Donnerstag, 25. April 2024


Aufstand im Zentrum der Macht

O-Ton RIAS: Dieser Demonstrationszug, den wir von hier aus eben sehen konnten, ist nur eine Teilgruppe des großen Zuges? Ja, das Hauptgros ist wohl am Ehrendenkmal, in Höhe des Ehrendenkmals....

Von Peter Lange | 29.05.2003
    Der 17. Juni, ein Mittwoch. Der RIAS berichtet über die Demonstration, die früh morgens in Berlin begonnen hat. Zu Tausenden sind Arbeiter aus den großen Betrieben der Außenbezirke in die Innenstadt gekommen.

    Bernhard Schrader:Wir waren um Viertel vor sieben auf dem Straussberger Platz.

    Bernhard Schrader, damals Chemiestudent an der Humboldt-Universität.

    Bernhard Schrader:Es regnete ein wenig und man sah also viele Leute, die irgendwie in Bereitschaft standen, aber man sah auch eine Kette von Volkspolizisten quer über die Straße Richtung Alex und dahinter eine Reihe von Russen, die auch bewaffnet waren ...

    Klaus Günther:Wir erfuhren, daß der Straussberger Platz von der Volkspolizei abgeriegelt worden war und darum als Demonstrationsort nicht mehr in Frage kam. Die neue Parole lautete nun Haus der Ministerien.

    Der Maurer Klaus Günther.

    Klaus Günther: Auf dem Marsch entlang der Sektorengrenze wurden einige Sektorenschilder und Unterstellpilze der VoPo von den wütenden Arbeitern zerstört, und einige brannten auch.

    Dieter Theuer, damals Medizinstudent, begleitet mit dem Fahrrad einen anderen Demonstrationszug Richtung Alexanderplatz und weiter bis zum Potsdamer Platz

    Dieter Theuer:Die Leute riefen "Runter mit den Normen", "freie Wahlen" oder "Der Bart muß weg". Die Stimmung in dieser Demo war eher locker, fast fröhlich, richtig verbrüdernd, keineswegs verkrampft oder kämpferisch

    Klaus Kordon:Die Leute waren sehr angeregt gewesen. Uns erschien das eigentlich gar nicht gefährlich zu der Zeit, sondern fast so ein bißchen Karnevalsumzug, würde ich mal sagen.

    Klaus Kordon, damals 10 Jahre alt, ist mit einem Schulfreund am Alexanderplatz . Derweil erreicht eine andere Marschkolonne das Haus der Ministerien, das von mehreren Polizeiketten abgeriegelt ist.

    Harry Springstubbe:Wir sind dann auf die zugegangen, Brust an Brust, und haben denen gesagt: Ja, wen verteidigt ihr überhaupt? Wen schützt ihr hier? Wir sind doch ein Arbeiter und Bauernstaat. Das sind alles Arbeiter hier. Denen hat das Herz in den Kniekehlen gehangen.

    Harry Springstubbe, Maurerlehrling vom Block 40 der Stalinallee

    Harry Springstubbe:Dann gegen elf Uhr auf einmal großes Motorengeräusch: sowjetische Panzer

    Berthold Falkenthal:Sie fuhren langsam auf die Menschenmenge zu. Ein Offizier stand in der Luke vom Panzer und gab uns mit Handbewegung zu verstehen, daß wir beiseite gehen sollten.

    Der Maurer Berthold Falkenthal. Zu den Demonstranten gehört auch der Stahlarbeiter Karl-Heinz Benditz. Er ist mit mehreren Tausend Kollegen zu Fuß aus dem 30 Kilometer entfernten Hennigsdorf ins Berliner Stadtzentrum gekommen.

    Karl-Heinz Benditz: Um nicht überrollt zu werden, mußten wir in die umliegenden Ruinen flüchten. Wir gaben aber nicht gleich auf, sondern bewarfen die Panzer mit Steinen. Sie klapperten wie Sparbüchsen, wenn man das Kleingeld darin schüttelt.

