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Aufruf zur Besinnung

Der Mensch hat sich zu einem entscheidenden Faktor auf der Erde entwickelt hat. Er kann inzwischen selbst geologische Prozesse beeinflussen. Der ungarische Autor László Földényi erzählt eine Kulturgeschichte starker menschlicher Augenblicke: Eine Physiognomie der Mystik.

Von Cornelia Jentzsch | 25.07.2013
    Wer Momente verzückter Absenzen oder weltfremdes Außenseitertum erwartet in László Földényis Buch "Starke Augenblicke. Eine Physiognomie der Mystik"- der sollte es zuschlagen und beiseitelegen. Wer jedoch Anregungen erhofft von einer wachen analytischen und intuitiven Betrachtung eines Kulturphänomens, dem sei das jüngste Werk des ungarischen Kunsttheoretikers, Literaturkritikers und Essayisten ans Herz gelegt. Denn dieses Buch ist ein Aufruf zur Besinnung aus gewichtigem Anlass.
    Anthropozän – das ist die aktuell ins Gespräch gebrachte neue Epoche, in der sich der Mensch zu einem entscheidenden Faktor auf der Erde entwickelt hat. Inzwischen kann er selbst geologische Prozesse nach seinem Gutdünken beeinflussen. Ob dieser neuen Position wird es allerhöchste Zeit für ihn, sich von einem Nutznießer in einen Verantwortungsträger zu wandeln. Földényi – durch Bücher wie "Heinrich von Kleist im Netz der Wörter" oder "Melancholie" als unkonventioneller Denker bekannt – legt für den notwendigen globalen Disput einen nachdenkenswerten Beitrag auf den Tisch. Er beleuchtet jene notwendige und verdrängte Seite des menschlichen Seins, welche durch die logoszentrierte Identitätssuche seit Aristoteles zunehmend in ein obskures Schattendasein gedrängt wurde.

    "Mit der Auflösung der transzendenten Bindungen wird das Heiligste im Menschen beeinträchtigt. Etwas, das sich nicht unterordnen, nicht einschränken und keinerlei moralischer Weltordnung ausliefern lässt. Etwas, woran es uns heute am stärksten mangelt."

    …meint Földényi in seiner Laudatio auf den Schriftsteller Imre Kertész. Spätestens seit Descartes, Hegel und Kant hat sich der Mensch zu einem vernunftorientierten Wesen entwickelt. Was ihn leider nicht unbedingt zu einem vernünftigen werden ließ: Weil dem Menschen mit diesen transzendenten Bindungen etwas Wesentliches verlorenging, nämlich die Rückkopplung seiner Existenz an weitaus größere Zusammenhänge, als der bloße Verstand sie je erfassen könnte. Das aber gerade solche erhellende Momente, in denen jeder einzelne etwas über universale Zusammenhänge seines Daseins und Handelns erfahren kann, im ökonomischen Furor des 21. Jahrhunderts umso notwendiger werden - davon berichtet Földényi. Er erzählt eine Kulturgeschichte "starker Augenblicke". Man kann sich diese Augenblicke als blitzartig auftretende Wachzustände vorstellen, die offenbaren und somit von Grund auf stärken können. Archimedes rief in einem solchen Zustand "Heureka!", die Mystiker des Mittelalters nannten ihn Erleuchtung, Da Vinci gab ihm den Titel "Mona Lisa". Um diese fruchtbaren Augenblicke erleben zu können, ist es notwendig sich einsam ins Chaos, ins Ungeordnete zu wagen. Sich einer Daseinsform zu überlassen, die ihrem "Wesen nach Unruhe ist", wie es der spanische Philosoph Jose Ortega Y Gasset beschrieb. Oder wie es bei Földényi heißt:

    "Wer in diesen Strudel gerät, geht für die Welt verloren, findet aber zu sich; er hat das Gefühl gekreuzigt worden zu sein, er fühlt aber auch, dass sein ich keineswegs etwas so Selbstverständliches ist, wie er bis dahin gedacht hatte. Er gewahrt in sich eine ‚subjektive Galaxie’..."

    László Földényi sucht nicht von ungefähr die starken Augenblicke besonders anhand des Gotteserlebens von Mystikern zu beschreiben. In den schriftlichen Zeugnissen einer Theresa von Ávila oder eines Johannes vom Kreuz wurden sie für die Nachwelt besonders anschaulich aufbewahrt. Doch diese Tradition ist uralt und weltumspannend, auch die mongolischen Schamanen, arabischen Sufis oder afrikanischen Vodoo-Priester wissen um ihre gewaltige Intensität.

    "Georges Bataille schreibt: ’Das Göttliche ist keine Grenze des Menschen, aber die Grenze des Menschen ist göttlich. Anders gesagt: Indem der Mensch seine eigenen Grenzen erfährt, wird er göttlich.’ Natürlich hat das Wort ‚Gott’ mit der Konfession nichts zu tun. Es bedeutet in (Batailles) Sprachgebrauch, was es in der bisherigen Kulturgeschichte immer bedeutet hat: dass sich die persönlichste Hoffnung mit einer überirdischen Hoffnung verflicht."

