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Aufstände und Revolution im Ostblock

Im Vorfeld des 60. Jahrestages des Aufstands vom 17. Juni haben Historiker auf einer Tagung in Berlin über den antistalinistischen Aufstand diskutiert: Was einte und trennte die polnischen, die tschechoslowakischen, ungarischen und ostdeutschen Oppositionellen? Und wie waren sie vernetzt?

Von Isabel Fannrich | 02.05.2013
    Fred Ebeling:
    "Ich habe mich dann dort eingereiht und bin mitmarschiert, habe auch gefragt, was das soll: Ja, wir müssen jetzt zum Haus der Ministerien und wir müssen uns da beschweren, auch: Normerhöhung. Also höhere Produktionsleistungen werden von uns verlangt."


    Der Streik am 17. Juni 1953 überraschte den Werkstudenten Fred Ebeling. Weil die Stahlwerker seines Betriebes in Berlin auf die Straße gingen, demonstrierte er mit - und wurde verhaftet.

    Die Studentin Ewa Maria Slaska blieb den Streiks in Polen 1970 fern. Erst zehn Jahre später engagierte sie sich, angeregt durch einen West-Journalisten, bei den August-Streiks.

    Die Oppositionellen in den Ostblock-Ländern hätten erstaunlich viel voneinander gewusst, erzählt sie. Jedoch verfolgten sie nicht zwangsläufig dieselben Interessen.


    Ewa Maria Slaska:
    "Im Exil wurden die Bücher hergestellt und zu uns nach Polen geschmuggelt. Wir haben sie alle gelesen. Irgendwann wussten wir alles. Obwohl die Tatsache, dass die erste Revolte gegen die Sowjetunion in der DDR stattfand, wurde wirklich sehr ungerne gesagt, aber die Sache mit der DDR interessierte uns – entschuldige, dass ich es sage, aber interessierte die Polen überhaupt nicht. "

    Die Tagung in Berlin rückte die bekannteren "ostmitteleuropäischen Freiheitsbewegungen", wie es dort fast einvernehmlich hieß, in den Vordergrund: diejenigen von 1953 bis 1989 in Polen und Ungarn, der früheren Tschechoslowakei und DDR.

    Kein leichtes Unterfangen musste doch ein weiter Bogen gespannt werden von den ersten großen gescheiterten Aufständen in der DDR 1953, in Polen und Ungarn 1956 bis hin zu den erfolgreichen Revolutionen und Reformen Ende der 80er-Jahre. Dazwischen lag 1968 – als große Desillusionierung – der Prager Frühling, niedergeschlagen von den Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten. Und 1970 sowie '80/81 die Streiks in Polen, aus denen sich die Volksbewegung Solidarnosc bildete.

    Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede kennzeichnen die Volksaufstände, Streiks und Reformbestrebungen in den Zeiten des Kalten Krieges und der Entspannungspolitik der 70er- und 80er-Jahre? Inwiefern war die Opposition über die Ländergrenzen hinweg vernetzt? Eine Frage, die bislang wenig erforscht ist. Der Historiker Martin Kirsch will nicht von einer umfassenden ostmitteleuropäischen Freiheitsbewegung sprechen, sondern von eher einzelstaatlich geprägten Gruppierungen:

    Martin Kirsch:
    "Schauen wir schließlich auf die Verbindungen, auf die Netzwerke zwischen diesen Freiheitsbewegungen, so muss man sagen, dass die Kontakte zwischen ihnen vornehmlich persönliche waren, Personennetzwerke sich ausbildeten, die aber teilweise dadurch auch behindert wurden, dass die Sprachkenntnisse dieser vier Länder nicht so stark in allen Ländern verbreitet waren."


    Man dürfe die Unterschiede zwischen der frühen und der späten Opposition nicht aus dem Blick verlieren, mahnte der polnische Publizist und Germanist Adam Krzeminski. Und verweist zudem auf die Differenzen der 70er-und 80er-Jahre: zwischen der polnischen Solidarnosc und der tschechoslowakischen Charta 77 sowie den ungarischen und DDR-Oppositionellen.