    Hans-Peter Krüger: Die waren ja vorher schon da auf den Bürgersteigen von den Panzerketten aufgewühlt. Die haben uns ja quasi das Material geliefert, ohne daß wir die Steine rauspopeln mußten.

    Der West-Berliner Lehrling Hans-Peter Krüger. Und Manfred Carl Kehrhahn, ein Elektriker, ebenfalls aus dem West-Teil Berlins erinnert sich:

    Manfred Carl Kehrhahn:Dann gab es Leute, die sind auf die Panzer aufgesprungen... Der Panzer hat versucht, die runterzuwerfen, hin und hergefahren, dann den Geschützturm immer gedreht, damit er die abwirft.

    Peter Süptitz:Am Marx-Engels-Forum haben Demonstranten eine Panzersperre errichtet. Weiter in Richtung Unter den Linden. Wieder an einem umgestürzten und brennenden PKW vorbei. Es ist Krieg! Auf der Straße liegen zwei Tote, vermutlich von Panzern überfahren.

    Der Student Peter Süptitz. Bestürzung bei ihm, Erleichterung aber bei der SED-Aktivistin Käthe Miercke.

    Käthe Miercke:Als die Nachricht kam, daß vom Stadtrand her sowjetische Panzer anrückten, fielen wir uns in die Arme, weil nun der Spuk sicherlich bald zu Ende gehen würden.

    Martin Hartung, ein Regierungsangestellter, beobachtet gegen Mittag, wie junge Leute die Rote Fahne vom Brandenburger Tor holen. Kurz darauf gibt ein sowjetischer Offizier Befehle an drei vorgefahrene Panzer.

    Martin Hartung:Und in dem Moment warfen die ihre Motoren an, und fingen an zu fahren, nahmen die Verhüllung vom MG oben ab und fingen an, in die Luft zu schießen, regelrecht schießen. Und da war natürlich eine Riesenpanik.

    Dieter Theuer:So gegen 15 bis 16 Uhr zogen dann die Leipziger Straße kommend die Russen gegen den Potsdamer Platz und bildeten Schützenketten.

    Erinnert sich Dieter Theuer

    Dieter Theuer: Plötzlich gab es sehr scharfe, knallende Geräusche sehr weit vorn in den Menschengruppen oder davor. Wir Berliner Jungens der Kriegsgeneration wußten jedoch gleich, daß da geschossen wurde.

    O-Ton RIAS:Laßt das Schießen sein .... Wir wissen, daß Ihr Angst habt!

    Hans Peter Krüger:In dem Augenblick, als ich gesehen habe, daß sie auf mich anlegten und einer das Kommando zum Schießen gab, habe ich mich fallenlassen und in dem Moment habe ich schon die Einschüsse in der Fensterbank gehört.

    Hans Peter Krüger, ist am Potsdamer Platz zusammen mit anderen in das Haus Vaterland eingedrungen und hat dort eine Nachtbar für Funktionäre entdeckt.

    Hans Peter Krüger:Und dann habe ich plötzlich gebrüllt: Streichhölzer her, Feuer frei. Wenn die auf uns schießen, stecken wir denen die Bude in Brand. Und dann hat es auch ganz schnell gebrannt.

    Dieter Weiss:Als wir die U-Bahn-Treppe mit unseren Rädern hochkamen, schlug uns die Erregung der Menge entgegen. Dazwischen einzelne Schüsse, weiter weg das Dröhnen von Panzerketten. Dazwischen Krankenwagensirenen, auf Bahren hastend vorbeigetragene Verletzte Demonstranten, hin- und herflutende Menschenmassen.

    Dieter Weiss, ein Westberliner Schüler - Um 13 Uhr hat der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand verhängt. Gegen Abend haben seine Panzereinheiten und die Volkspolizei die Lage wieder unter Kontrolle.

    O-Ton RIAS:Potsdamer Platz, 22 Uhr, wir blicken hinüber in den Ostsektor und die Straßen, die Leipziger Straße und die umliegenden Straßen, liegen in Totenstille