    Um dem Leser zu veranschaulichen, um welchen für das Selbstverständnis des Menschen notwendigen Grad von Intensität und Erfahrung es Földényi geht, verdeutlicht er unter anderem den Unterschied zwischen Gottesglaube und Gotteserleben.
    Im Glauben bleibt Gott dem Menschen entrückt und wird ihm bestenfalls durch die kirchliche Institution vermittelt. Gott ist ein fernes Über-Allem-Stehen.
    In seinem Erleben hingegen erfährt der Mensch, dass Gott in ihm selbst existiert. Gleichzeitig erschrickt er aber, denn das Göttliche ist nicht zu greifen, es ist das Fremde in ihm: die chaotische wie nicht zu begreifende Kraft einer gewaltigen immerwährenden Schöpfung. Das Göttliche wird für den Menschen zu einer unermesslich großen soghaften Leere, die es permanent zu füllen oder mit anderen Worten, zu leben gilt. Dieses erschütternde, schlagartig erhellende, erfahrbare Erlebnis bleibt, weil es so überwältigend ist, nur wenigen Augenblicken vorbehalten. Diese sind kurz und gleißend hell – nicht umsonst spricht man von Erleuchtung – und sie geschehen im Spalt oder "Bruch, der im Menschen dann entsteht, wenn ihm seine eigene Identität zweifelhaft wird", er also zu einem Suchenden statt Wissenden wird.
    Glaube und Erlebnis sind also zwei absolut gegensätzliche Arten, sich mit der Welt auseinanderzusetzen und sich in ihr anwesend zu fühlen.

    "Das Gotteserlebnis ist intensiv, brennend, augenblicklich, es berücksichtigt weder die Vergangenheit noch die Zukunft, denn es hat keinen Bezug zur Zeit. Die völlige Ziellosigkeit ist für solche Momente genauso bezeichnend wie die restlose Erfüllung. Deshalb lässt sich auch von heiligen Momenten sprechen. Es ist nicht verwunderlich, dass das Gotteserlebnis aus der Sicht des Gottesglaubens – suspekt ist. ...beim Gotteserlebnis wird einem das Heiligtum der Anarchie zuteil. Mit anderen Worten: Der Mensch wird offen, ohne überhaupt zu wissen, was ihn erwartet. Das ist der Zustand der Freiheit, eine Fundgrube der Möglichkeiten, ohne dass man im Voraus erahnen könnte, welche Form diese Freiheit annehmen wird. Der Gottesglaube dagegen hat ein Maß. Es ist kein Zufall, dass dieser im Gegensatz zum Gotteserlebnis sehr wohl geeignet ist, institutionalisiert zu werden."

    Schon der antike Mythos von Semele, Mutter des Dionysos, weiß von einem ähnlichen Erleben. Die schwärmerisch Rasende verbrennt im Liebesakt, als sich ihr Gott Zeus in seiner wahren Gestalt zu erkennen gibt. Nicht die unendliche Zeit lässt Semele unvergänglich werden, sondern eine "nicht weiter steigerbare Intensität", wie Földényi schreibt. Lange genug hat der Mensch die Welt vermessen, kartografiert und zu ergründen versucht. Doch konnte er auf diese Weise ihre Vielfalt und geheimnisvolle Schönheit begreifen? Inzwischen hat er sogar sich selbst kartografiert, seine Genome entschlüsselt und Gehirnströme vermessen, aber ist er dem Geheimnis seines Lebendigseins deshalb näher gekommen?

    "Landkarten, Kompasse und Kilometersteine verraten lediglich, wo er sich befindet; ob er auch wirklich gegenwärtig ist, teilen sie nicht mit. Denn die Gegenwart ist kein physisch bestimmbarer Zustand. Sie ist vielmehr eine Ausstrahlung...
    Verliert der Mensch sich in die Zeit, ist er selten in der Gegenwart; er setzt auf die Zukunft und zehrt von der Vergangenheit, dem augenblicklichen ‚Jetzt’ misst er keine Bedeutung bei... In den außerordentlichen Augenblicken hingegen zeigt sich: ... das ‚jetzt’ verselbständigt sich. Das sind die intensivsten Momente des Lebens..."

    László Földényis Suche nach einem organischen und alle Seiten des Seins ausfüllendem Selbsterleben des Menschen steht in einer langen Tradition. Ihm voran gingen andere Suchende wie der Arzt Thomas Browne, der in seinem Buch "Religio Medici" Vernunft und Leidenschaft miteinander verband, der Philosoph José Ortega Y Gasset, der die Theorie einer radikalen Wirklichkeit entwickelte oder die Philosophin María Zambrano, die das Konzept einer "Razón poética", einer poetischen Vernunft entwarf. All diese Denker und Denkerinnen begriffen die notwendigen Forderungen ihrer Zeit. Sie dachten gegen den Mainstream, da sie die hauptsächlichen Maximen und Verfassungen ihrer Gesellschaft als unzureichend ansahen.

    "Eine Gesellschaft und jedwede Form von Gemeinschaft muss auf dem Fundament der Maße stehen und könnte nicht funktionieren, wäre sie nicht auf Dauer eingerichtet. Das macht die Herrschaft des Augenblicks gefährlich: ... Im außerordentlichen Augenblick enthüllt sich, dass es keine Gemeinschaft gibt, die dem Menschen die Bürde der Vergänglichkeit abnehmen könnte... Das ist es, was alle Kulturen zu verbergen, alle Religionen zu verschleiern bestrebt sind..."