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Aufstieg eines Chirurgen

Amir Hassan Cheheltans Iran-Roman enthält keine Zeile gegen den Islam, nicht einmal gegen die Regierung oder die Herrschaft der Mullahs. Aber es zeigt dennoch, wie sich ein System, das sich der öffentlichen, demokratischen Kontrolle entzieht, zwangsläufig aushöhlen muss.

Von Stefan Weidner | 22.10.2009
    Fattah ist Arzt im mittleren Alter, unverheiratet, und sein Spezialgebiet ist das, was in der wissenschaftlichen Literatur "hymen-repair" genannt wird - ein in Iran und anderswo in der islamischen Welt seit einigen Jahren blühender Zweig nicht der Schönheits-, sondern sozusagen der Moralchirurgie: das Zusammenflicken vorehelich deflorierter Jungfernhäutchen. Dennoch ist es nicht die Klinik, die seinen Reichtum begründet hat, sondern seine einstigen Aktivitäten als williger Helfer der iranischen Revolution. Im berüchtigten Evin-Gefängnis zählte er in der Zeit der politischen Säuberungen Anfang der 80er-Jahre zu jenen, die die finalen Fangschüsse setzten. Mit zwei anderen, teils noch im selben Geschäft tätigen Kumpanen jener Tage trifft er sich nun allwöchentlich im Badehaus, wo sie, nachdem sie sich den nötigen Pegel an Wodka angetrunken habe, ihrer rechten islamischen Gesinnung versichern.

    Die alten Kameraden gerieten manchmal ins Schwärmen und berieten sich darüber, wie die Zielpersonen zu sterben hätten. Sollte man sie auf einen Hügel bringen und dort erschießen, oder sie an der hohen Decke einer Lagerhalle aufknüpfen, sollte man sie entführen, in einer Geheimwohnung erdrosseln und ihre Leichen in der Wüste aussetzen oder sie in einer regnerischen Nacht unter den Rädern eines Lastwagens zerquetschen? (...) Fattah war findig, er hatte stets eine kreative Lösung im Ärmel.

    Alle Charaktere, denen Amir Hassan Cheheltans in die Seele schaut, zeichnen sich durch maximale Regimetreue aus; und die Katastrophe, in die das Geschehen mündet, entlarvt für jede der Figuren die Absurdität ihrer Haltung und weist ihnen die Mitschuld an. Unweigerlich versteht man: Diese Menschen sind nicht die Schergen des Regimes, sondern sie sind und verkörpern es. Es könnte fast das Deutschland der späten Naziherrschaft sein. Aber wir befinden uns - nirgendwo wird es genau gesagt - Anfang der 90er-Jahre in Teheran. Wer aus der Tiefe verstehen will, was gegenwärtig in Iran passiert, der wird um dieses Buch nicht herumkommen. Es ist deswegen um keinen Deut minder echte, große Literatur.

    Amir Hassan Cheheltan, 1956 geboren, ist er einer der herausragenden Schriftsteller der mittleren Generation in Iran. Die politischen Wirren seit dem Sturz des Schahs sind in seine Biografie eingeschrieben. Aber wie als Schriftsteller einen angemessenen Ausdruck für das Ungeheuerliche finden? Cheheltan ist Schüler von Huschang Golschiri (1937 - 2000), der mit seinem als innerem Monolog gestalteten Psychogramm des letzten iranischen Qajarenprinzen "Prinz Ehtedschab" 1969 Berühmtheit erlangte. Es ist eine Literatur jenseits ideologischer Festlegungen und programmatischer Absichten; sie versucht der Welt, die sie schildern will, aus ihrer eigenen Logik heraus gerecht zu werden, und rückt ihr dabei so nah, dass sie wie eine unsichtbare Folie kaum noch von ihr zu unterscheiden ist. Dem Leser aber erscheint sie als Brennglas, das Unverständlichste und Fernste wird klar. Mit keiner Figur aus Cheheltans Roman möchte man sich als Leser identifizieren; und tut es am Ende doch unweigerlich mit allen.

