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Aufstieg im Land der Gegensätze

"Ernste Männer" heißt der erste Roman des jungen indischen Autors Manu Joseph. Er führt uns in das moderne Indien zwischen Hightech, Aberglauben und jahrhundertealten gesellschaftlichen Hierarchien, denen die Hauptfigur ein Schnippchen zu schlagen versucht.

Von Simone Hamm | 17.01.2011
    Ayyan Mani, der Sekretär des Leiters des Instituts für Theorie und Forschung in Mumbai, achtet peinlich genau darauf, dass der Telefonhörer seines Chefs niemals auf der Gabel liegt. So kann er jedes Gespräch, das er an ihn weiterleitet, mithören. Er weiß, wie man Briefe unauffällig öffnen und wieder zukleben kann. Er bestimmt, wer ins Allerheiligste des Chefs vorgelassen wird und wer warten muss. Im ganzen Institut gibt es keinen besser informierten Mann als Ayyan Mani, den Dunkelhäutigen, den Dalit, den Kastenlosen.

    "Ernste Männer" heißt der erste Roman des jungen indischen Autors Manu Joseph. Er führt uns ein in eine Welt aus Lügen und Intrigen. Er ist ein süffisanter Beobachter des modernen Indiens. Er schreibt lakonisch, bisweilen bissig, dann wieder rasend komisch. Er hat den genauen unerbittlichen Blick und schont niemanden, nicht die weltfremden Brahmanen, nicht die schönen Frauen, nicht die, die sich geschickt hocharbeiten, nicht die einfachen Menschen, denen das Leben nie auch nur die kleinste Chance gibt und auch nicht die Unberührbaren. Nicht die alten Herren, die glauben, so weise zu sein und doch nur arrogant sind und nicht die jungen Mädchen auf der Uferpromenade aus Beton, die Ayyam Mani beobachtet, wenn er mit seinem Sohn spazieren geht:
    Junge Frauen in bequemen Schuhen liefen so schnell, als versuchten sie, dem Schicksal zu entfliehen, bald wie ihre Mütter auszusehen, stolze Brüste hüpften, untrainierte Schenkel wabbelten bei jedem Schritt. Frisch verlobte Mädchen liefen mit überlangen Schritten, um noch schnell vor der Hochzeitsnacht den Bauchspeck loszuwerden. Bevor sie sich auf dem blütenstaubbedeckten Brautbett einem Fremden mit einer Tube Gleitgel in der Hand hingeben würden. Alte Männer spazierten mit anderen alten Männern und besprachen die Lage der Nation, die sie in ihrer Jugend ruiniert hatten.

    Ayyam Mani lebt in einem heruntergekommenen Wohnblock mit Gemeinschaftstoilette mit seiner Frau und seinem Sohn in einem kleinen Zimmer, das Küche und Fernsehraum, Schlaf-,und Wohn-, und Kinderzimmer zugleich ist. Sein Sohn ist elf und schwerhörig und es scheint, als sei er ein mathematisches Genie.

    Davon muss der Sekretär Ayyam Mani nur noch die ernsten Männer überzeugen. Die ernsten Männer, das sind die Physiker, die über die langen Gänge des Instituts wandeln, die Selbstgespräche führen, wenn sie guter Gesellschaft bedürfen. Ernste Männer, die nach Spuren von Außerirdischen suchen. In diesem Institut gilt gesunder Menschenverstand nur wenig und auch die abwegigsten Ideen werden ernsthaft diskutiert. Ernste alte Männer, die sich spreizen wie Pfauen, als zum ersten Mal eine Physikerin ihr Institut betritt, eine Frau, die nicht nur klug, sondern auch wunderschön ist. Sie verführt den Institutsleiter. Während eines ihrer heimlichen Schäferstündchen im Keller ruft dessen Frau an und will ihm mitteilen, dass sie vorzeitig von einem Familienbesuch zurückkomme. Der Sekretär nimmt das Telefonat entgegen. Und sagt seinem Chef nichts davon.

    Ayyan Mani legte mit einem diabolischen Lächeln auf. Wie er sehr gut wusste, war jede Liebesaffäre dazu verdammt, im Trott des Zusammenbleibens oder im Elend der Trennung zu enden. Verliebte wählen oft aus derselben Illusion heraus, aus der Menschen lieber sofort als später sterben wollen, die erste Variante. Und im Taumel der jungen Liebe vergessen sie nicht nur, dass diese Geistestrübung nur vorübergehend ist, sondern sie glauben lustigerweise auch, dass sie geheim sei. Sie sind überzeugt, dass sie ihre nächtliche Nacktheit unter der Bürokleidung unsichtbar gemacht haben. Sie infizieren einander mit dem Fieber in ihren Augen, und glauben, nur sie selbst könnten die Krankheit erkennen.

    Die Menschen aus Manus Josephs Roman sind ehrgeizig und wollen ganz nach oben. Sie sind bereit, bis an Grenzen zu gehen und darüber hinaus. Koste es, was es wolle. Sie sind skrupellos.

    Zerstörerisch und selbstzerstörerisch ist die Rache einer verlassenen Frau, grausam die wehklagenden Unberührbaren in den Straßen, wahnwitzig der Ehrgeiz der konkurrierenden Physiker, und noch wahnwitziger der unbedingte Wille eines Mannes aus einfachen Verhältnissen, seinem Sohn eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

    Ayyan Mani weiß, dass es in Indien ein Fluch ist, wenn man der halbwüchsige Sohn eines einfachen Büroangestellten ist, weiß, dass sein Sohn nur eine einzige Option hat, um herauszukommen aus dem elenden Wohnblock: Er muss Ingenieur zu werden.

    Früher oder später würde er selbst sagen, das Ingenieurstudium sei sein Traum. Und um den zu erreichen, würde er gegen Tausende und Abertausende ähnlicher Jungen in der einzigen Disziplin antreten, für die Inder ein besonderes Talent aufwiesen: standardisierte Aufnahmeprüfungen.

    Und darin wird er sich messen müssen mit Jungen, die mit Nachhilfestunden gedrillt worden sind, seit sie sieben sind, die sämtliche Formeln der Welt auswendig gelernt haben, bevor sie zur Oberschule gehen. Der Vater hat genug gehört und abgehört im Institut, um seinem Sohn eine große Zukunft zu schaffen. Selbst das Ingenieurstudium scheint ihm nicht mehr gut genug. Sein Sohn soll Zutritt erhalten zum Allerheiligsten. Zum Institut.

    Manu Joseph zeigt die Gegensätze des modernen Indien: High Tech. Aberglauben. Nobelpreisverdächtige Wissenschaftler. Illiterate. Philosophen. Analphabeten. Bittere Armut. Protziger Reichtum. Hitze. Schattige Gärten. Enge Räume. Weite Parklandschaften. Erdrückende Menschenmassen. Entrückte Einsamkeit. Annehmen des Schicksals. Mutiges Aufbegehren dagegen. Demut. Größenwahn.

    Manu Joseph hat diese Gegensätze zusammen gemixt zu einem sehr unterhaltsamen Roman.

    Manu Joseph: "Ernste Männer". Aus dem Englischen von Anne Caroline Burger. Klett Cotta. 357 Seiten. 21.95 Euro