    Adam Krzeminski:
    "Man darf sich auch nicht etwas in die Tasche lügen, dass wir hier alle die größten Freiheitskämpfer aller Zeiten gewesen sind in diesem Ostblock. Nein, es sind getrennte Erfahrungen. Und trotzdem: Es sind viele Strömungen, viele Bäche in diesem Strom und die voneinander getrennt waren."

    Insbesondere die frühe ostmitteleuropäische Opposition habe ähnliche Ziele vertreten, betonen die Experten: Sie tauschte mit dem Westen Bücher und Ideen und kämpfte innerhalb des Ostblocks gegen die sowjetische Vorherrschaft.

    Umstritten war allerdings, inwiefern auch materielle Unzufriedenheit den frühen und späten Protest motivierte. Oder wer wie lange dazu bereit war, das kommunistische System nicht abzuschaffen, sondern zu reformieren. Adam Krzeminski:

    "Die DDR-Opposition 88/89 schwärmte zum Teil noch, dass es diesen menschlichen Sozialismus geben kann. Während die unseren schon wussten, dass es eine Chimäre ist und dass man eine alternative Struktur aufbauen muss."


    Eine These, die der frühere Bürgerrechtler Gerd Poppe so nicht stehen lassen möchte:

    Gerd Poppe:
    "Es trifft zwar zu, dass die ostdeutsche Opposition mit einer deutlichen Verspätung diese Themen aufgegriffen hat. Aber ich denke mal, es gibt eine veränderte Situation etwa ab Ende der 70er-Jahre, wo wir auch sehr stark inzwischen die Kontakte aufgebaut haben mit ungarischen Dissidenten, mit tschechischen Dissidenten. Und diese Frage der Parallelgesellschaften, die dort schon sehr lange thematisiert wurde: Wir erwarten keine Reform von diesem so genannten sozialistischen System, müssen raus aus kleinen konspirativen Grüppchen und öffentlich handelnde Akteure werden. "

    Dass die Andersdenkenden sich mit Kontakten über die Ländergrenzen hinweg schwertaten, hing aber auch mit praktischen Gründen zusammen: mit Sprachbarrieren oder der Angst, von der Staatssicherheit überwacht zu werden und die Dissidenten in den Nachbarländern zu gefährden. Gerd Poppe:


    "Polnisch-deutsche Beziehungen gab es sehr wenig, zu wenig. Das hat aber natürlich zum einen mit den Reiseverboten, denen wir ausgesetzt waren. Ich durfte von 1980 bis 89 die DDR überhaupt nicht mehr verlassen. Natürlich wäre ich nach Polen gefahren zu Solidarnosc-Zeiten. Und umgekehrt gibt es aber ein Phänomen, dass die Polen eine relativ große Reisefreiheit hatten im Vergleich zu allen anderen. Und die haben dann auch nicht in Ostberlin Station gemacht, sondern die sind gleich weiter in den Westen gereist."

    Die größte Nähe habe zwischen den Dissidenten in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei bestanden, sagt Rainer Eckert, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig und begründet das mit ähnlichen Traditionen einer politischen Widerstandskultur.

    Bestes Beispiel ist die Aneignung der eigenen Geschichte. So sah sich die ungarische "Revolution", eine Mischung aus Revolution und Reform, Ende der 80er-Jahre in der Kontinuität des Volksaufstandes von 1956. Anders die DDR-Opposition kurz vor dem Mauerfall: Sie bezog sich nicht auf den 17. Juni 53, von dem man allerdings erst heute weiß, dass an rund 700 Orten die Menschen nicht nur ökonomische Verbesserungen forderten, sondern auch ein Ende der Diktatur und die Wiedervereinigung. Der Historiker Rainer Eckert:

    "Also mich schmerzt, und das geht auch anderen so, dass wir in Prag und auch in Warschau, als Beispiele, eine große Fremdheit spüren. Das gilt nicht für jede Einzelperson, aber im Großen und Ganzen. Es gibt noch die gemeinsame Erinnerung an das Leben in den stalinistischen Diktaturen, doch es mangelt an gegenseitigen konkreten Kenntnisse der jeweiligen Biografien und der Oppositionsgeschichte des jeweils anderen."