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Aufrührer und linker Bänkelsänger

Als Dichter, Zeitkritiker und Chansonschreiber war der Berliner Walter Mehring in den 20er-Jahren eine Berühmtheit. Seine beißend-satirischen Texte richteten sich gegen den Konformismus des öffentlichen Geredes.

Von Christian Linder | 03.10.2011
    "Ich war überhaupt immer in der Opposition."

    In dieser Selbstäußerung steckte der ganze Walter Mehring.

    "Hier steht ein Mann und singt ein Lied / am Rand der Zeit."

    Er war der "Bänkelsänger" von Berlin in den 1920er-Jahren. Trude Hesterberg oder Blandine Ebinger sangen seine Lieder. Ein Kritiker wie Willy Haas war begeistert:

    "Seltsam, wie das Aggressive, Sarkastische, Chansonhaft-Journalistische, Vehemente so oft vollkommen mit den tieferen innigeren Tönen verschmolzen ist und eine Einheit mit ihrer inneren Spannung bildet."

    Den Stoff zu seinen "Liedern des Lebens" fand der am 29. April 1896 als Sohn eines Journalisten und einer Opernsängerin in Berlin geborene Walter Mehring an den Rändern der Straßen der pulsierenden Großstadt Berlin. Durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs aufmerksam geworden für die in Konformismus erstickten Neurosen der offiziellen Gesellschaft, betrachtete er von diesem Rand aus das Spektakel. "Berlin, simultan" nannte er ein in den 1920er-Jahren geschriebenes Gedicht, kurz vor seinem Tod am 3. Oktober 1981 im Alter von 85 Jahren von ihm selbst noch einmal mit brüchiger Stimme vorgetragen:

    ""Im Autodreß ein self-made gent! / Passage frei! Der Präsident! / Die Heilsarmee/ Stürmt das Café! / Der Jeistprolet verreckt im Dreck / Ein girl winkt mit dem Schottenband / Ein Kerl feilscht am Kokottenstand / Her mit dem Scheck.""

    Nach seinen ersten Auftritten in der expressionistischen Zeitschrift "Der Sturm" entdeckte Walter Mehring den Dadaismus, ohne sich in dessen bloßer Lautmalerei zu verlieren. Seine Texte waren zwar auf dadaistische Weise spielerisch, aber sie orientierten sich immer auch an der konkreten Realität. Er montierte Zeitungsschlagzeilen in sie hinein oder parodierte kirchlich-liturgische Gesänge, immer mit dem Zweck, das öffentliche Gerede zu verhöhnen. Seine 1924 erschienenen "Europäischen Nächte" spielten

    "vor den Cafés, … unter rotweißgestreiften Markisen sitzen Matrosen, Nigger, Freudenmädchen, Gesindel aller Nationen schokoladenschwarz bis kupferfarben …"

    Neben Chansons und Gedichten schrieb Mehring Romane, Reiseerzählungen, auch Theaterstücke wie "Der Kaufmann von Berlin", dessen Inszenierung durch Erwin Piscator 1929 einen Skandal auslöste. Es war Mehrings beißend-satirische Kritik an der laissez-faire-Gesellschaft und seine Ahnung der kommenden Katastrophe, die seine Texte so aufrührerisch und anstößig machten:

    "Das Volk steht auf! Die Fahnen raus! / bis früh um fünfe, kleine Maus! / Im UFA-Film: / 'Hoch, Kaisern Wil’m!' / Die Reaktion flaggt schon am DOM / Mit Hakenkreuz und Blaukreuzgas."

    Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 fand sich Walter Mehring "staatenlos im Nirgendwo", wie er in einem seiner Gedichte schrieb. Wien und Paris waren Exilstationen, 1940 flüchtete er nach Amerika und nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Bei seiner Rückkehr nach Europa im Jahr 1953 dann die schreckliche Erkenntnis, dass man ihn – im Gegensatz zu Kurt Tucholsky oder Erich Kästner – vergessen hatte. Seine einstige Popularität als Erfinder der "Kunstgattung eines Chansonstils", vermutete er selber, habe ihn "die Aufnahme in fast jede seriöse Literaturgeschichte gekostet". Ein Nachkriegsleben in Hotelzimmern in Berlin, München und Zürich.
    Zürich, Lagerstraße 119 lautete Walter Mehrings letzte Anschrift; es war die Anschrift eines Pflegeheims.

    "An meinem Leichnam soll die Welt gesunden! / Ich habe stets nur alles halb gemacht! / Ich habe auch das Pulver nicht erfunden! / Ich habe keinen Weltkrieg je entfacht! / Das Morden ist die Kunst der großen Geister, / Die sterben, hochgeehrt vom Vaterland! / Kopf ab vor Euch! / Ihr seid die wahren Meister! / Mein letztes Wort: Ich war nur Dilettant!"