir jetzt gerade in den letzten Stunden und den letzten Tagen gratuliert haben und die gesagt haben, das erklärt so manches, was wir uns nicht vorstellen konnten und jetzt kann die Wissenschaft natürlich völlig neue Fragen stellen wie zum Beispiel: Wenn die Savanne nicht der treibende Motor für die Evolution des aufrechten Ganges, was war es denn dann? Warum in Europa, warum zu dieser Zeit? All diese Fragen können jetzt neu gestellt werden.
Ich erwarte nicht, dass jemand, der das Out-of-Africa-Modell mit der Muttermilch aufgesogen hat, ich erwarte nicht, dass die jetzt sofort sagen, jawohl, das ist das, was ich seit meiner frühen Kindheit wissen wollte. Aber viele Kollegen, auch jüngere Kollegen vor allen Dingen, die sehen jetzt, dass also die frühen Anfänge der menschlichen Evolution noch viele Lücken in unserer Erkenntnis haben – und wir sind dabei, sie zu schließen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.