    Das Mädchen, dessen Ehre Doktor Fattah am Anfang des Buchs zusammenflickt, heißt Schahrsad, wie die Erzählerin von 1001 Nacht. Anders als ihre berühmte Namensschwester hat sie jedoch nicht die geringste Gelegenheit, selber Geschichten zu erzählen und so ihr Leben zu retten. Auf fatale Weise ähnelt sie nämlich der Popdiva Googoosh, die Fattah in seiner Jugend begehrte und die ihm unerreichbar blieb, obwohl er beim Ausliefern von Spirituosen in einem Teheraner Reichenviertel gegen Ende der Schahzeit einen Blick auf sie im Pool erhaschen konnte. In seiner Obsession stellt er Schahrsad nach, vergewaltigt sie.

    Er öffnete seine Gürtelschnalle, seine Hände zitterten, und er zog sich sein T-Shirt mit dem runden Ausschnitt über den Kopf. Schahrsad sagte trocken und auf der Suche nach einem Wort, das sie schließlich doch nicht fand, "nein!". Und sie stemmte ihren Ellenbogen gegen Fattahs glitschige Brust. Fattah knurrte und sagte: "Wenn du magst, vernäh ich es dir wieder!"

    Da er sich verliebt, hält Fattah um ihre Hand an. Aber er ist nicht der einzige Bewerber. Der andere, Mustafa, ist fast eine Generation jünger, ein Kind der Revolution, und arbeitet in der Frauenabteilung des berüchtigten Evin-Gefängnisses. Recht überzeugt von diesem Bewerber ist Schahrsads Familie nicht. Um Status und Seriosität von Mustafa zu überprüfen, soll ein Onkel aus der Provinz - einen Vater gibt es nicht - an Mustafas Arbeitsplatz Erkundigungen einziehen. Der Ahnungslose weiß nicht, wo er landet, ist zugleich beeindruckt und tief erschrocken von dem, was er hier sieht. Es ist eine groteske und zugleich tief anrührende Szene, welche die Unmenschlichkeit des Systems noch einleuchtender macht.

    Tatsächlich fürchtete er sich ein wenig. Er wandte den Kopf um, abermals zog im Hof eine lange Schlange vorbei, diesmal lauter junge Männer, deren Augen man verbunden hatte. (...) Eliminiert man die Augen aus dem Gesicht eines Menschen, so verliert es seinen Ausdruck, das wusste der Onkel instinktiv. (...) Plötzlich öffnete sich die Tür, der Onkel wandte sich zu ihr um. Er wusste nicht, weshalb er glaubte, vor ihm stünde einer dieser jungen Leute mit verbundenen Augen, der sich aus der langen Schlange befreit hatte und gekommen war, um ihm zu sagen, weshalb man ihnen die Augen verbunden hatte und wohin man sie bringen würde. Der Jüngling sagte: "Ich bin Mustafa."

    Gegen die Zudringlichkeiten Fattahs und den materiellen Wohlstand, den er verspricht, scheint Mustafa machtlos, aber Schahrsad will ihn. Er zeigt sie als Regimegegnerin an, und lässt sie von einem Sonderkommando ins Gefängnis entführen, um von dort mit ihr zu fliehen. Doch der einmal entfesselten Kräfte wird dieser iranische Zauberlehrling nicht mehr Herr.

    Das Buch enthält keine Zeile gegen den Islam, nicht einmal gegen die Regierung oder die Herrschaft der Mullahs. Aber es zeigt, wie ein System, das sich jeglicher öffentlicher und demokratischer Kontrollmechanismen entzieht, sich aufgrund des Egoismus seiner Vollstrecker zwangsläufig aushöhlen muss. Die große Metapher dieses Zustands ist die Vaterlosigkeit. Fattah, Mustafa und Schahrsad haben alle ihren Vater verloren. Die psychologische Konsequenz ist der Verlust des Bewusstseins für Recht und Gesetz. Würde es der wiedervereidigte Präsident Ahmadinedschad mit seiner Ankündigung ernst meinen, Willkür und Korruption Einhalt zu gebieten und die echte islamische Moral wiederherzustellen, er müsste die Publikation eines solchen Buchs sofort erlauben. Stattdessen erscheint es nun erstmals überhaupt auf deutsch, in der meisterhaften Übersetzung von Susanne Baghestani, und ist Weltliteratur, bevor es überhaupt etwas anderes war.

    Amir Hassan Cheheltan. Teheran Revolutionsstraße. Roman. Aus dem Persischen von Susanne Baghestani. P. Kirchheim Verlag, München 2009. 208 S., geb. 22,00 Euro.